Kontexte
dienen der Bedeutungserzeugung bzw. Sinnkonstruktion
Viele ▪
Parabeln, insbesondere die ▪
modernen unter ihnen, bieten keine einfachen Zugänge zu ihrem
Verständnis. Sie wirken oft unverständlich, machen irgendwie keinen Sinn
oder wirken manchmal auch überaus trivial, dass man ihnen so, wie man
das bei anderen Texten gewöhnlich macht, einfach nicht beikommen kann.
Sie bleiben einem irgendwie fremd. Ob man diese ▪
Fremdheitserfahrungen überwinden kann und
den u. U. demotivierenden Erfahrungen
struktureller Fremdheit entgegenwirken kann, hängt neben anderen
Faktoren auch davon ab, ob man diese durch Kontexte und vielfältige
Kontextualisierungsbemühungen bewältigen kann. Und doch: Selbst wenn man
sich in dieser Weise anstrengt, kann es sein, dass die strukturelle
Fremdheitserfahrung von einem einzelnen Rezipienten nicht überwunden
werden kann.
Kontextualisierungsvorgänge sind, unabhängig davon, ob sie stets ein
angemessenes Textverständnis fördern oder nicht, Bestandteil aller
Verstehensprozesse beim ▪
Lesen.
Die ▪
antihermeutisch ausgerichtete ▪
kontextuelle Interpretationsmethode geht dabei so weit, dass sie jede
Interpretation für prinzipiell kontextgebunden und kontextabhängig sieht.
Für sie steht fest, dass Bedeutungserzeugung und Sinnkonstruktion von Texten
immer über Kontexte erfolgt und die ▪
hermeneutisch
ausgerichtete ▪
werkimmanente
Interpretationsmethode damit von grundsätzlich falschen
Voraussetzungen ausgeht.
Im Übrigen hat sich natürlich auch die Literaturdidaktik und die Praxis der
Textinterpretation in der Schule
schon
seit längerer Zeit von der "lupenreinen" werkimmanenten Interpretation,
sofern es sie je überhaupt so gegeben hat, verabschiedet.
Zu den ▪
Operationen bei der Textinterpretation
gehört die Kontextualisierung, z. B. durch das Entwickeln von
literaturgeschichtlichen, gattungsgeschichtlichen,
geistesgeschichtlichen, biographischen, politisch-sozialen Bezügen heute
nicht nur dazu, sondern soll auch Umgangsweisen mit literarischen
Texten einen Riegel vorschieben, welche die historischen Bezüge eines
dichterischen Werkes zugunsten einer verfehlten Vorstellung von "zeitloser Dichtung"
ausblenden. Zugleich soll damit
auch der Bedeutung entsprechenden Grundlagen- und Orientierungswissens für
das Verstehen literarischer Texte Rechnung getragen werden.
Das Konzept, mit der man den
Fehlorientierungen der werkimmanenten Interpretation dabei zu Leibe rückt,
ist die ▪
Kontextualisierung der werkimmanenten Interpretation, bei welcher der
literarische Text auf lokaler Textebene weiterhin werkimmanent und
strukturierend erschlossen werden soll, um im Anschluss daran, das gewonnene
Textverständnis unter Einbeziehung bestimmter inter- oder extratextueller
Kontexte auf seine Stichhaltigkeit und Konsistenz zu prüfen und ggf. mit den
aus den verschiedenen Kontexten gewonnenen Informationen zu bestätigen, zu
modifizieren, anzureichern und/oder zu erweitern.
Kognitionspsychologisch
gesehen spielen Kontexte bei allen
▪ Formen der Inferenzbildung beim ▪ Lesen
erzählender Texte eine Rolle. Zudem helfen sie auch, ▪
Erfahrungen alltäglicher
Fremdheit und ▪
struktureller Fremdheit zu überwinden, indem begriffliche Unklarheiten oder
Schwierigkeiten bei der Herstellung von Bedeutungszusammenhängen auf
Textebene durch Einbeziehung ihres textuellen Kontextes geklärt werden.
-
Das Gelesene
wird beim Lesen durch das vorhandene
deklarative und
prozedurale
Wissen
(z. B.
Weltwissen, aktives Wissen,
Erfahrungswissen,
Fachwissen,
Sprachwissen,
Gattungswissen,
Textmusterwissen,
thematisches Wissen) des Lesers kontextualisiert und damit "angereichert".
-
Die Erweiterung dieses Wissens kann aber auch das Ziel mehr oder weniger
geleiteter Kontextualisierungshandlungen sein. So kann man bisher nicht
Gekanntes historisches Kontextwissen über die Zeitumstände, in denen ein
Text entstanden ist, über den Autor bzw. die Autorin eines Textes oder auch
literaturwissenschaftliche Darstellungen zum Text oder zu seinem Thema
heranziehen, um damit die eigene Sinnkonstruktion zu erweitern und zu
vertiefen. Je nach Design der Aufgabe, als
Lern-,
Übungs- oder
Leistungsaufgabe, kann dieses Wissen in einem eigenverantwortlichen
Lernprozess von den Lernenden selbst recherchiert und herangezogen
werden, oder durch entsprechende Vorgaben gelenkt werden. Gelenkte
Kontextualisierungsaufgaben können dabei bei ansonsten
offenem Aufgabenformat als
Advance Organizer bzw.
Relevanzinstruktionen vor allem die intertextuelle und
extratextuelle
Inferenzbildung wirksam unterstützen.
Parabeln
sind ohne Rekontextualisierungs- und Kontextualisierungsprozesse nur
schwer verständlich
Viele
Parabeln erschließen sich dem Leser erst auf der Basis mehr oder
weniger umfangreicher Kontextualisierungsbemühungen. Dies gilt
insbesondere auch für Schülerinnen und Schüler, die sich mit den
verschiedenen ▪ Typen von Parabeln im
Unterricht beschäftigen.
-
Bei ▪ traditionellen didaktischen Parabeln
(z. B.
biblische Parabel,
Erbauungsparabeln, aufklärerischen Parabeln,
historisch-materialistisch orientierte Parabeln) müssen dabei
vor allem die historisch-sozialen Rahmenbedingungen
rekonstruiert werden, unter denen ihr didaktisches Konzept über
lange Zeit funktionierte. Dazu gehört die Rekonstruktion der
gesellschaftlichen und ideologischen Hintergründe für ihre ▪
hierarchischen Strukturierung der
literarischen Kommunikation von Erzähler und Leser und ihrer
▪ Themen.
Wer etwa über das überlieferte
christliche Menschen- und
Weltbild, in dem alle Dinge in einer gottgewollten Ordnung ihren
festen Platz haben wenig weiß, wird es ebenso schwer haben, zu einem
vertieften Textverständnis zu gelangen, wie jemand, dem die
Tatsache, dass das Leben bis ins 18. Jahrhundert hinein ohne
seinen »eschatologischen, auf das Jenseits gerichteten Daseinsbezug
nicht einmal denkbar gewesen ist, unbekannt ist. Nichts anderes
gilt im Übrigen für die ideologisch an der marxistischen
Gesellschaftslehre und dem historischen Materialismus
ausgerichteten traditionellen Parabeln der Moderne (z. B.
Parabeln von
»Bertolt Brecht (1898-1956),
»Günter Kunert (geb. 1926)
etc.)
-
Was für ▪ traditionelle didaktische
Parabeln gilt, trifft natürlich auch für ▪
moderne Parabeln zu, deren
Besonderheiten oft erst in intertextueller Abgrenzung von der ▪
als "Negativfolie" benutzten
traditionellen Parabel herausgearbeitet werden können und
bei aller Verschiedenheit gemeinsame Strukturen besitzen. Aber
wer mit der von ihnen immer wieder ▪
thematisierten "kosmologische(n) Obdachlosigkeit" (Yun
Mi Kim 2012, S.22) des "modernen" Menschen nichts anzufangen
weiß, weil sie einfach seinem Lebensgefühl nicht entspricht,
kann meist nur über mehr oder weniger aufwändige
Kontextualisierungsanstrengungen weiterkommen.
Die
literaturdidaktischen Konsequenzen aus allen diesen Überlegungen
sind so klar, wie schwer umzusetzen.
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Die Parabelinterpretation verlangt ein hohes Maß an
deklarativem und
prozeduralen
Wissen
(z. B.
Weltwissen, aktives Wissen,
Erfahrungswissen,
Fachwissen,
Sprachwissen,
Gattungswissen,
Textmusterwissen,
thematisches Wissen).
Dieses Wissen zu schaffen, verlangt einen langen Atem, und ist
natürlich nicht allein das Ergebnis der Auseinandersetzung mit
Texten dieser Art. Und: Defizite in diesen Bereichen lassen sich
auch mit einem noch so motivierenden Angebot von
Kontextmaterialien nur bedingt "abfedern". Gut zu wissen
allerdings, wenn man versteht, dass dieses Problem sich auch mit
verschiedenen ▪
komplexen
Lese- und Rezeptionsstrategien nur eingeschränkt gelöst
werden kann.
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Je
größer, vielgestaltiger und vernetzter dieses Wissen ist und je
häufiger es in ▪
eigenverantwortlichen, selbstregulierten Lernprozessen an
Beispielen erprobt, ▪ mit Prototypen
verglichen, in literarischen Anschlusskommunikationen
eingebracht werden kann, desto erfolgreicher, befriedigender,
offener und zugleich vertiefter werden die mentalen und
affektiven Verstehensprozesse ausfallen, die im
Literaturunterricht in Gang gebracht werden.
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Je
förderlicher das Lehr- und Lernklima im Literaturunterricht (▪
Scaffolding) gestaltet ist und dabei auch unterschiedliche ▪
Feedback-Prozesse (▪
Feedback geben, ▪
Feedback nehmen, Lehrer-,
Peer-Feedback) bei der Arbeit mit Parabeln trainiert und
integriert werden, desto größer wird die Bereitschaft der
Schülerinnen und Schüler sein, sich auf die ▪
Fremdheit der oft aus unterschiedlichen
Gründen verstörend wirkenden Texte einzulassen.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
18.07.2024
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