Berühmt-berüchtigt, aber nicht ahistorisch
Friedrich Schillers
Lied von der
Glocke gehört, obwohl oder vielleicht gerade weil es
"berühmt-berüchtigt" (Hofmann
2005a, S.287) bis heute zu den bekanntesten
Gedichte der deutschen Lyrik. Und wie eh und je wird es zu allerlei
Anlässen rezitiert. Unzählige Interpreten versuchen sich auf YouTube an
einer sprechgestaltenden Interpretation und erzielen damit über die
Jahre viele Hunderttausend Aufrufe. Und genauso verhält es sich mit
Schillers ▪ "Würde der Frauen
(1795)".
Das, was das Lied von der Glocke bis heute
berühmt-berüchtigt macht und jedem die Gelegenheit gibt, sich im Duktus
eines Schiller-Bashings von dessen kaum zu überbietenden
spießig-moralisierenden Ansichten über das Geschlechterverhältnis und
andere Normen der bürgerlichen Gesellschaft dieser Zeit zu distanzieren,
hat schon die Zeitgenossen Schillers beschäftigt.
Was hierzulande und heute an Schillers
Werken "lächerlich und unerträglich" erscheint (Reich-Ranicki,
Kein Lied mehr von der Glocke, 1966), haben schon zu Schillers
Lebzeiten die "jungen Wilden" der Jenaer Frühromantik so gesehen. Und
doch: Auch wenn sich Schillers sentenzhaften Ausführungen im Lied von
der Glocke, vor allem vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, wirklich
"leicht verspotten" (ebd.)
lassen, "gibt uns (das) noch nicht das Recht, es auf den Schutthaufen
der Geschichte zu werfen." (Berghahn
1996, S.281)
Unabhängig davon, wie man die literarische
Qualität dieses Werkes beurteilt, ist es eben auch "ein Kulturzeugnis
der Vergangenheit, das erklärt, warum wir so geworden sind, wie wir
sind." (ebd.)
Ob wir dagegen für alle Zukunft gefeit sind? Da bleiben Zweifel,
wenn man sieht, wie rückwärtsgerichtetes, antiemanzipatorisches
Gedankengut im Umfeld des politischen Populismus unserer Tage wieder an
Boden gewinnt.
All dies zu betonen, bevor dargestellt wird,
wie die Romantiker, für die Rezeption des Gedichts aber weitgehend
folgenlos, über das Gedicht Schillers urteilten, erscheint wichtig, weil
die aus vielerlei Gründen im Gegensatz zu Schiller stehenden Romantiker
sonst zum Sprachrohr einer dekontextualisierten, ahistorischen Sicht auf
den Autor würden und quasi als Autoritätsbeweis für die moderne
Perspektive auf Schillers Lied von der Glocke herhalten müssten.
Im Übrigen darf bei aller
Kritik am
Spießertum Schillers und seiner "geradezu primitive(n)
Geschlechterphilosophie" (Hofmann
2005a, S.289) eben nicht übersehen werden, dass die Tatsache, dass
er dem konventionellen ▪
Leitbild der bürgerlichen Ehe
mit ihrem ▪
paternalistischen Patriarchismus das Wort redete und damit die
metaphysisch begründeten Theorien über die biologischen Unterschiede der
Geschlechter und die sich daraus ergebende "Polarisierung der
Geschlechtscharaktere" (Gestrich
2013, S.6) stützte, dem Mainstream entsprach, der, so zeigt sich in der
Wirkungsgeschichte des Gedichts, davon in seinem geschlechtsspezifischen
Erziehungskatechismus bis weit in das 20. Jahrhundert Gebrauch gemacht
hat. Thomas
Nipperdey
(1990, S. 48f.) hat den ▪
Zustand der dieser Geschlechterbeziehungen für das frühe 19. Jahrhundert
sehr anschaulich zusammenfasst. Dass Schiller ein Idealbild vor Augen
hatte und sehr holzschnittartig typisierte (die Adjektive für ihre
Agenten sprechen dafür eine deutliche Sprache), das weder den
tatsächlichen "Autoritätsbeziehungen zwischen Männern und Frauen
oder Eltern und Kindern" entsprach, noch abbildete, wie die längst nicht
so rigide "geschlechts- und generationsspezifische Trennung der Arbeits-
und Kommunikationssphäre" (Gestrich
2013, S.121) in Wirklichkeit aussah, dürfte auch ihm nicht entgangen
sein.
Der Spott der Romantiker
Von den (Spieß-)Bürgern der Zeit hochgelobt für "Pathos, Biedersinn,
Moralisieren, Affirmation bestehender Verhältnisse, gepaart mit
versteckter Angst vor selbstbewussten und selbstständigen Frauen" (Hofmann
2005a, S.287)
eckte das Lied, das im Übrigen auch von Johann Wolfgang von Goethe kurz
nach Schillers Tod für eine Gedächtnisfeier im »Lauchstädter
Theater mit einem ▪
Epilog versehen wurde, der am Ende einer der verbreiteten »Inszenierungen
des Gedichts deklamiert wurde, aber auch immer wieder an.
Vor allem den »Romantikern,
allen voran »Friedrich
Schlegel (1772-1829) und dessen Lebensgefährtin »Dorothea
Veit (1764-1869), ab 1804 seine Ehefrau, seinem Bruder »August
Wilhelm Schlegel (1767-1845) und dessen Ehefrau »Caroline
Schlegel (1763-1809) sowie »Ludwig
Tieck (1773-1835), stießen die von Schiller in seinem Lied
sentenzhaft
verbreiteten Ansichten über politische und gesellschaftliche Zustände
und über Männer und Frauen auf.
So spottete Caroline Schlegel in einem
Brief vom 21. Oktober an ihre Tochter aus erster Ehe, Auguste Böhmer
(1787-1800): "Schillers Musenkalender ist auch da,[...] über ein Gedicht
von Schiller, sind wir gestern Mittag fast von den Stühlen gefallen vor
Lachen,"
(archive.org) Und am 27. Dezember 1799 wiederholt sie das fast
wörtlich und ergänzt über zum Lied von der Glocke: "Die ließe sich
herrlich parodieren." (zit. n.
Luserke-Jaqui 2005, S.195)
August Wilhelm Schlegel kleidete seinen Kritik an dem Gedicht in die
Parodie "A
propos des cloches, in der es heißt:
Wenn jemand schwatzt
die Kreuz und Quer
Was ihm in Sinn kommt
ungefähr,
Sagt man in
Frankreich wohl zum Spotte:
»Il bavarde à
propos de bottes.«
Bei uns wird wohl das
Sprichwort sein:
»Dem fällt bei
Glocken Vieles ein«.
Der Dichter weiß in's
Glockengießen
Das Looß der
Menschheit einzuschließen:
Er bricht die schönen
Reden, traun!
Vom Glockenturm, und
nicht vom Zaun.
(August Wilhelm von
Schlegel: Sämtliche Werke, Band 2, Leipzig 1846, S. 211,
zeno.org)
Ebenso weist er mit seiner Parodie "Kritik
eines Küsters" daraufhin, dass Schiller allen Meistergesängen zum
Trotz von einer Glocke schreibe, die ohne Klöppel in den Turm
hochgezogen werde, niemals "Bimmeln oder Brummen" werde, "wie sehr man
auch am Seile zerrt und reckt." (August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche
Werke, Band 2, Leipzig 1846, S. 211-212.,
zeno.org)
Und auch "Der
idealische Glockengießer", der Dichter selbst, kommt nicht gut weg:
Nicht Zinn und
Kupfer, nach gemeiner Weise,
Nein, Wortgepräng'
und Reim, mühsam in eins verschmelzt,
Bis sich die zähe
Mass' in Strophen weiter wälzt:
Das ist im
Glockenlied die edle Glockenspeise.
(aus: August Wilhelm
von Schlegel: Sämtliche Werke, Band 2, Leipzig 1846, S. 212,
zeno.org)
Das Frauenbild Schillers und dessen Pathos, von dem Peter-André
Alt
(2009) behauptet, es sei "Ausdruck einer in sich gespannten
Reflexionskultur" und zeige "den Versuch, die Gegensätze von Natur und
Idee, Ohnmacht und Freiheit, Zwang und Autonomie in einer höheren
Ordnung der poetischen Form aufzuheben", hat August Wilhelm Schlegel in
seiner Parodie "Schillers
Lob der Frauen" jedenfalls ganz anders beurteilt und mit seiner
Parodie zu Schillers "Würde der Frauen" folgendermaßen,
allerdings erst im Nachlass entdeckt, auf den Punkt
gebracht:
Ehret
die Frauen! Sie stricken die Strümpfe
Wollig
und warm, zu durchwaten die Sümpfe,
Flicken
zerissene Pantalons aus;
Kochen
dem Manne die kräftigen Suppen,
Putzen
den Kindern die niedlichen Puppen,
Halten
mit mäßigem Wochengeld Haus.
Doch
der Mann, der tölpelhafte
Find't
am Zarten nicht Geschmack.
Zum
gegornen Gerstensafte
Raucht
er immerfort Tabak;
Brummt,
wie Bären an der Kette,
Knufft
die Kinder spat und fruh;
Und dem
Weibchen nachts im Bette,
Kehrt er gleich den
Rücken zu.
(August Wilhelm von
Schlegel: Sämtliche Werke, Band 2, Leipzig 1846, S. 171-173,
zeno.org)
Dass
neben inhaltlichen Gegensätzen für diese und ähnliche, abfällige
Äußerungen über Schiller natürlich auch die nach und nach entstandenen
persönliche Animositäten zwischen Schiller auf der einen und den
Schlegels auf der anderen Seite eine wichtige Rolle gespielt haben, ist
die andere Seite der Medaille.
Zwischen Bewunderung und persönlicher
Abneigung: Friedrich Schlegel und Schiller
Vor allem gegenüber dem seit 1796 ebenfalls in Jena und dort zeitweise
in der sogenannten »Jenaer
Romantiker-Wohngemeinschaft mit seinem Bruder August Wilhelm und
seiner Ehefrau Caroline und in "wilder Ehe" mit »Dorothea
Veit (1764-1869), ab 1804 seine Ehefrau, lebenden »Friedrich
Schlegel (1772-1829) kam es zu Querelen, die Schillers ablehnende
Einstellung gegenüber der ersten Generation der Romantiker, die
sich um die Schlegels herum sammelten, maßgeblich beeinflusst haben.
(vgl.
Safranski 2004, S.426)
Dabei hatte Schiller dem "unbescheidenen kalten Witzling"
gegenüber, wie
er ihn einmal bezeichnet hat (vgl.
Safranski 2004, S.423), eigentlich schon seit ihrer ersten Begegnung
unüberwindliche Antipathien, weil ihm vor allem dessen
"spöttische, ironische, arrogante Art" (ebd.)
auf die Nerven ging. Schlegel, der "genialische junge Mann, der schon
alles gelesen zu haben schien" (ebd.)
und schnell über alles urteilte, war ihm mehr als mehr als
unsympathisch.
Diesem wiederum machte der Erfolg, den Schiller hatte, den er zwar
persönlich bewunderte, dessen Werk er aber geringschätzte, verdächtig.
(vgl.
ebd.) Die romantische Ästhetik jedenfalls, für die Friedrich
Schlegel stand, der Schiller vorhielt, sie töte alle Poesie durch
Reflexion, war gerade mit dieser Tendenz Schiller gar nicht so fremd.
Das lässt
Safranski (2004, S.424) zur Erklärung für "Schillers Gereiztheit"
ihm gegenüber zu dem Schluss kommen, dass Friedrich Schlegel für in so
etwas gewesen sein musste wie "ein missratener Bruder, an dem die
eigenen Gefährdungen zur Kenntlichkeit verzerrt hervortraten."
Friedrich Schlegel hat Schiller jedenfalls mit der Rezension seiner Gedichte
im Musen-Almanach von 1796, bei der u. a. ihr Frauenbild und
das bürgerliche Pathos kritisiert hatte, offenbar auch in
seiner
Eitelkeit tief verletzt. Und dessen provokanten und mit spitzer Feder
geführten Aussagen über Schillers Gedicht ▪ "Würde
der Frauen", dem er jede ästhetische Qualität absprach, hatten auch
alles Zeug dazu, Schiller öffentlich der Lächerlichkeit preiszugeben:
Erst wenn man das Gedicht nämlich strophenweise rückwärts lese, mache
das Ganze überhaupt so etwas wie Sinn.
In Sippenhaft genommen: August Wilhelm Schlegel
und Schiller
Das Zerwürfnis Schillers mit »August
Wilhelm Schlegel (1767-1845) hatte indessen eigentlich keine
persönlichen Gründe, sondern war Folge der Haltung Schillers, sich damit
eindeutig gegen den Schlegelkreis zu positionieren, deren literarisches
Schaffen, ästhetische Theorie und Lebensform ihm ohnehin ein Dorn im
Auge war.
Schiller selbst war es gewesen, der den zu diesem Zeitpunkt schon
angesehenen Literaturkritiker mit dem mehr oder weniger lukrativen
Angebot, für seine Zeitschrift "Horen" zu schreiben und bei dem neuen
"Musenalmanach" mitzumachen, bewegte, von Berlin in das im »Herzogtum
Sachsen-Weimar-Eisenach gelegene, kleinstädtische, kaum mehr als
5000 Einwohner zählende »Jena
zu ziehen, an deren herausragender Universität Schiller schon seit 1789
als Professor für Philosophie vor allem Geschichte lehrte und wo dieser
bis 1799 wohnte. Die Zusammenarbeit zwischen beiden verläuft zunächst
sehr gut und beide stehen offenbar in einem Verhältnis "der
Gleichberechtigung und gegenseitigen Anerkennung" (Alt,
Bd. II, 2004, S.313). Doch schon ein Jahr später sieht es ganz
anders aus. Tief verletzt von der Kritik erneuten seines Bruders, der
den Horen durch die zahlreich darin erschienenen Übersetzungen, die auch
August Wilhelm, oft gemeinsam mit seiner Frau Caroline angefertigt
hatte, einen Niveauverlust bescheinigte, kündigt Schiller im im Mai 1797
"nach den Gesetzen der Sippenhaft" (Roßbeck
2009, S. 151) kurzerhand die Freundschaft, bricht die
Geschäftsbeziehungen mit ihm ab und dreht ihm damit den Geldhahn zu.
(vgl.
ebd.)
Da nützte es August Wilhelm Schlegel wenig, dass er sich von den "vom
Gestus kunstrichterlicher Herablassung" (Alt,
Bd. II, 2004.,
S.318) bestimmten Äußerungen seines Bruders gegenüber Schiller
distanzierte. (vgl.
ebd, S.319) Erst als August Wilhelms Frau ▪
Caroline, die so überhaupt nicht,
in "Schillers konventionelles weibliches Rollenbild" (ebd.,
S.321) passte, Goethe um Vermittlung bat, darf ihr Mann zwar weiter beim
"Musenalmanach" (1796-1800) Schillers mitarbeiten, bleibt jedoch
"vom persönlichen Verkehr" mit ihm fortan ausgeschlossen (Safranski
2004, S.426).
Die Schillers und Caroline Schlegel
Gut möglich anzunehmen, dass Schiller, damit zugleich auch "Madame Lucifer" treffen wollte. Diese Herabsetzung Caroline Schlegels
hatten er und seine Frau »Charlotte
(1776-1826) "einer geborenen Charlotte von Lengefeld, die durch die
Heirat mit Schiller gesellschaftlich abgestiegen war und diese Tatsache
wohl durch besonders stark aufgetragene Prätentionen im Bereich
gesellschaftlicher Vorgaben ausgleichen musste" (Appel
2013, S.156), in Jena selbst in Umlauf gebracht.
Charlotte Schiller, die zwar mit der Doppelliebe ihres Mannes mit ihrer
eigenen Schwester ▪
Caroline von Wolzogen
(1763 -
1847), die bis zum Tod Friedrich Schillers anhielt, erstaunlich lax
umzugehen verstand, kannte ansonsten nämlich wenig Pardon, wenn gegen
Sitte und Moral verstoßen wurde. Sie war "eine Frau mit Adelsstolz" (Dahm
2004, S.217), deren Selbstwertgefühl durch den Verlust des
Adeltitels wegen ihrer Heirat mit einem bürgerlichen Friedrich Schiller
offenbar so gelitten hat, dass sie, deren Zukunft eigentlich auf ein
Leben als Hofdame ausgerichtet gewesen war, in ihrem Auftreten und im
gesellschaftlichen Kontakt mit anderen stets ihrer aristokratischen
Grundhaltung treu zu bleiben suchte. Es dauert bis 1802, als Friedrich
Schiller vom Kaiser geadelt wird und danach den Titel Hofrat führen
kann, bis sie "ihrem Namen wieder das von hinzufügen" (ebd.)
kann. Wahrscheinlich ist es auch ihr zuzuschreiben, dass sie dafür
sorgte, dass »Christiane
Vulpius (1765-1816), die langjährige Lebensgefährtin in "wilder Ehe"
und spätere Ehefrau Johann Wolfgang von Goethes aus der beginnenden
Freundschaft der Männer so vollkommen ausgegrenzt wurde, niemals am
Tisch sitzt, wenn Goethe Gäste bei sich zu Hause empfängt. So sehr sie
Goethe zwar seit ihrer Kindheit bewundert, so sehr verachtet sie
geradezu seine häuslichen Verhältnisse und macht Christiane herunter,
indem sie sie als "rundes Nichts" bezeichnet und das sogar noch
beibehält als Goethe Christiane, mit der er seit 1788 in häuslicher
Gemeinschaft zusammenlebt und die ihm fünf Kinder zur Welt bringt, von
dem allerdings nur
August (1789-1830) überlebt, im Jahr 1806 heiratet. Aus dem
runden Nichts wird fortan die dicke Ehehälfte, wie Frau von
Schiller jetzt über Christiane lästert. (ebd.,
S.218) Dass die Haltung und das abweisende Verhalten von Charlotte
Schiller dabei dem folgte, was die vornehme Weimarer Gesellschaft
praktizierte, die sich allerorten über die illegitime und
unstandesgemäße Liasion Goethes mokierte, macht die Sache dabei nicht
besser, zumal Christiane von Goethe, nach ihrer Heirat zur "Geheimrätin
von Goethe", avanciert auch dann argwöhnisch beäugt und nur ganz
zögerlich in der feinen Weimarer Gesellschaft akzeptiert worden ist.
Alles das machte Charlotte von Schiller von vornherein schon zu einer
der wichtigsten gesellschaftlichen Gegenspielerinnen Caroline Schlegels
in Jena. Was schon ihrem Mann nicht passte, dass Caroline auch in
Gesellschaft so gar nicht willens war, ihre rhetorische Naturbegabung
und ihr enormes Wissen herkömmlichen Normen folgend zurückzuhalten,
sondern mitunter ohne Diplomatie und Fingerspitzengefühl in
gesellschaftlicher Runde artikulierte, was sie dachte, war wohl das
direkte Gegenbild zu dem, was man den wenig ausgeprägten
Konversationsfähigkeiten Charlotte Schillers nachsagte. (vgl.
Roßbeck
2009, S. 136) Dazu entstand bei Charlotte Schiller noch der
Eindruck, dass auch Goethe nicht mehr sie, sondern Caroline zu
bevorzugen begann. (ebd.,
S.142) Dass Schiller "die intellektuelle Souveränität, mit der sich
Caroline Schlegel in die öffentlichen Dispute der Zeit einmischte" (Alt,
Bd. II, 2004., S.318), klar gegen den Strich gingen, rundet das Bild
dabei noch ab.
Romantik und Klassik
Dass Schiller und Friedrich Schlegel so sehr aneinandergeraten sind, lag
nicht nur am "Gegensatz zweier schwer zu vereinbarender Naturen und
ehrgeiziger Literaturpolitiker" sowie der "taktlose(n) kritische(n)
Schärfe" (Schulz
1998, S.39) Friedrich Schlegels, sondern eben auch daran, dass
dieser den Finger in eine Wunde legte, die in der Kritik an Schiller bis
heute immer wieder auftaucht: Sein Bemühen nämlich, "Pathos in den
Dienst bürgerlicher Bildung zu stellen" (ebd.).
Das führte geradewegs zu dem Vorwurf der "Divergenz zwischen Ideal und
Wirklichkeit" (ebd.),
dem sich die
Schillersche
Autonomieästhetik immer ausgesetzt sieht, sondern förderte auch die
immer wieder beklagte trivialisierende Rezeption einiger seiner Werke
(vgl.
ebd.), was im Zuge der sogenannten pragmatischen Applikation in
besonderer Weise auch das Das
Lied von der Glocke, deren Sentenzen aus ihrem Kontext gerissenen zu
Geflügelten Worten, zu "Stammbuchstückchen" und "Denksprüchen" wurden.
Zu den Zeitgenoss*innen, die für
Friedrich Schillers Ballade "Das
Lied von der Glocke" kein gutes Wort fanden, gehörte also allen
vorweg der
frühromantische Schlegelkreis, dessen Kunstverständnis sich auch von der
klassischen Kunsttheorie grundlegend unterscheidet.
Zu dem für die Romantiker typischen
regionalen Gruppenbildung gehört die sogenannte
Jenaer Romantik, zu dessen Kreis ab 1798 »Novalis
(1772-1801) (= Georg Philipp Friedrich von Hardenberg),»Ludwig
Tieck (1773-1835), »Wilhelm
Heinrich Wackenroder (1773-1798), »August
Wilhelm Schlegel (1767-1845) und »Friedrich
Schlegel (1772-1829) sowie die Philosophen »Friedrich
Schleiermacher (1768-1834), »Johann
Gottlieb Fichte (1762-1814), »Friedrich
Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) und der Naturphilosoph »Johann
Wilhelm Ritter (1776-1810) gehörten. In ihrer Zeitschrift »Athenäum,
die zwischen 1798 und1800) in sechs Heften erschien, entwarfen sie "das
Programm einer alle Künste (Literatur, Musik, bildende Kunst) und
Wissenschaften (Philosophie, Theologie, Medizin u. a.) umfassenden
Universalpoesie im Sinne einer Weiterführung der Weimarer Klassik und
einer Synthese von Kunst, Staat und Gesellschaft." (Loquai
2006, S.353)
Aller Unterschiede zum Trotz kann man die
Romantik aber "nicht nur als Antithese zur Klassik" verstehen, sondern
als Fortsetzung. (vgl.
ebd., S.354) Mit ihren äußerst vielfältigen Denkmodellen, die sich
zum Teil auch widersprechen und in Konkurrenz zu einander stehen, wie z.
B. geschichtsphilosophisch fundierten Utopien, subjektivistischen
Rückzugsmodellen (Elfenbeinturm, Eremitenklause), rationalen Theorien
und ekstatischen Phantasien, ihrem System mit Chaos und ihrer Vernunft
und ihrem Irrationalismus bemüht sie sich doch "um eine ganzheitliche,
alle Bereiche des Lebens durchdringende, wechselseitige Erneuerung von
Kunst und Gesellschaft mit utopischen, an einem Kunstideal
ausgerichteten Ansprüchen." (ebd.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
|