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Bausteine
Entwicklungsaufgabe im Halbstunden-Takt
Gert Egle (2020)
Es ist eine "Initiationsgeschichte" (Durzak
1980, S.281), eine Geschichte wie so manche andere von
▪
Gabriele Wohmann,
die von jugendlichen Protagonisten, zumeist Kindern, handeln, "die in
der Kollision mit der Erwachsenenwelt gezeigt werden". (ebd.)
Und die "kindliche Kontrastoptik" (ebd.,
S.284), derer sich auch der figurale (personale) Erzähler ihrer
▪
Kurzgeschichte ▪
»Denk immer an heut Nachmittag«
bedient,
zeigt nicht nur, wie schwer es ist, in der Erwachsenenwelt zu bestehen
und die dafür nötigen ▪
Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, sondern auch wie schwer sich
Eltern oder wie im vorliegenden Fall Väter tun, diese zum Teil
schmerzhaften Prozesse förderlich zu begleiten und zu unterstützen.
Die Geschichte beginnt, wie bei Kurzgeschichten üblich,
unvermittelt, mitten im Geschehen mit einer in direkter Rede und verbum
dicendi wiedergegebenen Äußerung des Vaters, in der Angaben zum Ort des
Geschehens, der Hinterplattform eines Zuges, und der erzählten Zeit
("eine halbe Stunde Fahrt") gemacht werden.
Inhaltlich klingt das, was er sagt ("wieder was Schönes zum Drandenken"),
wie eine Aufforderung, sich voll und ganz auf das Erlebnis der Zugfahrt
zu konzentrieren und diese als etwas besonders Schönes in Erinnerung zu
behalten. Mit dem Adverb "wieder" schließt der Vater dabei offenbar an
ähnliche, zuvor schon gemachte, aber nicht erzählte Äußerungen an. Der
Appell, an dieses schöne Erlebnis zu denken, kann vom Leser damit von
Anfang mit dem Thema Abschied konnotiert werden.
Was die Zugreisenden allerdings bei der Abfahrt des Zuges aus Gratte am
späten Nachmittag von Gratte zu sehen bekommen, ist alles anderes als
schön. Aus welcher ▪
Erzählperspektive es gestaltet ist, lässt sich nur schwer sagen.
Unter dem Aspekt verschiedener Parameter der Perspektive wie der ▪
perzeptiven, der ▪
räumlichen und der
sprachlichen Perspektive lässt sich das Ganze dieses Abschnittes als
figural aus der Sicht des Vaters perspektiviert oder aber als
narratoriale Perspektive verstehen, mit der der Erzähler, das, was der
Vater gerade gesagt hat, konterkariert. Was geschildert wird, wirft ein
trauriges Licht auf den Ort, mit seinen "dunklen, fechten Gässchen",
"engen Schaufenster(n)", ""schartigen Hausmauern" und einem "Delta" von
Gassen, durch die bald die von ihrer Arbeit zurückkehrenden Männer mit
ihren Motorrädern "donnern" werden. Es ist die Zeit des Tages, an dem
sich das öffentliche Leben nach und nach in die Häuser zurückzieht.
Während der Zug durch Gratte fährt, es ist offenbar an einem späten
Winter- oder frühen Frühlingstag ("Handschuhe", "Bäume, die meisten noch
kahl"), starrt das Kind, sein Geschlecht erfährt der Leser erst später,
durch die Fensterscheibe und versucht sich vergeblich mit seinen
Wollhandschuhen an einer Messingstange davor festzuhalten. Erneut wendet
sich der Vater an es, registriert vielleicht, wie gebannt das Kind nach
draußen schaut, indem er nun von einem "Aussichtswagen" spricht.
Zugleich knüpft er an seine erste Äußerung an und ruft ihm in
Erinnerung, was sie beide an diesem Tag schon Schönes", jetzt sogar
zweimal als Lustiges bezeichnet, erlebt und zu sehen bekommen hätten.
Indem er dem Kind noch einmal explizit in Erinnerung ruft, wie sie auf
dem Weg zum Bahnhof, bei dem sie es ganz und gar nicht eilig gehabt
hätten ("wir fahren eine Bahn später") in einem Schaufenster
"Mannequins", also nach heutigem Verständnis attraktive, weibliche
Models, gesehen hätten, konkretisiert und intensiviert er seine
Aufforderung an das Kind, künftig an diese "lauter lustige(n) Dinge"
(Alliteration) zu denken. Dabei vertraut er offensichtlich darauf, dass
das Kind auf die erotischen Reize, die vom Anblick der "hübschen
Mannequins" ausgegangen sind, (auch?) reagiert hat.
Das Kind aber blockt ab, bejaht nur kurz, dass es sich darin erinnern
kann. Was es aber aller "Schönrederei" des Vaters zum Trotz vor allem
spürt, ist der Koffer mit seinen Sachen an seinem Knie. Damit wird das
Motiv des Abschieds wieder aufgenommen und zugleich darauf
vorausgedeutet, was am Ende der halbstündigen Fahrt stehen wird. Mit dem
Hinweis wechselt der Erzählerbericht mit seiner Beschreibung des
Stadtrandes von Gratte und dem Beginn offener Landschaft in die figurale
und sprachliche Perspektive des Kindes. Seine "kindliche Kontrastoptik"
(Durzak 1980,
S.284) sieht die schöngeredete Welt des Vaters mit ganz anderen Augen.
Die Gärtchen sehen "unfrisiert" aus, Gratte "wie ein dicker dunkler
Pickel", die Bäume "kahl" und die Kiefernstämme "gekrümmt" und "nackt"
"in sandigen Kahlschlägen". Dazu ein Mädchen, das irgendwo auf einer
Bank (in der Öffentlichkeit?!) seine Fingernägel reinigt.
Um so unbeholfener, ja irgendwie fehl am Platz, kommt dem Leser vor, wie
der Vater, als sie in Sichtweite des Waldes von Laurich kommen, seiner
Linie treu bleibt, und dem Kind alles, was auf es zukommt, weiterhin
schönredet. In die nur vorgestellten Bilder künftiger Spiele im Wald,
von Räuberspielen und anderem drängt sich aber dann reales Geschehen.
Wie aus dem Nichts taucht hinter dem letzten Wagen des Zuges ein "fetter
Junge auf dem Fahrrad" auf, der unter größten Anstrengungen versucht,
mit dem Tempo der Bahn mitzuhalten. Aus Sicht des Kindes, wie
der Erzählerbericht verdeutlicht, nicht gerade ein besonders
interessantes oder gar schönes Erlebnis. Die Eindrücke, die nicht nur
den radfahrenden Jungen abwerten ("fetter Junge"), sondern auch die
anderen Beobachtungen, die es macht, zeugen davon, wie es sich von
diesem distanziert: "ein schwitzendes bläuliches Gesicht", das "vom
Ehrgeiz", mit dem Tempo der Bahn mitzuhalten, "verunstaltet" ist und aus
dessen Mund letztlich wie bei einem einem Tier hinterhetzenden Hund aus
dem Mund heraushängt, lässt keine anderen Gedanken und Bewertungen des
Geschehens durch das Kind zu.
So geht auch der Impuls des offensichtlich belustigten Vaters - er
erlebt also durchaus das herbeigeredete Lustige -, das Kind zu einer
Äußerung über den möglichen Ausgang des offensichtlichen Wettkampfes zu
bewegen, fehl, als das Kind auch darauf nur mit einer lapidaren,
Desinteresse signalisierenden Bemerkung reagiert.
Der Vater zeigt sich daraufhin erstmals enttäuscht, dass offenbar alles,
was er seinem Kind mitteilt, um es abzulenken von seiner Trauer
angesichts der bevorstehenden Ankunft im Internat von Laurich,
misslungen ist. Und so lässt er sich wohl auch zu der von wenig Empathie
zeugenden Bemerkung ("Ach du Langweiler") hinreißen, mit dem er seine
Enttäuschung darüber artikuliert, aber zugleich auch das Kind, mithin
auch das, was es bei alldem empfindet, abwertet.
Das Kind, so gibt die Innensicht des nachfolgenden Erzählerberichts
wieder, wird dadurch in eine ambivalente Gefühlslage gebracht, die eine
Inkongruenz von äußerem Verhalten (die Augen werden "nass") und innerem
Empfinden ("mit einer geheimen Erregung") signalisieren, die dem Kind
aber zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst ist. Man hat den Eindruck, dass
ihn also weniger das beschäftigt, was der Vater gerade zu ihm gesagt
hat, als die vor dem Vater geheimgehaltene Genugtuung darüber, dass er
nun eine physiologische Reaktion zeigt, die auch seinem Vater auffallen
könnte. Dass es diese "geheime Erregung" dazu noch verspürt, weil, fast
könnte man meinen, "auf Knopfdruck" ("jetzt schon wieder") die Tränen in
den Augen stehen, lässt vermuten, dass das Kind "spielt", sehr wohl
weiß, wie dieser Ausdruck der Trauer auf den Vater wirken wird.
Dementsprechend ist es ihm auch egal, wenn es den hinter dem Zug immer
noch hinterherhechelnden Radfahrer nur noch verschwommen sehen kann.
Der Vater, der vermutlich diese Signale und die Botschaft auf der
Beziehungsebene "Du bist verantwortlich für mein ganzes Leid"
realisiert, fühlt sich durch das nonverbale Signal des Kindes
angegriffen, vielleicht gründlich missverstanden, jedenfalls so
betroffen, dass sich dies auf seine Art zu sprechen auswirkt, als er
darauf "mit gekränkter Stimme" zu einer Tirade von in der Situation aber
auch unbeholfen wirkenden Ermahnungen greift, die wohl im
Zusammenhang mit dem eigentlichen Anlass stehen, dass er das Kind in das
Internat gibt. Der Hinweis, dass der Junge nicht vergessen solle, wie
lieb ihn seine Mutter hatte, liefert dem Leser die Erklärung nach, dass die Frau des
Mannes und Mutter des Kindes offenbar verstorben ist.
Die Ermahnungen
des Vaters, in mehreren kurzen parataktisch aneinandergereihten und in
einem grammatischen Parallelismus mit der Stirnstellung der
Imperativform des jeweils verwendeten Verbs im Satz gestaltet, sind zugleich ein
Eingeständnis des Vaters, dass er, zumindest in dieser Situation, keinen
Zugang zu seinem Kind findet. Stattdessen will er die Gefühle nutzen,
die das Kind für seine verstorbene Mutter hegt, um es daran zu erinnern,
dass es wohl auch ihn ihrem Sinne wäre, wenn es sich der Realität
stellt. Sein eindringlicher Appell ("handle danach", "tu nur") gipfelt
schließlich in der skeptisch tadelnden Bemerkung, er hoffe, dass das
Kind (wenigstens) das behalten könne.
Das Kind sagt darauf nichts. Beide sehen dem hinterher radelnden Jungen
zu, der aber, auch wenn er keine Chance hat mitzuhalten, immer noch
nicht aufgeben will. Und genau diese Einstellung scheint den Vater zu
begeistern. Dem Kind, das eben noch in einem tadelnden Gestus ermahnt
worden ist, fällt auf, dass sein Vater "stolz und fast zärtlich" von dem
beiden gänzlich unbekannten Jungen spricht. Zugleich kommt es ihm vor,
als ob der Junge mit seinem "listigen" Zungenspiel gemeinsame Sache mit
seinem Vater macht. Und wieder hat der Vater etwas zu lachen und deutet
das Zungespiel als mimische Provokation gegen den "Langweiler"
neben ihm, dem der
Junge auf dem Fahrrad die Zunge herausstrecke. Zwar relativiert er die
Wirkung dieser Aussage mit seiner Bemerkung, dass es sich bei dem Jungen
um einen möglichen zukünftigen Kameraden im Internat handeln könnte,
aber auch dieses "Spiel" des Vaters, sein Kind aus der Reserve zu
locken, geht schief.
Als sie sich den Internatsgebäuden noch im Zug den Internatsgebäuden
nähern, registriert das Kind, dass es in der Realität "doch anders"
aussieht als die Prospekte über das Internat, das es bisher zu sehen
bekommen hat, vorgegaukelt haben. Aber auch dieser Widerspruch wird vom
Vater nicht aufgegriffen.
Sie haben die Bahn verlassen und gehen auf die Gebäude des Internats zu,
das zwischen Äckern vor einem Ulmenwäldchen liegt. Die Lage scheint
dabei aber vor allem dem Vater zu gefallen. Vor allem der Sportplatz,
den sie in einiger Entfernung sehen, hat es ihm angetan.
Er fährt
mit seinen unsäglichen Ermahnungen mit einem tadelnden Unterton fort
("Ich hoffe sehr, du wirst hier allmählich Spaß am Sport bekommen"). Sie
gipfeln darin, dass, an dieser Stelle wird erstmals das biologisches
Geschlecht des Kindes gelüftet, nur "richtige Muskeln" einen
Mann ausmachten, was sich wie eine Anspielung auf die noch eher
schmächtige Figur des eigenen Sohnes ausnimmt.
Dieser nimmt den Platz allerdings vollkommen anders wahr, wie der
folgende figural aus seiner Sicht perspektivierte Erzählerbericht
demonstriert. Was der Junge sieht, ist der hohe Drahtzaun, der Platz wie
ein Gefängnis umschließt, hinter dem eine "Horde von Kindern" wild und
planlos durcheinander rennt. Und manchmal bekommt er zu Gesicht, wie
"ein eiförmiger Ball" "plump und dunkel" über den Köpfen der Kinder
zum Vorschein kommt. Die Wortwahl unterstreicht, wie negativ der
figurale Erzähler alles sieht und bewertet. Die Ball spielenden Kinder
werden zur "Horde", ihr spielerisches Treiben wird als wildes
und planloses Durcheinander wahrgenommen, der "eiförmige" Ball, um den
es geht, als plump und dunkel beschrieben und seine Bewegungen in der
Luft mit einem kranken Vogel verglichen.
Alles, auch das aus einer anderen Perspektive durchaus als
fröhlich und ungezwungen wahrnehmbare Fußballspiel von Kindern, die
offenkundig schon länger im Internat sind, wird von ihm negativ
umgewertet, um, dieser Eindruck verstärkt sich beim Lesen immer mehr,
keine anderen Gefühle zuzulassen. Sie könnten das schon an anderer
Stelle dargelegte psychologische Spiel des Kindes gefährden.
Und so kostet es den Sohn offensichtlich auch Kraft, als der Vater zum
ersten Mal körperlich mit ihm Kontakt aufnimmt und nach seiner Hand
greift, dem Gefühl von Wärme, das diese Berührung und Geste bei ihm
auslöst, nicht zu erliegen, seine Handschuhe auszuziehen und den von der
Hand des Vaters ausgehenden "Wärmestrom" wirklich zuzulassen.
Stattdessen steigen ihm wieder die Tränen in die Augen, die alles, was
er auf dem Sportplatz zu sehen bekommt, in einem solchen Ausmaß
verschwimmen lassen, dass er am Ende "nichts mehr" sieht. Nur die
Geräusche der spielenden Kinder und die Hand des Vaters ketten es mit
seinen Sinnen geradezu noch an die Realität, der es mit seiner
Vorstellung von dem Ball, der immer weiter in den Himmel hinauf ins
Universum hinaufsteigt, endgültig zu entfliehen sucht.
Es scheint, als hole ihn, genau das, was der Vater zu ihm sagt, zurück
in die Realität. Noch einmal hebt dieser zu einer fast wie ein Resümee
wirkenden Darstellung des immer wieder von ihm schöngeredeteten Tages
und aller von ihm vorgebrachten Ermahnungen an. Mit seiner Ermahnung,
sein Sohn solle, "wenn's mal trübe aussehen sollte", außer an ihn und
seine Mutter auch an den "richtig lustigen Ausflug" denken, den sie an
diesem Tag, den der Junge allerdings als so überaus traurig erlebt,
gemacht hätten, ist wohl aber auch eine Sellbstoffenbarung. Sie lässt
erahnen, dass auch dem Vater, über dessen innere Befindlichkeit der Text
durch den Verzicht auf Introspektion nie etwas preisgibt, nicht ganz so
locker umgehen kann, wie dies seine Äußerungen immer wieder vorgeben.
Und auch das Kind scheint dies zu fühlen, selbst wenn es auf seine
zweimalige Aufforderung, an diesen Nachmittag zu denken, wieder nur mit
einem kurz angebundenen Ja quittiert. Es kann, auch wenn es will, sein
nur sich selbst sehendes, in gewisser Weise egozentrisches Spiel mit dem
Vater nicht mehr fortsetzen, auch wenn das Kind-Ich ihn ihm offen
dagegen rebelliert und eigentlich wieder mit Tränen reagieren will. Es
ist das Erwachsenen-Ich in ihm, das endlich die Führung übernimmt. Durch
seine Brille kann es die Welt wieder "klar" sehen, wie sie ist.
Als sie am Sportplatz ankommen, ist sein Blick so unverstellt und klar,
dass es sogar die Strukturen des Maschendrahtzaunes wieder sehen kann.
Und es sieht auch, wie der Ball, an den es in seiner Fluchtfantasie alle
Hoffnung geknüpft hatte, nun fast ein Zerrbild dieser Fantasien geworden
ist und "wie eine gegorne, von Würmern geschwollene Pflaume ...
zurückklatschte." Und so drängt sich ihm auch ein Gedanke auf, der
zeigt, dass es eine Entwicklung gemacht hat, die am Ende die Chance zu
einer anderen, realitäts- und weniger Kindheits-Ich-bezogenen
Perspektive auf das Geschehen und einer anderen Beziehungsdefinition zu
seinem Vater aufzeigt.
Es ist der erste Ansatz zur Selbstreflexion, den der Sohn zeigt, und der
zugleich als offenes Ende darauf verweist, welche Entwicklungsaufgaben
ein junger Mensch in der Auseinandersetzung und Interaktion lösen muss.
Eine Initiationsgeschichte aus der Kontrastoptik des Kindes, die
Bewältigung einer Entwicklungsaufgabe im Halbstunden-Takt unter
zugegebenermaßen schweren Bedingungen.