Die ▪
Tragödientheorie von »Aristoteles
(384-322 v. Chr.) ist vor dem Hintergrund seines
Menschen- und
Gesellschaftsbildes zu begreifen und der Entwicklung, welche die Tragödie
im Laufe der Zeit genommen hat.
In seiner um 335 v. Chr., ein Jahr bevor »Alexander,
der Große (356-323 v. Chr.) die Herrschaft anstelle seines
ermordeten Vaters »Philipp
II. (382-336 v. Chr.) antrat, nur teilweise erhaltenen
Schrift »Poetik
beschrieb er grundlegende Strukturmerkmale der Tragödie. Diese
hatte sich bis dahin hinsichtlich ihrer Behandlung der
mythischen Stoffe, ihrer Dramaturgie, den Rezeptionsweisen des
Publikums und ihrer Funktion im gesellschaftlichen Leben seit
der klassischen Zeit des 5. und 4. Jahrhunderts schon ▪
weiterentwickelt, ohne jedoch ihre mythologischen Wurzeln
preiszugeben.
Die Manipulation der Affekte durch den Logos
In »hellenistischer
Zeit hatte der radikale, subjektivistische und relativistische
Denkansatz der »Sophisten
mit dem Menschen als Maß aller Dinge, nicht nur den naiven
Glauben an überliefertes Wissen in Frage gestellt, sondern auch
die Fragen aufgeworfen, was, wenn nicht göttliche Determination,
menschliches Handeln antreibt und welche Grenzen diesem Handeln
gesetzt sind. In diesem Zusammenhang wurde natürlich auch den
Affekten - der Begriff "(umfasst) alle Gefühls- und
Willenszustände" (Brauneck
2012, S.35) -, ihren Erscheinungsformen und Funktionen, immer
mehr Beachtung zuteil.
So ist wohl davon auszugehen, dass solche Überlegungen auch
den sophistischen Rhetoriklehrer »Gorgias
(483-375/374 v. Chr.) beeinflusst haben, als er sich mit der
Wirkung der Tragödie auseinandersetzte. Seine
wirkungsästhetischen Überlegungen, wonach die Zuschauer bei der
Rezeption affektive Zustände wie "angstvolle Schauer (phrike)",
"tränenreiche(n) Jammer (éleos)", "schmerzliche Sehnsucht (póthos)",
"Glück und Unglück" erlebten und durchmachten (vgl.
ebd., dort zit. n.
Richter 1983, S.176), mündeten dabei in der Vorstellung
einer "uneingeschränkte(n) Möglichkeit der Manipulation der
Affekte durch den Logos, also durch das Wort". (ebd.)
Damit rückte er auch die suggestiv-manipulierende Funktion
von Dichtung im Allgemeinen in den Blick, die als Logos
alle Affekte nach Belieben steuern konnte. (vgl.
Richter 1983, S.175) Affekte waren jedenfalls aus dieser
Sicht keine seelischen Urgewalten, sondern konnten über
mimetisch-fiktionale Darstellungen, wie sie die Tragödien
darboten, evoziert werden.
Diese und andere Erkenntnisse (»Ideenlehre)
trugen wohl auch dazu bei, dass »Platon
(428/427-348/347 v. Chr.), der Lehrer von »Aristoteles
(384-322 v. Chr.) den ▪
Affekten rundum ablehnend gegenüberstand.
Die Wirkung der Tragödie auf den Zuschauer: Die
Katharsis-Theorie von Aristoteles
Der Begriff der Katharsis, der immer wieder in das Zentrum der
Dramen- bzw. Tragödientheorie von Aristoteles gerückt wird, taucht
in seiner »Poetik, von der wichtige Teile, vor allem die über
die Komödie, verlorengegangen sind, nur ein einziges Mal auf (vgl.
Fuhrmann
1994, S.146). In seiner berühmten Definition der Tragödie zu Beginn
des 6. Kapitels heißt es nämlich:
"Die Tragödie ist die Nachahmung einer guten und in sich
geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter
Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitte je
verschieden angewandt werden - die Nachahmung von Handelnden und nicht
durch Bericht, die Jammern und Schaudern hervorruft und hierdurch eine
Reinigung [griech. κάθαρσις
kátharsis] von derartigen Erregungszuständen bewirkt."
(Aristoteles,
Poetik, 6. Kap., S.19)
Die Frage, die die Aristoteles-Rezeption
über viele Jahrhunderte umtrieb, "ob Aristoteles eine Reinigung
der Affekte oder eine Reinigung von den Affekten
gemeint habe" (Allkemper/Eke
22006,S. 114) , scheint heute gemeinhin zugunsten
der letzteren Antwort entschieden zu sein: Die aristotelische
Katharsis dient hernach, psychologisch betrachtet, der
Affektabfuhr und zielt damit "auf die Abreaktion eines
Affektstaus" (ebd.)
Ob dies wirklich der Weisheit letzter Schluss ist, sei
dahingestellt, zumal der historische Kontext bei einer
solcherart psychologischen Sicht außen vor bleibt. Festzustehen
scheint aber, dass für Aristoteles die Tragödie
und ihr Spiel mit den Affekten, ohnehin, keinen,
jedenfalls nicht unmittelbaren
politisch-pädagogischen Zweck mehr besaß (vgl.
Brauneck
2012, S.36) und auch den Heroen "überhaupt keine religiöse
Bedeutung mehr zu(kam)" (Fuhrmann
1994, S.160).
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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