Totgesagte leben länger, heißt es
redensartlich, wenn wider Erwarten ein Mensch oder eine Sache, die
eigentlich längst abgehakt scheint, für gescheitert erklärt wird und
totgesagt ist, dennoch oder plötzlich wieder aktuell
und interessant wird und seine eigene Erfolgsgeschichte schreibt.
Nicht anders, so scheint es, verhält es sich
mit Schillers Lied von der Glocke, das schon zur Zeit seines
Erscheinens von vielen für sein Pathos, sein Moralisieren und den darin
ausgedrückten Biedersinn über das Verhältnis von Männern und Frauen und
das Leben in einer bürgerlichen Gesellschaft so gelobt wurde, dass es
über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg zu unterschiedlichen politischen
Zwecken instrumentalisiert werden konnte.
Was die einen aber lobten, war
anderen von Anfang an ein Dorn im Auge. Schillers "geradezu primitive
Geschlechterphilosophie" (Hofmann
2005a, S.289) im Lied von der Glocke wie auch in "Würde der Frauen
(1795)", die ein Idealbild "bornierten Biedersinnes" (ebd.)
entwerfen, sollte so eigentlich nur noch als Negativfolie oder als
Beispiel für ein heute gänzlich überkommenes, geschichtlich klar
verortbares Männer- und Frauenbild herhalten.
Weil es dazu noch
namhaften Literaturkritikern wegen verschiedener Gründe als schlecht
gemacht und "literarisch verunglückt" (Berghahn
1996, S.281) vorkam, hätten sie es gerne auf die Schutthalde
gekippt, um das Gedicht, das der Aufrechterhaltung patriarchalischer
Strukturen ebenso dienen musste, wie nationalistischen Interessen im 19.
Jahrhundert und der völkischen Ideologie des Nationalsozialismus,
endgültig aus dem »kulturellen
Gedächtnis (Aleida
Assmann und
Jan Assmann) der Deutschen zu tilgen.
Man hat versucht, es quasi
totzuschweigen, indem man es, wie in der 1966 von »Hans
Magnus Enzensberger (geb. 1929) verantworteten Zusammenstellung
lyrischer Werke des Dichters einfach aussortierte, und in der
Literaturwissenschaft fand es über lange Zeit keinen namhaften
Vertreter, der sich mit dem Lied ernsthaft auseinandersetzte. Aber wie
gesagt: Totgesagte leben länger.
Im Internet suchen seine Nutzerinnen und
Nutzer in Deutschland, aber auch weltweit, nach dem Lied von der
Glocke und finden bis heute wäre also der Frage nachzugehen, wie heutige Rezipientinnen und
Rezipienten in den unterschiedlichen Kulturen in der Welt Gebrauch von
dem "berühmt-berüchtigten" Lied machen und welchen Nutzen ziehen sie
daraus ziehen.
Sie tun es jedenfalls, so lässt sich
vermuten, ohne die von ihnen, von wem auch immer, verordnete Einstellung "eine rein ästhetische Betrachtungsweise
einzunehmen" (Bourdieu
1987/2014, S.80). Stattdessen machen sie auch in Form ▪
pragmatischer Applikation davon Gebrauch und demonstrieren damit
unmissverständlich, dass sie sich der "Zuschreibung einer
Gebrauchsweise" (ebd.,
S.83) durch Vormünder jedweder Provenienz entziehen, die sie mit ihrem
distinktiven "Ästhetizismus" ohnehin nur als eine "Art Konstrastfolie,
eine(n) negativen Bezugpunkt" (ebd.,
S.107) sehen möchten und ihre populäre oder "volkstümliche" Rezeption
als trivial und im Grund inkompetent abwerten.
"Vieles im Schillerschen Werk (ist) für uns
lächerlich und unerträglich", schrieb der Literaturkritiker »Marcel
Reich-Ranicki (1920-2013) im Jahr 1966, als er sich mit der von »Hans
Magnus Enzensberger (geb. 1929) im Insel-Verlag zusammengestellten
Auswahl lyrischer Werke Friedrich Schillers auseinandersetzte, und fügte
hinzu, "dass es sich leicht verspotten und schwer ersetzen lässt." (Reich-Ranicki,
Kein Lied mehr von der Glocke, 1966)
Ihm blieb unverständlich, dass mit dem "Lied
von der Glocke" und der Ballade "Die
Bürgschaft" z. B. zwei lyrische Werke Schillers, "aus denen das
deutsche Bürgertum seine Lebensmaximen anderthalb Jahrhunderte zu
beziehen gewohnt war", in der von Enzensberger verantworteten Auswahl
keinen Platz gefunden hatten.
Schillers Lied von der Glocke, das bis heute zu den bekanntesten
Gedichten der deutschen Lyrik gehört, hat von Anfang an polarisiert, was
ein kurzer Blick in die wechselvolle Rezeptionsgeschichte "dieses
berühmt-berüchtigten Gedichts" (Hofmann
2005a, S.287) belegt.
Das
Lied von der Glocke war ein zuallererst ein Publikumserfolg und ist
bis heute auf seine Art und Weise ein Longseller, der seinesgleichen
sucht. Wie »Caroline
von Wolzogen, geb. Lengefeld, (1763-1847), der zeitlebens mit
Schiller freundlich verbundenen Schwägerin, formulierte, wurde das Lied schon sehr
schnell "ein Lieblingsgedicht der Deutschen". "Jeder findet rührende Lebenstöne darin",
so fährt sie fort, "und das allgemeine Schicksal der Menschen geht innig
ans Herz." (Caroline
von Wolzogen, Schillers Leben, S.275) Dieses "Erfolgsrezept des
Gedichts [...], die jedem im Gedicht das Seine finden lässt" (Berghahn
1996, S.278) bestimmt von Anfang an die Rezeptions- und
Wirkungsgeschichte des Gedichtes.
Und sein Erfolg, so scheint es, machte das Ganze erst recht
verdächtig und wenn nicht ihren Autor, dann doch das zeitgenössische wie
auch spätere Publikum, das seine Balladen alle miteinander ständig
so nutze, wie es gerade opportun war, und schon in der Schule herauf- und herunternudelte, bis
nichts, aber auch gar nichts mehr an die idealistischen Grundlagen von
Schillers "Ideenballaden" (Hofmann
2003, S.144) erinnerte, mit der er seine abstrakten Konzepte
illustrieren wollte.
"Schiller als Projektionsfläche für zeitgenössische
Bestrebungen" (Hofmann
2005b, S.561) zieht sich durch seine ganze Wirkungsgeschichte und
die daraus resultierende dekontextualisierte Vereinnahmung für
unterschiedliche Interessen ist schon bald seinen Kritikern aufgestoßen.
Was sie monierten war, dass aus Schillers Balladen "die Illusion einer
Versöhnung von Idee und Wirklichkeit herausgelesen werden konnte" (Hofman
2003, S.145). Lässt man dies indessen hinter sich und bezieht
Schillers Theorie Ueber naive und sentimentalische Dichtung mit
ein, trete die Diskrepanz zwischen diesen Sphären deutlich hervor.
Daraus folgt nach Ansicht Hofmanns, dass Schillers "Balladen (...) heute
nicht mehr als Veranschaulichungen eines sich verwirklichenden Ideals
gelesen, (werden können), sondern (...) als möglicherweise unfreiwillige
Darstellung einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit
verstanden werden (müssen)." (ebd.)
Das diese moderne Sicht nicht der zeitgenössischen und der über
Jahrhunderte hinweg üblichen Sicht entspricht, ändert nichts daran, dass
sich, insbesondere unter literaturdidaktischem Aspekt, daraus ganz neue
Perspektiven auf das Lied von der Glocke ergeben können.
Mag sein, dass die volkstümliche Rezeption des Lieds von der Glocke,
das es mit vierzig Einträgen in die Zitatensammlung ▪ Geflügelte Worte
(online verfügbar bei
archive.org) von »Georg
Büchmann (1822-1884) dem "Stammbuch deutscher Bildungsphilister" (Berghahn
1996, S.275) brachte, durch die vielen Sentenzen und das Pathos,
welche das Gedicht durchziehen, nicht wirklich so intendiert war, der
"Volkserzieher Schiller" (ebd.,
S.273) hat sie von dieser volkstümlich-populären Gebrauchsweise seines
Gedichts distanziert. Wieso auch, wenn diese wie auch seine anderen ▪
Balladen ihm "mehr Ruhm eingebracht haben als seine bedeutenden
Schöpfungen" (Reich-Ranicki,
Kein Lied mehr von der Glocke, 1966). Und nicht zu vergessen:
Schiller musste von seiner literarischen Arbeit leben.
Der literarische Markt, der ohnehin noch klein war, und die
Leseinteressen einfacher Leserinnen und Leser verlangten nach billigen
Lesestoffen, forderten vor allem Bekanntes, das sie in ihren
Auffassungen über Gott und die Welt bestätigten und bevorzugten, wenn
ihnen das möglichst knapp und prägnant, ohne Scheu vor irgendwelchen
Klischees im Medium der Literatur anschaulich vor Augen geführt wurde.
(vgl.
Schenda 1970/77, S.471)