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Gattungen und
Gattungsbegriffe: Die Basics
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Gattungen unter sozial- und funktionsgeschichtlicher
Perspektive
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Gattungen und Gattungsbegriffe im
schulischen Literaturunterricht
▪ Kohärenzbildung über mentale Modelle, kognitive Schemata und literarische
Konventionen (Gattungen)
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Gattungsfragen spielen im
Literaturunterricht und bei ▪
Schreibaufgaben zu ihrer Interpretation, auch wenn die Art und
Weise, wie Gattungswissen, Gattungs- und/oder Textsortenmerkmale im
Literaturunterricht erworben werden sollen, in der Literaturdidaktik
durchaus strittig ist, eine bedeutende Rolle. Das gilt natürlich
auch für die lyrische Gattung des ▪ Liedes.
Dabei muss allerdings stets
beachtet werden, dass Gattungsfragen und -zuordnungen kein Selbstzweck
sind, sondern vor allem der Verständigung über Literatur dienen
sollten. In der Kommunikation
über Literatur müssen sie ihre Brauchbarkeit und ihren Nutzen für das
Erschließen und Verstehen von Texten immer wieder am konkreten
Beispieltext unter Beweis stellen. Dies kann dadurch geschehen, dass bestimmte Merkmale
nachgewiesen oder bestimmte Ähnlichkeiten konstruiert werden.
Entscheidend ist dabei vor allem, wie
die ▪ Arbeit mit vordefinierten Kategorien oder die Arbeit zur
Kategorisierung bestimmter Texte über Ähnlichkeiten (Familienähnlichkeiten) organisiert wird, welchen
Stellenwert gattungspoetische Kriterien in
den unterrichtlichen Lernprozessen haben und welche Bedeutung
Merkmalskatalogen bei Erschließungsprozessen von Literatur zugewiesen
werden.
Merkmals - und Prototypendidaktik als Wege zu literarischer
Kompetenz
Die Frage, welchen
Stellenwert ▪ Gattungsfragen im schulischen
Literarunterricht haben, ist schon lange umstritten und hat sich im
Zuge der ▪
Kompetenzorientierung des Literaturunterrichts noch verstärkt.
Im Grunde geht es um die Konkurrenz zweier Ansätze, die auf die
plakative Formel zu bringen ist: "Literaturwissenschaftsdidaktik
versus Literaturdidaktik" (Köster
2015, S.60 unter Bezugnahme auf
Pflugmacher
2014, S. 157f.)
Allerdings, dass
ist einzuräumen, trifft diese Formel heutzutage nur noch bedingt zu,
denn schließlich haben die ▪
kognitionspsychologischen Konzepte zur ▪
Repräsentation
▪
konzeptuellen Wissens wie die ▪
Idee der Familienähnlichkeit,
die ▪
Prototypikalität, der ▪
Exemplaransatz
(Exemplartheorie), ▪
semantische Netzwerke
und ▪ Schemata
auch in der "klassischen" Gattungstheorie ihre Spuren hinterlassen.
So plädiert z. B. Andreas
Böhn (1999, S.137) für einen an dem Prototypenkonzept
orientierten Sonettbegriff, der von der
Familienähnlichkeit
bestimmter Texte ausgeht und damit ein Feld von Texten beschreibt,
"innerhalb dessen zudem bestimmte
Prototypen als Attraktoren
fungieren, um die herum sich die Bezüge verdichten."
Die Ablehnung der
klassischen "Merkmal-Nachweis-Didaktik"
mit ihren von vorgegebenen Merkmallisten strukturierten Textarbeit
stützt sich dabei auf verschiedene Gesichtspunkte.
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Zunächst einmal
wird betont, dass ein solches Vorgehen den Blick auf das
Textganze verstellt und Merkmalkataloge in keiner Weise
abbilden, was kognitiv passiert, wenn man beim Lesen eines
Textes aus unterschiedlich repräsentierten Wissensbeständen
Ähnlichkeiten konstruiert.
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Solche
Ähnlichkeiten
werden nämlich global über den Vergleich eines bestimmten Textes mit anderen
Texten gebildet, an deren Themen, Inhalte, Strukturen, aber auch
Wirkungen man sich erinnert. Aus diesem Vergleich ergibt sich dann die
Vermutung, dass ein bestimmter Text zur gleichen Kategorie von Texten
gehört.
-
Macht ein Leser also eine neue Leseerfahrung, so die Annahme,
dann wird er den konkreten Text mehr oder weniger automatisch mit denen
vergleichen, die er schon gelesen hat und die Frage, zu welcher Gruppe
oder Art von Texten er gehört, über globale Erinnerungen, wie z. B. "Die
Geschichte erinnert mich an die andere Geschichte, in der es auch darum
geht." Natürlich sind solche Konstruktionen von Ähnlichkeiten, die sich
bei der individuellen Sinnfindung einstellen, sehr subjektiv und
sogar weitgehend arbiträr, weil sich schließlich alles irgendwie mit
allem vergleichen lässt. (vgl.
Köster 2015, S.65)
Die
Merkmale, auf die sich die Prototypendidaktik natürlich auch stützt,
sind demnach auch andere als die der ▪
klassischen Gattungsdidaktik. Sie sind
offen angelegt für
verschiedene Bedeutungskontexte, während der
klassifikatorische
Ansatz nach Eindeutigkeit und definitorischer Klarheit strebt und
insofern ein geschlossenes Konzept darstellt.
Idealerweise sind
prototypendidaktisch angelegte Lernprozesse, die zum Erwerb eines
das Sonett identifizierenden Gattungswissen führen in das umfassende
Konzept
literarischen Lernens (Kaspar H. Spinner) eingebettet. Dieses
geht weit über die isolierte unterrichtliche Behandlung einer
einzelnen lyrischen Form hinaus, indem es den Erwerb von
Gattungswissen über vielfältige Leseerfahrungen mit literarischen
Texten aller Art in einem Prozess
systematisch organisierter Lernprogression
ermöglicht.
Zugleich muss aber
auch betont werden, dass auch die Prototypendidaktik nur eine der
globalen Möglichkeiten darstellt, um Gattungswissen zu erwerben. Es
ist ein besonderer Weg, der eine ganze
Reihe von literaturdidaktischen Konsequenzen nach sich sicht.
Reflektierter Umgang mit Merkmalskatalogen
Alles in allem spielen ▪
Gattungsfragen im
Literaturunterricht und bei ▪
Schreibaufgaben zu ihrer Interpretation, auch wenn die Art und
Weise, wie Gattungswissen, Gattungs- und/oder Textsortenmerkmale im
Literaturunterricht erworben werden sollen, in der Literaturdidaktik
durchaus strittig ist, eine bedeutende Rolle.
Im
Leistungsraum
schulischen Lernens, vor allem in den höheren Jahrgangsstufen, bei
Klausuren und Prüfungen, dominieren vor allem die
wissenschaftsorientierten Ansätze, die "dem Erwerb einer verbindlichen
Beschreibungssprache verpflichtet" sind (Köster
2015, S.60).
Zum Erwerb einer
verbindlichen Beschreibungssprache, die nicht nur eine "rationale
und transparente Verständigung ermöglicht, sondern auch zum
Verfassen von Metatexten befähigt" (Köster
2015, S.60), stützt sich dabei auch auf Merkmalskataloge, die ein
hohes Transferpotenzial auf Texte besitzen. Außerdem lassen sich mit
ihrer Hilfe oft Wissen und Können auf unterschiedlichen
Kompetenzniveaus formulieren.
Daher ist es nichtnicht verwunderlich, dass auch ▪
normative Gattungskonzepte und der
▪ Umgang mit
historischen Gattungen und systematischen Gattungsbegriffen aus
literaturdidaktischen Gründen noch immer eine wichtige Rolle in der
Schule spielen, "weil sie den Diskurs im Handlungsfeld [Literatur,
d. Verf.] wesentlich bestimmen und ohne ihre Kenntnis eine souveräne
Teilhabe daran kaum möglich ist." (Abraham/Kepser
22006, S.34)
Zugleich macht die
Beschäftigung mit gattungstheoretischen Fragen auch deutlich, dass das
eigene Textverstehen nicht voraussetzungslos ist, die eigene "subjektive
Theorie", mit der jeder Rezipient an einen Text herangeht, oft sogar
Berührungspunkte mit wissenschaftlichen Theorien aufweist, die
lebensweltlich gewonnene konzeptuelle Deutungsmuster unter Umständen
sogar fundieren können. Zumindest jedoch können sie "neue bzw.
alternative Perspektiven auf literarische Texte" aufzeigen und dabei
helfen, die Dinge komplexer als zuvor zu sehen. (Köppe/Winko (2008,
S.2)
Es macht daher auch
wenig Sinn, klassifikatorische Ansätze von vornherein zu verwerfen.
Solange die abstrahierten Merkmale als Hilfsmittel zur Analyse und
als "Ordnungsprinzip, ohne das wissenschaftliche Aussagen sinnlos
wären" (Müller-Dyes 1996, S. 326f.)
angesehen werden, ist gegen einen reflektierten Umgang damit auch
nichts einzuwenden. Schließlich kann auch dieses Vorgehen im Umgang
mit Sonettenzum Erwerb ▪
literarischer Kompetenz
beitragen.
Ein
nicht-normatives
Gattungskonzept versteht sich hingegen eindeutig kommunikationsorientiert,
betont "den historischen Charakter literarischer Gattungen im
Sinne soziokultureller Konventionen." (Voßkamp 1992, S.253) und orientiert sich an struktur-,
sozial- und funktionsgeschichtlichen Kontexten.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
27.02.2022
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