▪ Surfbrett: Erzähler
Die
explizite Figurencharakterisierung
kann auf zwei verschiedenen
Ebenen erfolgen. Diese Ebenen sind:
Explizit bedeutet in
diesem Zusammenhang, dass das, was an Informationen über eine Figur
gegeben wird, ausdrücklich dargelegt wird.
Das wiederum bedeutet
nicht, dass sich der Sinn solcher Ausführungen nicht erst im Zuge der
Interpretation erschließt. So können Handlungen einer Figur, die vom
Erzähler mehr oder weniger kommentarlos erzählt werden, natürlich auch
indirekt Wichtiges über den Charakter einer Figur aussagen. Die Figur
wird also auf Grund bestimmter Handlungen indirekt charakterisiert, auch
wenn die Technik der Figurencharakterisierung im Sinne der folgenden
Zuordnung explizit ist.
(vgl.
Fricke/Zymner 1993, S. 153ff.)
Beispiele aus der Literatur
Beispiel 1:
Am Beginn der Novelle
▪ "Michael Kohlhaas" von
▪ Heinrich von
Kleist (1777-1811) nimmt der
auktoriale Erzähler eine
explizite Charakterisierung der Hauptfigur vor. In äußerst knapper
Form beschreibt er im ersten Satz dabei
die Titelfigur mit ihrem Namen, Beruf
und Herkunft. Danach wird der Handlungsort
beschrieben und dann kommen die wirtschaftliche Lage und familiären
Verhältnisse von Michael Kohlhaas zur Sprache. Damit wird die Handlung räumlich
und zeitlich situiert. Schließlich kommen bestimmte Charaktereigenschaften
von Kohlhaas zur Sprache, die mit seinem Erziehungshandeln gegenüber
seinen Kindern "in der Furcht Gottes, zur Arbeitsamkeit und Treue"
weitgehend nüchtern, sachlich und ohne jede Kommentierung vom Erzähler
vorgetragen werden. Man gewinnt als Leser, auch als Ergebnis der
sprachlichen Gestaltung, den Eindruck, als habe sich der Erzähler hinter
die Ereignisse, das Faktische, zurückgezogen. An zwei Stellen jedoch
verlässt der Erzähler seinen sachlich-nüchternen Stil und gibt sich mit
seinen Kommentaren deutlich zu erkennen. Am Ende des ersten Satzes gibt er
mit einer
Apposition ("einer der rechtschaffensten zugleich und
entsetzlichsten Menschen seiner Zeit") eine eindeutige Wertung an und
nimmt damit eine Abwertung der Titelfigur vor. Diese eher "en passant" (so
ganz nebenbei) gemachte Bemerkung, entfaltet freilich eine besondere
Wirkung, denn diese fast "unmotivierte Charakterisierung des Mannes"
lässt besonders dadurch aufhorchen, weil sie "in ein
Paradox
gehüllt ist. " (Holz
1963, S.117ff.)
"An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten
Jahrhunderts, ein Rosshändler, namens
Michael Kohlhaas, Sohn eines
Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten
Menschen seiner Zeit. - Dieser außerordentliche Mann würde, bis in sein
dreißigstes Jahr für das Muster eines guten Staatsbürgers haben gelten
können. Er besaß in einem Dorfe, das noch von ihm den Namen führt, einen
Meierhof, auf welchem er sich durch sein Gewerbe ruhig ernährte; die
Kinder, die ihm sein Weib schenkte, erzog er, in der Furcht Gottes, zur
Arbeitsamkeit und Treue; nicht einer war unter seinen Nachbarn, der sich
nicht seiner Wohltätigkeit, oder seiner Gerechtigkeit erfreut hätte;
kurz, die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer
Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtgefühl aber machte ihn zum
Räuber und Mörder.
Er ritt einst, mit einer Koppel junger Pferde, wohlgenährt alle und
glänzend, ins Ausland, und überschlug eben, wie er den Gewinst, den er
auf den Märkten damit zu machen hoffte, anlegen wolle: teils, nach Art
guter Wirte, auf neuen Gewinst, teils aber auch auf den Genuss der
Gegenwart: als er an die Elbe kam, und bei einer stattlichen Ritterburg,
auf sächsischem Gebiete, einen Schlagbaum traf, den er sonst auf diesem
Wege nicht gefunden hatte. Er hielt, in einem Augenblick, da eben der
Regen heftig stürmte, mit den Pferden still, und rief den Schlagwärter,
der auch bald darauf, mit einem grämlichen Gesicht, aus dem Fenster sah.
Der Rosshändler sagte, dass er ihm öffnen solle. Was gibt's hier Neues?
fragte er, da der Zöllner, nach einer geraumen Zeit, aus dem Hause trat.
Landesherrliches Privilegium, antwortete dieser, indem er aufschloss:
dem Junker Wenzel von Tronka verliehen. - [...] "
Beispiel 2: In Heinrich Heines (1797-1856) Reisebeschreibung "Die Harzreise"
berichtet der Autor von einer Begegnung mit einem Goslarer Bürger, den er
auf seiner mehrwöchigen Wanderung im Jahre 1824 kennen lernt. Neben
zahlreichen Elementen romantischer Ironie, die sich bei der Beschreibung
der kulissenartigen Natur zeigen, sind die darin expliziten
Charakterisierungstechniken durch den Erzähler besonders auffällig.
"Von Goslar ging ich den andern Morgen weiter, halb auf Geratewohl,
halb in der Absicht, den Bruder des Klaustaler Bergmanns aufzusuchen.
Wieder schönes, liebes Sonntagswetter. Ich bestieg Hügel und Berge,
betrachtete, wie die Sonne den Nebel zu verscheuchen suchte, wanderte
freudig durch die schauernden Wälder, und um mein träumendes Haupt
klingelten die Glockenblümchen von Goslar. In ihren weißen Nachtmänteln
standen die Berge, die Tannen rüttelten sich den Schlaf aus den
Gliedern, der frische Morgenwind frisierte ihnen die herabhängenden,
grünen Haare, die Vöglein hielten Betstunde, das Wiesental blitzte wie
eine diamantenbesäte Golddecke, und der Hirt schritt darüber hin mit
seiner läutenden Herde. Ich mochte mich wohl eigentlich verirrt haben.
Man schlägt immer Seitenwege und Fußsteige ein und glaubt dadurch näher
zum Ziele zu gelangen. Wie im Leben überhaupt, geht's uns auch auf dem
Harze. Aber es gibt immer gute Seelen, die uns wieder auf den rechten
Weg bringen; sie tun es gern und finden noch obendrein ein besonderes
Vergnügen daran, wenn sie uns mit selbstgefälliger Miene und wohlwollend
lauter Stimme bedeuten, welche große Umwege wir gemacht, in welche
Abgründe und Sümpfe wir versinken konnten und welch ein Glück es sei,
dass wir so wegkundige Leute, wie sie sind,
noch zeitig angetroffen. Einen solchen Berichtiger fand ich unweit der
Harzburg. Es war ein wohlgenährter Bürger von Goslar, ein glänzend
wampiges, dummkluges Gesicht; er sah aus, als habe er die Viehseuche
erfunden. Wir gingen eine Strecke zusammen, und er erzählte mir allerlei
Spukgeschichten, die hübsch klingen konnten, wenn sie nicht alle darauf
hinausliefen, dass es doch kein wirklicher Spuk gewesen, sondern dass
die weiße Gestalt ein Wilddieb war und dass die wimmernden Stimmen von
den eben geworfenen Jungen einer Bache (wilden Sau) und das Geräusch auf
dem Boden von der Hauskatze herrührte. Nur wenn der Mensch krank ist,
setzte er hinzu, glaubt er Gespenster zu sehen; was aber seine Wenigkeit
anbelange, so sei er selten krank, nur zuweilen leide er an Hautübeln,
und dann kuriere er sich jedes Mal mit nüchternem Speichel. Er machte
mich auch aufmerksam auf die Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit in der
Natur. Die Bäume sind grün, weil Grün gut für die Augen ist. Ich gab ihm
recht und fügte hinzu, dass Gott das Rindvieh erschaffen, weil
Fleischsuppen den Menschen stärken, dass er die Esel erschaffen, damit
sie den Menschen zu Vergleichungen dienen können, und dass er den
Menschen selbst erschaffen, damit er Fleischsuppen essen und kein Esel
sein soll. Mein Begleiter war entzückt, einen Gleichgestimmten gefunden
zu haben, sein Antlitz erglänzte noch freudiger, und bei dem Abschiede
war er gerührt. Solange er neben mir ging, war gleichsam die ganze Natur
entzaubert, sobald er aber fort war, fingen die Bäume wieder an zu
sprechen, und die Sonnenstrahlen erklangen, und die Wiesenblümchen
tanzten, und der blaue Himmel umarmte die grüne Erde. Ja, ich weiß es
besser: Gott hat den Menschen erschaffen, damit er die Herrlichkeit der
Welt bewundere. Jeder Autor, und sei er noch so groß, wünscht, dass sein
Werk gelobt werde. Und in der Bibel, den Memoiren Gottes, steht
ausdrücklich, dass er die Menschen erschaffen zu seinem Ruhm und Preis.
(aus: Heinrich Heine, Die Harzreise, Stuttgart: reclam 1984, S.38f.)
Beispiel 3:
Der Erzähler im Roman "Buddenbrooks"
von
Thomas Mann (1875-1955)
erzählt von einem Streitgespräch zwischen Antonie Grünlich, geb.
Buddenbrook, und ihrem ersten Mann Bendix Grünlich an einem Januarmorgen
des Jahres 1850. Grünlich steckt zu diesem Zeitpunkt in einer
aussichtslosen finanziellen Lage, die noch dadurch verschärft wird, dass
ihm das Bankhaus Kesselmayer wegen seiner Zahlungsunfähigkeit sämtliche
Kredite zu kündigen beabsichtigt. In dem Gespräch zwischen Antonie (=Tony)
und ihrem Mann Grünlich kommen verschiedene explizite
Charakterisierungstechniken zum Zuge. Als explizite Techniken sind auf der
Erzählerebene, da Darbietung über weite Strecken in Form
szenischer Darstellung
erfolgt, nur wenige Ausführungen zu erkennen. Auf der Ebene der Figuren
gibt es in der wörtlichen Rede beider Figuren deutliche Beispiele für die
Fremdthematisierung ("Du
bist nicht kinderlieb, Antonie." - "Du
bist sauertöpfig!" - "Du
ruinierst mich mit deiner Trägheit, deiner Sucht nach Bedienung und
Aufwand ..."). Zugleich finden sich in den Äußerungen Antonie
Grünlichs auch einige expliziten Techniken, die eine
Selbstthematisierung darstellen (z. B. "wirf
mir nicht meine gute Erziehung vor!") Dass Tony, wie der
Erzähler formuliert, sich von dem
überlegenen, wehmütigen und
schweigenden Lächeln Grünlichs
verwirren lässt, kann dabei
als pauschale Wiedergabe ihrer Gefühle durch den Erzähler
verstanden werden.
»Du
machst dich ja lächerlich«, sagte sie nach einigem Stillschweigen, indem
sie ein sichtlich unterbrochenes Gespräch wieder aufnahm ... »Hast du
Gegengründe? Gib doch Gegengründe an! ... Ich kann mich nicht
immer um das Kind bekümmern ...« »Du bist nicht kinderlieb,
Antonie.« »Kinderlieb ... kinderlieb ... Es fehlt mir an Zeit! Der Haushalt nimmt
mich in Anspruch! Ich wache mit zwanzig Gedanken auf, die tagsüber
auszuführen sind, und gehe mit vierzig zu Bett, die noch nicht
ausgeführt sind ...« »Es sind zwei Mädchen da. Eine so junge Frau ...« »Zwei Mädchen, gut. Thinka hat abzuwaschen, zu putzen, reinzumachen, zu
bedienen. Die Köchin ist über und über beschäftigt. Du isst schon am
frühen Morgen Koteletts ... Denke doch nach, Grünlich! Erika muss Kurz
über Lang jedenfalls eine Bonne, eine Erzieherin haben ...« »Es entspricht nicht unseren Verhältnissen, ihr jetzt schon ein eigenes
Kindermädchen zu halten.« »Unseren Verhältnissen! ... O Gott, du
machst dich lächerlich!
Sind wir denn Bettler? Sind wir gezwungen, uns das Notwendigste abgehen
zu lassen? Meines Wissen habe ich achtzigtausend Mark in die Ehe
gebracht ...« »Ach, mit deinen achtzigtausend"!« »Gewiss! ... Du sprichst geringschätzig davon ... Es kam dir nicht
darauf an ... Du hast mich aus Liebe geheiratet ... Gut. Aber liebst du
mich überhaupt noch? Du gehst über meine berechtigten Wünsche hinweg.
Das Kind soll kein Mädchen haben ... Von dem Coupé, das uns nötig ist,
wie das tägliche Brot ist überhaupt keine Rede mehr ... Warum lässt du
uns dann beständig auf dem Lande wohnen, wenn es unseren Verhältnissen nicht
entspricht, einen Wagen zu halten, in dem
wir anständiger Weise in Gesellschaft fahren können? Warum siehst du es
niemals gern, dass ich in die Stadt komme? ... Am liebsten möchtest du,
dass wir uns hier für alle Male vergrüben und dass ich keinen Menschen
mehr zu Gesicht bekäme. Du bist
sauertöpfig!« Herr Grünlich goss sich Rotwein ins Glas, erhob die Kristallglocke und
ging zum Käse über. Er antwortete durchaus nicht. »Liebst
du mich überhaupt noch?« wiederholte Tony... Dein Schweigen ist
ungezogen, dass ich mir sehr wohl erlauben darf, dich an einen gewissen
Auftritt in unserem Landschaftszimmer zu erinnern ... Damals machtest du
eine andere Figur! ... Vom ersten Tage an hast du nur abends bei mir
gesessen, und das nur, um die Zeitung zu lesen. Anfangs nahmst du
wenigstens Rücksicht auf meine Wünsche. Aber seit langer Zeit ist es
auch damit zu Ende. Du vernachlässigst mich!« »Und du?
Du ruinierst mich.« »Ich? ... Ich ruiniere dich ...« »Ja. Du ruinierst mich mit
deiner Trägheit, deiner Sucht nach Bedienung und Aufwand
...« »Oh!
wirf mir nicht
meine gute Erziehung vor! Ich habe bei meinen Eltern nicht nötig
gehabt, einen Finger zu rühren. Jetzt habe ich mich mühsam in den
Haushalt einleben müssen, aber ich kann verlangen, dass du mir nicht die
einfachsten Hülfsmittel verweigerst. Vater ist ein reicher Mann; er
konnte nicht erwarten, dass es mir jemals an Personal fehlen würde ...« »Dann warte mit dem dritten Mädchen, bis dieser Reichtum uns etwas
nützt.« »Willst du etwa Vaters Tod wünschen?! ... Ich sage, dass wir vermögende
Leute sind, dass ich nicht mit leeren Händen zu dir gekommen bin ...« Obgleich Herr Grünlich im Kauen begriffen war,
lächelte er; er
lächelte
überlegen, wehmütig und schweigend. Dies
verwirrte Tony. »Grünlich«, sagte sie ruhiger ... »Du lächelst, du sprichst von unseren
Verhältnissen ... Täusche ich mich über die Lage? Hast du schlechte
Geschäfte gemacht? Hast du ...« In diesem Augenblicke geschah ein Klopfen, ein kurzer Trommelwirbel
gegen die Korridortür, und Herr Kesselmayer trat ein. (aus: Thomas Mann, Buddenbrooks, Frankfurt: Fischer Verlag 1999,
S.198-200)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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