"Die beiden Menschen, die eine breite, belebte Straße hinaufgingen,
gehörten ersichtlich einer bevorzugten Gesellschaftsschicht an, waren
vornehm in Kleidung, Haltung und in der Art, wie sie miteinander
sprachen,
trugen die Anfangsbuchstaben ihrer Namen bedeutsam auf ihre Wäsche
gestickt, und ebenso, das heißt nicht nach außen gekehrt, wohl aber
in der feinen Unterwäsche ihres Bewusstseins, wussten sie, wer sie seien
und dass sie sich in einer Haupt- und Residenzstadt auf ihrem Platze
befanden.
Diese beiden hielten nun plötzlich ihren Schritt an, weil sie vor sich
einen Auflauf bemerkten. Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der
Reihe gesprungen, eine querschlagende Bewegung; etwas hatte sich
gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer, jäh gebremster Lastwagen
war es, wie sich jetzt zeigte, wo er, mit einem Rad auf der
Bordschwelle, gestrandet dastand. Wie die Bienen um das Flugloch hatten
sich im Nu Menschen um einen kleinen Fleck angesetzt, den sie in ihrer
Mitte freiließen.
Von seinem Wagen herabgekommen, stand der Lenker darin, grau wie
Packpapier, und erklärte mit großen Gebärden den Unglücksfall. Die
Blicke der Hinzukommenden richteten sich auf ihn und sanken dann
vorsichtig in die Tiefe des Lochs, wo man einen Mann, der wie tot dalag,
an die Schwelle des Gehsteigs gebettet hatte. Er war durch seine eigene
Unachtsamkeit zu Schaden gekommen, wie allgemein zugegeben wurde.
Abwechselnd knieten Leute bei ihm nieder, um etwas mit ihm anzufangen;
man öffnete seinen Rock und schloss ihn wieder, man versuchte ihn
aufzurichten oder im Gegenteil, ihn wieder hinzulegen; eigentlich wollte
niemand etwas anderes damit, als die Zeit ausfüllen, bis mit der
Rettungsgesellschaft sachkundige und befugte Hilfe käme.
Auch die Dame und ihr Begleiter waren herangetreten und hatten, über
Köpfe und gebeugte Rücken hinweg, den Daliegenden betrachtet. Dann
traten sie zurück und zögerten. Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in
der Herz-Magen-Grube, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten; es
war ein unentschlossenes, lähmendes Gefühl. Der Herr sagte nach einigem
Schweigen zu ihr: „Diese schweren Lastwagen, wie sie hier verwendet
werden, haben einen zu langen Bremsweg.“ Die Dame fühlte sich dadurch
erleichtert und dankte mit einem aufmerksamen Blick. Sie hatte dieses
Wort wohl schon manchmal gehört, aber sie wusste nicht, was ein Bremsweg
sei, und wollte es auch nicht wissen; es genügte ihr, dass damit dieser
grässliche Vorfall in irgendeine Ordnung zu bringen war und zu einem
technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging.
Man hörte auch schon die Pfeife des Rettungswagens schrillen, und die
Schnelligkeit seines Eintreffens erfüllte alle Wartenden mit Genugtuung.
Bewundernswert sind diese sozialen Einrichtungen.
Man hob den
Verunglückten auf eine Tragbahre und schob ihn mit dieser in den Wagen.
Männer in einer Art Uniform waren bemüht, und das Innere des Fuhrwerks,
das der Blick erhaschte, sah so sauber und regelmäßig wie ein
Krankensaal aus. Man ging fast mit dem berechtigten Eindruck davon, dass
sich ein gesetzliches und ordnungsgemäßes Ereignis vollzogen habe. „Nach
den amerikanischen Statistiken“, so bemerkte der Herr, „werden dort
jährlich durch Autos 190 000 Personen getötet und 450 000 verletzt.“
„Meinen Sie, dass er tot ist?“ fragte seine Begleiterin und hatte noch
immer das unberechtigte Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben. „Ich
hoffe, er lebt“, sagte der Herr. „Als man ihn in den Wagen hob, sah es
ganz so aus.“
(aus: Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg:
Rowohlt-Verlag, 5. Aufl. 1960, S. 10f.)"
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