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Textauszug
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DAS LIEBES-
UND LEBENSKONZEPT DER BÜRGERLICHEN EHE
Die Darstellung des
Geschlechterverhältnisses in ▪ Friedrich Schillers Ballade
▪ "Das
Lied von der Glocke" hat schon immer zu
heftigen Kontroversen
Anlass gegeben.
Das vom Bildungsbürgertum geprägte
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Leitbild der bürgerlichen Ehe
ist in dem Gedicht geradezu programmatisch
veranschaulicht, dessen Wirkungsgeschichte als geschlechtsspezifischer
Erziehungskatechismus bis weit in das 20. Jahrhundert hineinreicht.
Ähnliche Vorstellungen hat Schiller aber schon in seinem Gedicht ▪
Würde der Frauen (1795) zur
Darstellung gebracht.
Ebenso wie im Lied von der Glocke zeigt sich
darin, jedenfalls von heute aus betrachtet, "eine geradezu primitive
Geschlechterphilosophie" (Hofmann
2005a, S.289), die ein Idealbild "bornierten Biedersinnes" (ebd.)
darstellt und von vielen geteilt, aber auch von etlichen, insbesondere
Frauen, die sich schon zu dieser Zeit emanzipieren wollten und konnten,
heftig kritisiert und verspottet worden ist.
Der Blick in die ▪
Geschichte der bürgerlichen Ehe und Familie kontextualisiert
Schillers Auffassung, ohne damit seine "zeitbedingte(n), buchstäblich
beschränkte(n) Ansichten über politische Zustände und insbesondere über
Männer und Frauen mit für allgemein gehaltenen Wahrheiten" (ebd.)
zu relativieren.
In Deutschland bildete sich der Typus der bürgerlichen Ehe Ende des 18.
Jahrhunderts heraus. Sie war von ihrer inneren Ordnung her gesehen
patriarchalisch, d. h. "Aufgabe und Lebensprojekt der Geschlechter waren
verschieden, die wesentlichen letzten Entscheidungen lagen - nach Recht
wie nach Sitte - beim Mann, er dominierte eindeutig." (Schenk
1995, S.84)
Wegen der eher
zögerlichen industriellen Entwicklung fiel dabei dem so genannten
Bildungsbürgertum (höhere Beamte, Vertreter der freien Berufe, Gelehrte,
Pfarrer, Intellektuelle, Großkaufleute etc.) eine besondere Rolle zu. Es
grenzte sich nach unten klar gegen Bauern, Handwerker, städtische
Unterschichten, insbesondere das entstehende Industrieproletariat ab und
fühlte sich durch das selbst erworbene Wissen und durch individuelle
Leistung dem parasitären Adeligen überlegen.
Die Trennung von Wohnung und
Arbeitsplatz und der wachsende Wohlstand des Bürgertums brachte es mit
sich, dass die bürgerliche Ehe das "ganze Haus", die traditionelle
Lebensform landbesitzender Bauern und vermögender Handwerker und
Kaufleute, ablöste. Zugleich definierte die bürgerliche Ehe die Rolle der
Frau neu.
Die bürgerliche Frau
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war wegen des vorhandenen Wohlstandes von der Notwendigkeit zur
Erwerbsarbeit befreit
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sollte fortan die Arbeit der Hausangestellten und Dienstboten
überwachen
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hatte die Erziehung der Kinder durch das Kindermädchen zu
beaufsichtigen
Das Leben einer normalbürgerlichen Hausfrau war deshalb keineswegs
untätiger Müßiggang, ihr tägliches Leben keinesfalls ein Wechselspiel
"zwischen Delegation der Arbeit und Einladungen, Lesen und Handarbeiten.
Ihr Leben bestand zuerst immer noch aus Arbeiten und Sparen,
Haushaltsführung und Kindererziehung."
(Nipperdey
1990, Bd. 1, S. 54) Und dies war "vor allem in vormaschineller Zeit, der
Zeit von Öfen und lange auch dem Kohleherd, der Zeit von Kleidernähen und
Flicken, ein ausgebreitetes und anstrengendes Tätigkeitsfeld" und dazu
"auch eine anspruchsvolle Aufgabe - denn man stand unter dem Gesetz der
Knappheit, musste sparen, rechnen, billig einkaufen und Vorrats- und
Restewirtschaft betreiben." (ebd., S. 53)
Schiller hat das vom Bildungsbürgertum geprägte Leitbild der
bürgerlichen Ehe in seiner Ballade "verewigt".
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Grundlage der Ehe ist in dieser Ballade "die Liebe, die romantische
Liebe, die ihr Objekt idealisiert und durch die Distanz zwischen
heranwachsenden Jungen und Mädchen, durch eine geschlechtsspezifische
Erziehung genährt wird" (Schenk
1995, S.85)
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Die Partnerinnenwahl junger Männer findet noch immer in der
heimatlichen Umgebung und innerhalb des sozialen Milieus statt, dem man
selbst angehört.
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Mädchen erwerben frühzeitig hauswirtschaftliche Kenntnisse.
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Idealisierung und soziale Distanz kennzeichnen die Zeit der Werbung
und sexuelle Beziehungen vor der Ehe sind selbstverständlich tabu.
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Die eheliche Beziehung der Partner lässt voreheliche Verliebtheit
hinter sich und "soll sich in eine ruhige, gleichmäßige Neigung
verwandeln, die ein Leben lang hält wie das Band der Ehe" (ebd. S.86)
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Ehe und Familie sind in der bürgerlichen Idealvorstellung untrennbar
miteinander verbunden.
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Der bürgerliche Ehealltag weist eine Zweiteilung auf,
welche die Welt
in einen "inneren" und "äußeren" Bereich aufteilt und den Geschlechtern
klare Rollen vorschreibt, die vom unterstellten natürlichen Wesen der
Geschlechter abgeleitet werden. Für den einen "äußeren Bereich" des
wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens sind die Männer, für den
privaten und häuslichen Bereich die Frauen zuständig.
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Der Vater ist das Oberhaupt der Familie, während die Frau auf ihre
Weise mit bürgerlichen Tugenden wie Fleiß, Ordnung und Sauberkeit ihren
Teil zur Erhaltung und zum Wachstum des vom Mann geschaffenen
Wohlstandes beiträgt.
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Die Frau ist neben ihren hauswirtschaftlichen Tätigkeiten für die
immer wichtiger werdende Kindererziehung zuständig, zu der sie ihre
wesenseigene Mutterliebe prädestiniert. Ihre Hausarbeit wird zusehends
idealisiert und die Rolle der Hausfrau in gewissem Sinne aufgewertet,
indem sie sich als "teure Gattin" und "´treue Mutter" nicht nur "für das
Nützliche, sondern auch für das Schöne, das Dekorative, die
Gemütlichkeit" zuständig fühlen darf. (vgl.
Schenk 1995, S.85-87)
Auch wenn die Wirklichkeit der bürgerlichen Ehe als "vernünftige" Liebe
vom Ideal der romantischen Liebe zum Teil beträchtlich weit entfernt
war, keimte doch eine Vorstellung einer "partnerschaftlichen Liebe"
(Nipperdey
1990, S. 48) heran, bei der die Eheschließung mehr auf individueller
Entscheidung als auf dem Arrangement elterlicher Familien beruhte.
Diese
Vorstellungen wurden vom frühen 19. Jahrhundert an von metaphysischen
Theorien über die biologischen Unterschiede der Geschlechter gestützt,
die Konzepte, wie sie auch Schiller in seinem "Lied von der Glocke"
entwickelte, als Rollenmodelle und geschlechtsspezifische Lebensprojekte
für die bürgerliche Ehe festgeschrieben haben. Die "Polarisierung der
Geschlechtscharaktere" (Gestrich
2013, S.6), die den Frauen "Passivität, Emotionalität und
Mütterlichkeit", den Männern "Aktivität, Rationalität und
Berufsorientierung" (ebd.)
zuschrieben, konnte auf diese Weise "das Gleichheitsdenken der Aufklärung,
das im Prinzip ja auch die Gleichheit der Geschlechter umfasste, rückwirkend
[...] entschärfen und in die alten patriarchalischen Familienstrukturen und
Rollenzuweisungen" (ebd.)
einfügen.
Thomas
Nipperdey
(1990, S. 48f.) hat den Zustand der Geschlechterbeziehungen im
frühen 19. Jahrhundert in einer
vielleicht
nicht sonderlich differenzierten Weise, aber doch inhaltlich sehr
anschaulich und kompakt, wie folgt zusammengefasst:
"Die Zeit um 1800 hatte die
partnerschaftliche Liebe als Grundlage der Ehe und der Eltern Kind
Beziehung entwickelt. Darüber bildete sich im frühen 19. Jahrhundert
eine ganze Theorie, eine Geschlechtermetaphysik, aus den biologischen
Unterschieden der Geschlechter wurden unterschiedliche Rollenmodelle und
Lebensprojekte entwickelt und begründet. Die Geschlechter sind
gleichwertig, aber ungleich, sie sind anders, sie stehen in einem
polaren und in einem kompensatorischen Gegensatz zueinander. Und
insofern die Entlastung der Frau von der Berufsarbeit alten Traditionen
der oberen Schichten ebenso entsprach wie der neuen Realität der Bürger,
in der die Frau, Kinder gebärend und aufziehend, ans Haus gebunden war,
aus dem die Berufs- und Erwerbsarbeit auswanderte, war solches
Rollenkonzept auch ganz ohne Philosophie zum Normalbestand der
Lebensinterpretation geworden. [...] Der Mann - so das Modell - ist
aktiv, die Frau passiv; der Mann von seinem Tun, die Frau von ihrem Sein
her lebend; der Mann gehört in die Leistungswelt, die Frau steht
jenseits der Leistungszwänge in einer anderen Welt - der der Freiheit;
der Mann lebt von seiner Kultur, die Frau von ihrer Natur, ihrer
Geschlechtsrolle; der Mann ist aufs äußere und öffentliche Leben
bezogen, auf Markt, Konkurrenz und Macht, auf Arbeit und Politik und
auch auf deren Anonymität, die Frau aufs Innere und Private, aufs Intime
und auch aufs Personale; der Mann ist bestimmt von Rationalität und
Objektivität, die Frau von Emotionalität und Subjektivität. Das ist
nicht einfach eine Unterscheidung; vielmehr: Die Frau ist notwendige
kompensatorische Ergänzung zur Einseitigkeit des Mannes. Dazu kommt,
dass ihre familiale Rolle nicht als eigene ausgreifende Aktivität
beschrieben wird, sondern vor allem als aufopfernde, geduldig
hinnehmende Liebe. Die Frau ist für andere, für den Mann, für die Kinder
da. Und die Frau ist dem Mann gegenüber schutzbedürftig, hilflos - so
ist jedenfalls der Stil des Umgangs. Das spitzt sich zu zum Verhältnis
von Welt und Heim: auf der einen Seite das Heim, der Ort der Nähe, der
Harmonie, des Friedens und der Geborgenheit. Und das war dann eine
Beschreibung der Ehe. In ihr besorgt die Frau das Heim, das ist ihre
Sphäre, sie bestimmt als liebende Mutter die Familienatmosphäre. Das
Heim ist der Ruhepunkt des Mannes, dessen Leben in den
Auseinandersetzungen mit und in der Welt abläuft, und es ist der Ort der
Bildung der künftigen Generationen; öffentliche Einrichtungen wie
Schulen hatten nur Hilfsfunktionen."
Und doch, so betont Nipperdey ausdrücklich, darf man die bürgerliche
Ehe nicht nur unter dem Blickwinkel der Herrschaft der Männer über die
Frauen betrachten, denn sie stellte auch eine Notwendigkeit von
Arbeitsteilung dar, einer Aufgabenteilung aus Sicht der Männer
allerdings, "aus der sich bei aller Gleichwertigkeit und aller
Hochstilisierung der Frau - sie war das bessere menschliche Wesen, im
Höheren zuhause - der faktische Entscheidungsvorrang, um nicht zu sagen,
das Entscheidungsmonopol des Mannes, ein
paternalistischer
Patriarchalismus, beinahe problemlos ergab." (ebd.,
S. 49)
Auch wenn diese paternalistische Patriarchalismus die
Geschlechterbeziehung im Allgemeinen wohl gut beschreibt, gestalteten sich,
das haben neuere Studien ergeben, weder "die
Autoritätsbeziehungen zwischen Männern und Frauen oder Eltern und
Kindern, noch die geschlechts- und generationsspezifische Trennung der
Arbeits- und Kommunikationssphäre so rigide [...] wie dies in der älteren,
auch frauengeschichtlichen Literatur z. T. dargestellt worden war". (Gestrich
2013, S.121