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Erfahrungen kognitiver Dissonanz aushalten und überwinden
Parabeln sind keine leichte Kost. Sie verlangen den Lesenden einiges
ab. Dies gilt zunächst einmal für alle Parabeltypen.
Auch die • traditionellen Parabeln sind,
wenn es sich z. B. um
biblische
Parabeln bzw. •
religiös ausgerichtete Erbauungsparabeln handelt, vielen heute
nicht mehr so ohne Weiteres zugänglich, weil ihre Rezipienten in
einer pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft weder in
christlicher Tradition aufgewachsen sind noch sich von einem
christlichen Weltbild leiten lassen. So fehlt heute vielen eben der fest gefügte, religiös
fundierte, an moralischen und gesellschaftlichen Normen
orientierte geschlossene Bezugsrahmen,
auf den sie sich mit ihrer Lehre beziehen könnten. Nur im Rahmen
dieses Bezugsrahmens kann der Verweisungszusammenhang von •
Bild- und Sachbereich
als eine Art Suchaufforderung zur ▪
Sinnkonstruktion
wirken.
Ohne den erforderlichen Bezugsrahmen und das entsprechende Wissen
lässt sich das für solche Parabeln konstitutive Sinnversprechen,
wonach der eigentliche "Sinn" einer Parabel "nicht in der Geschichte
selbst, sondern in dem, was ihr Inhalt bedeutet" (van
Rinsum 1986b, S.14) liegt, eben nicht ohne weiteres einlösen.
Und mit •
Parabeln des 19. Jahrhunderts, die den Verweisungszusammenhang
von Bildbereich und Sachbereich umkehren, indem sie neuartige und
befremdlich wirkende Elemente im Bildbereich verwenden, die mit den
Mitteln der herkömmlichen Übertragung in einen entsprechenden
Sachbereich nicht mehr aufgelöst werden können, nimmt die
"Sperrigkeit" der Parabeln noch weiter zu.
Insbesondere • moderne Parabeln kommen vielen Leserinnen und Lesern
zunächst einmal unverständlich und fremd vor. Und die negative
Weltsicht, die meist aus ihnen spricht, wirkt oft verstörend.
Dahinter steht dabei oft die von solchen Texten ausgelöste »kognitive
Dissonanz, d. h. die Erfahrung, dass das, was man gelesen hat,
einfach nicht so kognitiv zu verarbeiten ist, wie man das gewohnt ist.
Vereinfacht ausgedrückt: Die Muster, mit denen wir etwas Gelesenem
Bedeutung bzw. Sinn zuschreiben, funktionieren einfach nicht.
Wenn
wundert's, dass eine solche Erfahrung emotionale Auswirkungen hat.
Sie sorgt u. U. für "schlechte" Gefühle über vermeintlich eigenes Unvermögen bis hin zur
Abwertung des Gelesenen und seines Autors bzw. seiner Autorin in
Bausch und Bogen.
Wer
diese Spannung nur vordergründig aushalten kann, den
dieser unangenehme motivationale Zustand hervorruft, lässt sich u.
U. von
allem, was einem einen solchen Text unverständlich, fremd, unsinnig
oder sinnlos erscheinen lässt, aber nicht beirren. Um die Spannung
zu lösen, biegt er sich das Ganze so hin, dass es eben zur eigenen Sicht der
Dinge passt. Was sich dieser nicht fügt, wird kurzerhand ignoriert.
Auf der anderen Seite ist kognitive Dissonanz aber
auch eine Chance, wenn die mit ihr verbundenen Unlustgefühle
überwunden werden können (▪
volitionale und ▪
metakognitive Aspekt des Lesens). Dann kann sie Ausgangspunkt
einer Spurensuche werden, die nach den Ursachen ihrer Entstehung bei
einem selbst und in Bezug auf den Text fragt. Diese Spurensuche kann "von einer erwarteten oder
logischen, geradlinigen Stimmigkeit wegführen und damit sowohl
Denkrichtungen auslösen als auch dazu anregen, das Denken selbst zu
hinterfragen." (Andringa
2008, S.330). Sich selbstbewusst auf die Reflexion des eigenen
Textverstehens und den Text, der seinen Sinn so gar nicht preisgeben
will, einzulassen, das ist ein spannendes wie auch äußerst
lohnenswertes "Abenteuer", das einem am Ende viel über sich selbst
und über den Text, an dem man sich "gerieben" hat, sagen kann.
Im
Übrigen kann die fehlende Bearbeitung von Fremdheitserfahrungen bei
der ▪
produktorientierten, individuell anzufertigenden
Parabelinterpretation auch zu ▪
Schreibschwierigkeiten und Schreibstörungen im ▪
Schreibprozess
führen, denen bei der Bewältigung von
Leistungsaufgaben im
Leistungsraum von den Schülerinnen und Schülern auch mit den
herkömmlichen
▪
Gegenstrategien nicht so ohne Weiteres beizukommen
sein dürfte.
Inhalt und Strukturen der Fremdheit des Textes
thematisieren
Die Spurensuche kann damit beginnen, sich damit zu
befassen, was und warum etwas den Text, mit dem man es zu tun hat,
so fremd erscheinen lässt. Dazu gilt es Inhalte und Strukturen der Fremdheit
zu
thematisieren, die vom Text evoziert werden. (vgl.
Waldenfels 1998,
vgl.
Leskovec 2010.
S.240)
Nicht jede Fremdheitserfahrung, die man beim Lesen
von Texten macht, ist gleich. Deshalb macht es Sinn, drei
Dimensionen des Fremdheitsbegriffs voneinander zu unterscheiden, die
im Umgang mit literarischen Texten eine Rolle spielen:
alltägliche,
strukturelle und
radikale Fremdheit. (vgl.
ebd., S.240)
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Alltägliche Fremdheit erlebt man beim Lesen eines Textes, wenn man spürt,
dass man Wissenslücken hat, von denen man
aber zugleich weiß, wie man sie z.B. durch den Einsatz von Lexika oder mit
Hilfe des Internets schließen kann.
-
In einem literarischen Text
kann es dabei um Dinge gehen wie die Bedeutung und Lokalisierung geografischer Angaben, um
historische Bezüge und Fakten und um die Namen von Figuren u. ä. m., die
allesamt der innertextlichen, fiktionalen Welt angehören.
-
Zugleich werden
durch den Lernzuwachs über die dargebotene fiktionale Wirklichkeit auch neue
Bezüge möglich, die zu einer möglichen Rekontextualisierung des Textes in
seinen "ursprünglichen" Zeitbezügen bzw. Kontexten beitragen kann. (vgl.
Leskovec 2010,
S. 240)
Strukturelle Fremdheit gründet,
so Leskovec (2010,
S.241) im Anschluss an
Waldenfels
(1999, S.91), "auf der Scheidung in 'Heimwelt' und 'Fremdwelt'. Was
einem fremd erscheint, steht dabei "außerhalb der eigenen Ordnung" (ebd.
S.241).
Und genau darin unterscheidet sie sich von der alltäglichen Fremdheit, die "innerhalb der eigenen
Wirklichkeitsordnung (verbleibt)" und deren "Lücken" so geschlossen werden
können, dass das Fremde in die eigenen
Schemata des
Denkens
und Fühlens
integriert werden können.
Was einem hingegen strukturell fremd ist, kann man sich nicht mit dem
Rückgriff auf gespeicherte "Wahrnehmungsgestalten und Handlungssituationen"
(Waldenfels
(1999, S.91, zit. n.
ebd.), auf
Schemata aller Art, anverwandeln
und damit ohne weiteres in seine vorhandenen Schemata einpassen.
Entsteht dieses Gefühl im Umgang mit
Literatur, so resultiert dort genauso wie in anderen Zusammenhängen,
Unsicherheit, weil die Sinnfindung erschwert ist.
-
Dazu kommt noch, dass
man das Gefühl struktureller Fremdheit oft gar nicht so
leicht artikulieren und dann darüber kommunizieren kann.
-
Statt diese Fremdheitserfahrung also zu thematisieren, geht man
den daraus resultierenden Irritationen und Blockaden lieber
dadurch aus dem Weg, dass man eine Abwehrhaltung einnimmt, die
von der totalen Ablehnung so "doofer" "schräger", ja "sinnloser"
Texte bis hin zu der vehementen Abwehr so "negativer" und
"irgendwie bedrückender" Geschichten reicht. Alles letztlich
nichts anderes als eine "kognitive
Distanzierung", weil wir Fremdheit dem zuschreiben, "was die
Erwartungen auf einen vertrauten Verlauf der Dinge enttäuscht." (
Waldenfels 1999, S.91, zit. n.
ebd.)
Die gute Nachricht: Wer im Umgang mit literarischen Texten häufiger
Erfahrungen mit struktureller Fremdheit macht, kann dies, sofern die nötige
Bereitschaft dafür vorhanden ist, dies durch Lernen und Umgewöhnung ändern.
(vgl. Waldenfels
(1999, S.92, zit. n.
ebd.)
Dazu gehört aber in jedem Fall, dass man die Tatsache, dass ein fiktionaler
Text strukturelle Fremdheit erzeugen kann (vgl.
Jahraus 2004, S.21) zunächst einmal akzeptiert, ohne die davon
ausgelösten Irritationen prinzipiell abzuwehren. Wer bereit ist, sich
intensiver mit dem Text selbst auseinanderzusetzen und ggf. zusätzliche
Informationen zum Text recherchiert und heranzieht, kann seine Spurensuche
am Ende vielleicht mit neuen, vertiefteren Erkenntnissen über den Text und
seine Bedeutung und positiven Gefühlen beenden. Aber auch die Spurensuche
braucht Frustrationstoleranz: Gerade ▪ moderne Parabeln verweigern sich
häufig allen Formen von Sinngebung und sorgen damit dafür, dass "sich strukturell Fremdes" aller möglichen Kontextualisierungsbemühungen zum Trotz "nur bedingt auflösen lässt." (Šlibar
2005, S.82, zit. n.
Leskovec (2010)
Radikale Fremdheit geht im Grunde genommen nicht nur über die
eigene, sondern über jegliche Ordnung hinaus.
Ihre Eigenart besteht, so
Leskovec (2010,
S. 242) darin, dass man sie bzw. den Umgang mit ihr nicht erlernen und sich
auch nicht daran gewöhnen kann: "sie verstört und verunsichert auch dadurch,
dass sie sich den bewährten Formen der Aneignung (auch dem 'normalen'
Sprechen) entzieht."
Das Gefühl radikaler Fremdheit kann sich dabei in
literarischen Texten auf unterschiedliche Art und Weise bemerkbar machen.
-
So
kann es vorkommen, dass ein Text ein Thema behandelt oder in
einem Text ein Motiv auftaucht, dass Grenzerfahrungen in den
Bereichen Sexualität, Halluzinationen jeder Art und jeden
Ursprungs, Tod oder sonstige über die eigene Vorstellungskraft
oder das eigene Erleben hinausgehende Inhalte und Stoffe in den
Handlungen der Figuren versinnbildlicht, die einem in einer
Weise fremd sind, dass man sie als radikale Fremdheit bezeichnen
kann. Dieses radikal Fremde ist für einen Leser nicht fassbar,
es bleibt letztendlich sogar nicht interpretierbar. Es ist
gewissermaßen "das Überschießende", wie es auch in
"individuellen wie kollektiven traumatischen Ereignissen,
ekstatischen oder spirituellen Erfahrungen, Krankheit, Wahnsinn,
Zufälligem, Phantastischem, Unheimlichem, Gewalt, Ereignissen
also, 'die uns mit dem Fremden als einem Außer-ordentlichen
konfrontieren.' (Waldenfels
1999, S.82)" (ebd.)
Gestalt annehmen kann.
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Wenn man im radikal Fremden, das auch
ein Strukturelement bestimmter literarischer Texte
sein kann, das sieht, "was sich nicht paraphrasieren lässt, sich nicht mit den zur
Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln ausdrücken lässt" (ebd.),
dann stellt es eine Art "Überschuss" (ebd.)
dar, der mit seiner "Bedeutungswucherung" oder "Bedeutungsverknappung"
(Waldenfels
2006, S.30, zit. n.
ebd.)
die Sinnhorizonte seiner Leser durchaus sprengen kann.
Literarische Texte, die mit dem Konzept radikaler Fremdheit arbeiten,
etablieren mit ihrer Selbstbezüglichkeit ein in gewisser Hinsicht autonomes
Ordnungssystem, "in denen das Unsagbare zur Sprache kommt". Geschaffen wird
dadurch eine "Möglichkeitswelt", deren "schräger Blick auf die Welt" (Leskovec
(2010, S. 242.)
Ausdruck und Motor der Mehr- und Vieldeutigkeit solcher Texte ist, die sich
damit einer vereindeutigenden Sinnzuweisung entziehen können.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
15.10.2024
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