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Und siehe da: plötzlich war es, als wenn die Finsternis vor seinen Augen
zerrisse, wie wenn die samtne Wand der Nacht sich klaffend teilte und eine
unermesslich tiefe, eine ewige Fernsicht von Licht enthüllte… Ich werde
leben! sagte Thomas Buddenbrook beinahe laut und fühlte, wie seine Brust
dabei vor innerlichem Schluchzen erzitterte. Dies ist es, dass ich leben
werde! Es wird leben… und dass dieses Es nicht ich bin, das ist nur eine
Täuschung,
das war nur ein Irrtum, den der Tod berichtigen wird. So ist
es! So ist es!… Warum? - und bei dieser Frage schlug die Nacht wieder
vor seinen Augen zusammen. Er sah, er wusste und verstand wieder nicht das
geringste mehr und ließ sich tiefer in die Kissen zurücksinken,
gänzlich geblendet und ermattet von dem bisschen Wahrheit, das er soeben
hatte erschauen dürfen.
Und er lag stille und wartete inbrünstig, fühlte sich versucht, zu
beten, dass es noch einmal kommen und ihn erhellen möge. Und es kam. Mit
gefalteten Händen, ohne eine Regung zu wagen, lag er und durfte schauen…
Was war der Tod? Die Antwort darauf erschien ihm nicht in armen und
wichtigtuerischen Worten: er fühlte sie, er besaß sie zuinnerst. Der Tod
war ein Glück, so tief, dass es nur in begnadeten Augenblicken, wie
dieser, ganz zu ermessen war. Er war die Rückkunft von einem unsäglich
peinlichen Irrgang, die Korrektur eines schweren Fehlers, die Befreiung
von den widrigsten Banden und Schranken - einen beklagenswerten
Unglücksfall machte er wieder gut.
Ende und Auflösung? Dreimal erbarmungswürdig jeder, der diese nichtigen
Begriffe als Schrecknisse empfand! Was würde enden und was sich
auflösen? Dieser sein Leib… Diese seine Persönlichkeit und
Individualität, dieses schwerfällige, störrische, fehlerhafte und
hassenswerte Hindernis, etwas Anderes und Besseres zu sein!
War nicht jeder Mensch ein Missgriff und Fehltritt? Geriet er nicht in
eine peinvolle Haft, sowie er geboren ward? Gefängnis! Gefängnis!
Schranken und Bande überall! Durch die Gitterfenster seiner
Individualität starrt der Mensch hoffnungslos auf die Ringmauern der
äußeren Umstände, bis der Tod kommt und ihn zur Heimkehr und Freiheit
ruft…
Individualität!… Ach, was man ist, kann und hat, scheint arm, grau,
unzulänglich und langweilig; was man aber nicht ist, nicht kann und nicht
hat, das eben ist es, worauf man mit jenem sehnsüchtigen Neide blickt,
der zur Liebe wird, weil er sich fürchtet, zum Hass zu werden. Ich trage
den Keim, den Ansatz, die Möglichkeit zu allen Befähigungen und
Betätigungen der Welt in mir … Wo könnte ich sein, wenn ich nicht hier
wäre?…
(aus:
Thomas
Mann, Buddenbrooks X,5)
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