▪
Gattungen und
Gattungsbegriffe: Die Basics
▪
Gattungen unter sozial- und funktionsgeschichtlicher
Perspektive
▪
Gattungen und Gattungsbegriffe im
schulischen Literaturunterricht
▪ Kohärenzbildung über mentale Modelle, kognitive Schemata und literarische
Konventionen (Gattungen)
Die Behandlung von
▪ Sonetten im Literaturunterricht der Schule
beschränkt sich meist auf die ▪
Literaturepoche
des ▪
Barock (1600-1720), in der sich die ▪
Liebeslyrik und die ▪
Vanitas-Dichtung gleichermaßen vor allem der Sonettform
bedienen. Der Aufbau von Gattungswissen zum Sonett orientiert sich
dabei an einem historisch bedingten Formtyp, der selbst in seiner
Zeit nicht so in Stein gemeißelt war, wie dies oft auch die übliche
Auswahl von Sonetten für den Unterricht nahelegt. Und oft genug
geschieht dies auch, ohne dass die Historizität der
Merkmalkategorien reflektiert wird.
Alles in allem aber spielen ▪
Gattungsfragen im
Literaturunterricht und bei ▪
Schreibaufgaben zu ihrer Interpretation, auch wenn die Art und
Weise, wie Gattungswissen, Gattungs- und/oder Textsortenmerkmale im
Literaturunterricht erworben werden sollen, in der Literaturdidaktik
durchaus strittig ist, eine bedeutende Rolle.
Gerade beim Sonett,
das lange als eine überzeitliche geschlossene Form verstanden wurde,
ist ein ausgrenzendes Gattungsverständnis, die Kehrseite einer
normativen Festlegung, aber genauso wenig hilfreich, wie das
Abziehbild des Sonetts, das nur an einer bestimmten historischen
Ausprägung der Form gewonnen wird. Merkmale wie Reimarten, metrische
Versgestaltung, die Strophenform mit ihrer Zweiteilung in Quartette
bzw. Oktett und Terzette bzw. Sextett sowie die rhetorische
Grundhaltung und die antithetische innere Struktur, wie sie an der
weitgehend ähnlichen Auswahl von Gedichten feststellbar sind, werden
oft zu einem normativen Bündel von Merkmalen geschürt, die bei ▪
Schreibaufgaben zu ihrer Interpretation
oft dazu führt, dass vor allem diese abstrahierten Merkmale an einem
bestimmten Text nachgewiesen werden. In der Konsequenz wird das
barocke Sonett, sofern man überhaupt davon sprechen kann, zum
Idealtyp des Sonetts schlechthin. Diese Idealtypfixierung bleibt
aber im Zusammenhang mit der unterrichtlichen Behandlung des Sonetts
selbst dann problematisch, wenn im Zuge einer ▪
kontextualisierten werkimmanenten Interpretation auch
verschiedene Kontexte zur Deutung herangezogen werden. Durch die
Hintertüre winkt dabei, allerdings in dekontextualisierter Form, die
▪
romantische Sonett-Theorie ▪
August Wilhelm Schlegels
(1767-1845), der das
Sonett zur idealen lyrischen Form stilisierte, indem er die formale Gliederung des
Sonetts in Quartette und Terzette dialektisch ausdeutete. (vgl.
Borgstedt
2007a, S.448)
Gedächtsnisraum und intertextuelles Verweisnetzwerk
Die weitere
Gattungsgeschichte und ihr "dichtes intertextuelles
Verweisnetzwerk" (Jordan
2008, S.49). in dem "häufig auf Traditionen der Gattung
angespielt und in Sonetten über das Sonett die eigene Struktur
reflektiert (wird)" (ebd.),
bleibt dabei in der Regel außen vor. Ähnliches gilt auch für bestimmte Kontexte,
die sich entweder nicht so leicht und plausibel auf die Deutung
eines einzelnen Textes anwenden lassen oder auf den Kontext des
Sonettzyklus angewiesen sind und ihre "ganze Sonettbücher
organisierenden Kompositionsprinzipien" (Kaminski
1998, S.54, vgl.
Meid
2008, S.102).
Wie bei allen
mehrdeutigen literarischen Texten aber auch, gibt es eben auch für
Sonette unterschiedliche Lesarten.
Dies gilt
gleichermaßen für die jeweils zeitgenössische Rezeption. So ist
natürlich davon auszugehen, dass zum Beispiel im ▪
Barock (1600-1720) viele Rezipient*innen bei der öffentlichen
Rezitation der Texte in höfischer Gesellschaft die ausgeklügelte
Zahlenkomposition, die den »Lissaer
Sonetten von ▪ Andreas
Gryphius (1616-1664) zugrundeliegt (vgl.
Kaminski 1998, S.60f..), nicht bewusst gewesen ist. In der
gelehrten Rezeption der Texte ist dies hingegen anders, weil den
Gelehrten die aus dem Mittelalter stammende Zahlenallegorese sicher
geläufig war. Ebenso wird es für die gelehrten Leser auch ein
Leichtes gewesen sein, ihren heilsgeschichtlichen Zusammenhang der
Sonette aufgrund ihrer Kenntnis des Gesamtwerkes problemlos
herzustellen. (vgl.
Meid
2008, S.102).
Viele werden
Sonette wohl aber auch nur dann als "gut und schön" geschätzt haben,
"wenn sie – als in sich gerundete Gebilde – aus ihrem Zusammenhang
isoliert werden" konnten. Mit Sonetten, die nur im Zusammenhang
verständlich" waren, konnten sicher auch viele nichts anfangen (Mönch
1955, S.38). Daraus allerdings abzuleiten,
"Geschlossenheit und Selbständigkeit" (ebd.,
S.39) sei grundsätzlich eines der wesentlichen Merkmale eines
Sonetts, schießt freilich über das Ziel hinaus.
Wenn im Unterricht
lediglich Sonette aus einer bestimmten Literaturepoche behandelt
werden, kann dies zu einem ahistorischen und normativen
Gattungsverständnis führen und das selbst dann, wenn im Zuge einer ▪
kontextualisierten werkimmanenten Interpretation auch
verschiedene Kontexte zur Deutung herangezogen werden. Dieser Effekt
ist um so größer, wenn, wie im Falle des Sonetts, leicht der
Anschein erweckt werden kann, es bilde einen überzeitlichen Bezug
von Form und Inhalt in geradezu mustergültiger Weise ab. Durch die
Hintertüre kommt dabei, allerdings in dekontextualisierter Form, die
▪
romantische Sonett-Theorie ▪
August Wilhelm Schlegels
(1767-1845) wieder zum Vorschein, der das
Sonett zur idealen lyrischen Form stilisierte, indem er die formale Gliederung des
Sonetts in Quartette und Terzette dialektisch ausdeutete. (vgl.
Borgstedt
2007a, S.448)
Blickt man bei der
Sonettdichtung über die ▪
Literaturepoche
des ▪
Barock (1600-1720) mit der ▪
petrakistischen Liebeslyrik und der ▪
Vanitas-Dichtung hinaus, kann damit auch die Entwicklung der
Gattung sehr interessante Aspekte zur Behandlung von Sonetten im
Literaturunterricht bereithalten. Richtet sich die Aufmerksamkeit
darauf, kann nämlich ein über mehrere Jahrhunderte hinweg intertextuell
eingeschriebene "Gedächtnisraum" der Gattung sichtbar
werden. Dieser "Gedächtnisraum" ist als ein Katalog
thematischer und struktureller Topoi zu verstehen, auf die
Sonettisten, wie man die Produzent*innen der Gattung nennt, über
Jahrhunderte hinweg bis in unsere Gegenwart zurückgegriffen haben
Denn: "Wer ein Sonett schreibt, stellt sich [...] bewusst in eine
starke Traditionslinie und kann und will nicht erwarten, dass von
dieser abstrahiert wird. Die Verwendung des Sonetts ist fast von
Beginn an – spätestens seit Dante und Petrarca – immer auch in hohem
Maße explizites Formzitat und bis heute hat sich daran nichts
geändert." (Jordan
2008,
S.49f.)
Allerdings ist es
im Literaturunterricht der Schule wohl nur in einem sehr
eingeschränkten Maße möglich, den "Gedächtnisraum" des Sonetts im
Sinne einer diachronen Betrachtung der Gattungsgeschichte zu
erschließen. Wo der Versuch gemacht wird, muss allerdings stets
beachtet werden, dass Gattungsfragen und -zuordnungen
nie Selbstzweck, sondern sollten
vor allem der Verständigung über Literatur dienen. In der Kommunikation
über Literatur müssen sie ihre Brauchbarkeit und ihren Nutzen für das
Erschließen und Verstehen von Texten immer wieder am konkreten
Beispieltext unter Beweis stellen, sei es, indem sie bestimmte Merkmale
nachweisen, sei es durch Konstruktion von Ähnlichkeiten. Entscheidend ist dabei vor allem, wie
die ▪ Arbeit mit vordefinierten Kategorien oder die Arbeit zur
Kategorisierung bestimmter Texte über Ähnlichkeiten (Familienähnlichkeiten) organisiert wird, welchen
Stellenwert gattungspoetische Kriterien in
den unterrichtlichen Lernprozessen haben und welche Bedeutung
Merkmalskatalogen bei Erschließungsprozessen von Literatur zugewiesen
werden.
Merkmals - und Prototypendidaktik als Wege zu literarischer
Kompetenz
Die Frage, welchen
Stellenwert ▪ Gattungsfragen im schulischen
Literarunterricht haben, ist schon lange umstritten und hat sich im
Zuge der ▪
Kompetenzorientierung des Literaturunterrichts noch verstärkt.
Im Grunde geht es um die Konkurrenz zweier Ansätze, die auf die
plakative Formel zu bringen ist: "Literaturwissenschaftsdidaktik
versus Literaturdidaktik" (Köster
2015, S.60 unter Bezugnahme auf
Pflugmacher
2014, S. 157f.)
Allerdings, dass
ist einzuräumen, trifft diese Formel heutzutage nur noch bedingt zu,
denn schließlich haben die ▪
kognitionspsychologischen Konzepte zur ▪
Repräsentation
▪
konzeptuellen Wissens wie die ▪
Idee der Familienähnlichkeit,
die ▪
Prototypikalität, der ▪
Exemplaransatz
(Exemplartheorie), ▪
semantische Netzwerke
und ▪ Schemata
auch in der "klassischen" Gattungstheorie ihre Spuren hinterlassen.
So plädiert z. B. Andreas
Böhn (1999, S.137) für einen an dem Prototypenkonzept
orientierten Sonettbegriff, der von der
Familienähnlichkeit
bestimmter Texte ausgeht und damit ein Feld von Texten beschreibt,
"innerhalb dessen zudem bestimmte
Prototypen als Attraktoren
fungieren, um die herum sich die Bezüge verdichten."
Die Ablehnung der
klassischen "Merkmal-Nachweis-Didaktik"
mit ihren von vorgegebenen Merkmallisten strukturierten Textarbeit
stützt sich dabei auf verschiedene Gesichtspunkte.
-
Zunächst einmal
wird betont, dass ein solches Vorgehen den Blick auf das
Textganze verstellt und Merkmalkataloge in keiner Weise
abbilden, was kognitiv passiert, wenn man beim Lesen eines
Textes aus unterschiedlich repräsentierten Wissensbeständen
Ähnlichkeiten konstruiert.
-
Solche
Ähnlichkeiten
werden nämlich global über den Vergleich eines bestimmten Textes mit anderen
Texten gebildet, an deren Themen, Inhalte, Strukturen, aber auch
Wirkungen man sich erinnert. Aus diesem Vergleich ergibt sich dann die
Vermutung, dass ein bestimmter Text zur gleichen Kategorie von Texten
gehört.
-
Macht ein Leser also eine neue Leseerfahrung, so die Annahme,
dann wird er den konkreten Text mehr oder weniger automatisch mit denen
vergleichen, die er schon gelesen hat und die Frage, zu welcher Gruppe
oder Art von Texten er gehört, über globale Erinnerungen, wie z. B. "Die
Geschichte erinnert mich an die andere Geschichte, in der es auch darum
geht." Natürlich sind solche Konstruktionen von Ähnlichkeiten, die sich
bei der individuellen Sinnfindung einstellen, sehr subjektiv und
sogar weitgehend arbiträr, weil sich schließlich alles irgendwie mit
allem vergleichen lässt. (vgl.
Köster 2015, S.65)
Die
Merkmale, auf die sich die Prototypendidaktik natürlich auch stützt,
sind demnach auch andere als die der ▪
klassischen Gattungsdidaktik. Sie sind
offen angelegt für
verschiedene Bedeutungskontexte, während der
klassifikatorische
Ansatz nach Eindeutigkeit und definitorischer Klarheit strebt und
insofern ein geschlossenes Konzept darstellt.
Idealerweise sind
prototypendidaktisch angelegte Lernprozesse, die zum Erwerb eines
das Sonett identifizierenden Gattungswissen führen in das umfassende
Konzept
literarischen Lernens (Kaspar H. Spinner) eingebettet. Dieses
geht weit über die isolierte unterrichtliche Behandlung einer
einzelnen lyrischen Form hinaus, indem es den Erwerb von
Gattungswissen über vielfältige Leseerfahrungen mit literarischen
Texten aller Art in einem Prozess
systematisch organisierter Lernprogression
ermöglicht.
Zugleich muss aber
auch betont werden, dass auch die Prototypendidaktik nur eine der
globalen Möglichkeiten darstellt, um Gattungswissen zu erwerben. Es
ist ein besonderer Weg, der eine ganze
Reihe von literaturdidaktischen Konsequenzen nach sich sicht.
Reflektierter Umgang mit Merkmalskatalogen
Alles in allem spielen ▪
Gattungsfragen im
Literaturunterricht und bei ▪
Schreibaufgaben zu ihrer Interpretation, auch wenn die Art und
Weise, wie Gattungswissen, Gattungs- und/oder Textsortenmerkmale im
Literaturunterricht erworben werden sollen, in der Literaturdidaktik
durchaus strittig ist, eine bedeutende Rolle.
Im
Leistungsraum
schulischen Lernens, vor allem in den höheren Jahrgangsstufen, bei
Klausuren und Prüfungen, dominieren vor allem die
wissenschaftsorientierten Ansätze, die "dem Erwerb einer verbindlichen
Beschreibungssprache verpflichtet" sind (Köster
2015, S.60).
Zum Erwerb einer
verbindlichen Beschreibungssprache, die nicht nur eine "rationale
und transparente Verständigung ermöglicht, sondern auch zum
Verfassen von Metatexten befähigt" (Köster
2015, S.60), stützt sich dabei auch auf Merkmalskataloge, die ein
hohes Transferpotenzial auf Texte besitzen. Außerdem lassen sich mit
ihrer Hilfe oft Wissen und Können auf unterschiedlichen
Kompetenzniveaus formulieren.
Daher ist es nichtnicht verwunderlich, dass auch ▪
normative Gattungskonzepte und der
▪ Umgang mit
historischen Gattungen und systematischen Gattungsbegriffen aus
literaturdidaktischen Gründen noch immer eine wichtige Rolle in der
Schule spielen, "weil sie den Diskurs im Handlungsfeld [Literatur,
d. Verf.] wesentlich bestimmen und ohne ihre Kenntnis eine souveräne
Teilhabe daran kaum möglich ist." (Abraham/Kepser
22006, S.34)
Zugleich macht die
Beschäftigung mit gattungstheoretischen Fragen auch deutlich, dass das
eigene Textverstehen nicht voraussetzungslos ist, die eigene "subjektive
Theorie", mit der jeder Rezipient an einen Text herangeht, oft sogar
Berührungspunkte mit wissenschaftlichen Theorien aufweist, die
lebensweltlich gewonnene konzeptuelle Deutungsmuster unter Umständen
sogar fundieren können. Zumindest jedoch können sie "neue bzw.
alternative Perspektiven auf literarische Texte" aufzeigen und dabei
helfen, die Dinge komplexer als zuvor zu sehen. (Köppe/Winko (2008,
S.2)
Es macht daher auch
wenig Sinn, klassifikatorische Ansätze von vornherein zu verwerfen.
Solange die abstrahierten Merkmale als Hilfsmittel zur Analyse und
als "Ordnungsprinzip, ohne das wissenschaftliche Aussagen sinnlos
wären" (Müller-Dyes 1996, S. 326f.)
angesehen werden, ist gegen einen reflektierten Umgang damit auch
nichts einzuwenden. Schließlich kann auch dieses Vorgehen im Umgang
mit Sonettenzum Erwerb ▪
literarischer Kompetenz
beitragen.
Ein
nicht-normatives
Gattungskonzept versteht sich hingegen eindeutig kommunikationsorientiert,
betont "den historischen Charakter literarischer Gattungen im
Sinne soziokultureller Konventionen." (Voßkamp 1992, S.253) und orientiert sich an struktur-,
sozial- und funktionsgeschichtlichen Kontexten.
Auch die "neuesten
Entwicklungen in der Sonettforschung (haben) zu einem flexiblen und
kommunikativ orientierten Formverständnis geführt." (Jordan
2008, S.42) Grundlegend ist dabei die Erkenntnis, "dass die
festen Regeln, die in normativen Theorie propagiert werden, in der
sonettistischen Praxis nicht bestätigt, sondern – im Gegenteil –
widerlegt werden." (ebd.,
S.38, dort Bezug auf
Greber
1994, S.57f.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
22.12.2021
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