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Mainzer Republik 1792/1793
Die Revolution ist – vorausgesetzt, dass sie nach unserer generalisierten
Definition lüstern sind – die Revolution.[...]
Die öffentliche Meinung ist also bei uns in Absicht auf die Natur der
Revolution jetzt so weit im klaren, dass man es für Wahnsinn halten würde,
ihr Einhalt tun oder Grenzpfähle stecken zu wollen. Eine Naturerscheinung,
die zu selten ist, als dass wir ihre eigentlichen Gesetze kennen sollten,
lässt sich nicht nach Vernunftregeln einschränken und bestimmen, sondern
muss ihren freien Lauf behalten. Etwas ganz anderes, ganz davon Unabhängiges
ist es aber, dass diejenigen, die von diesem Strudel ergriffen sind, ihr
eigenes Betragen nach wie vor vernunftgemäß einzurichten suchen. [...]
Seitdem man bei uns die
Revolution als eine neue unaufhaltsame Schwungkraft anzusehen gelernt
hat, haben sich viele von ihren Gegnern wieder mit ihr
ausgesöhnt; [...] Das neulich erlassene Dekret des Nationalkonvents, dass
die Regierung in Frankreich bis zum Frieden revolutionär bleiben soll1,
ist der eigentlichste Ausdruck der öffentlichen Meinung, dass die Revolution
sich so lange fortwälzen müsse, bis ihre bewegende Kraft ganz aufgewendet
sein wird.
Diese bewegende Kraft ist allerdings nichts rein Intellektuelles, nichts
rein Vernünftiges; sie ist die rohe Kraft der Menge. Insofern, wie Vernunft
ein vom Menschen unzertrennliches Prädikat ist, insofern hat sie freilich
auf die Revolution ihren Einfluss, wirkt mit in ihre Bewegung und bestimmt
zum Teil die Richtung; aber präponderieren2
kann sie sie nicht, und wenn – wie wir doch nicht in Abrede sein wollen? –
die Revolution einmal im Rate der Götter beschlossen war, durfte sie es auch
nicht, weil ihre Präponderanz3
an und für sich nur die Revolution hemmen, nie sie treiben und vollenden
kann. Ich würde sie die echte vim inertiae4
nennen, wenn ich es mit einem Physiker zu tun hätte; denn einmal überwunden
von der Stoßkraft, dürfte dennoch in ihr selbst der Grund jener langen Dauer
liegen, womit die Revolutionsbewegung so manchen unerfahrenen Beobachter in
Erstaunen setzte.
Als Necker5 dieses große, nicht zu
berechnende Mobil der Volkskraft anregte, wusste er nicht, was er tat. Die
ersten Anfänge der Bewegung waren aber wegen des Umfangs, der Masse und des
Gewichts so unmerklich, dass Klügere als er sich täuschten und diese
Triebfeder umspannen zu können sich vermaßen. Allein bald entwand sie sich
aus ihren ohnmächtigen Händen! – Es entstand ein chaotisches Ringen der
Elemente; es erfolgten die heftigsten Konvulsionen, die furchtbarsten
Erschütterungen. Kleinere gegenstrebende Bewegungen wurden von den größeren,
allgemeineren verschlungen; so gab es denn eine gleichartige Bewegung, oder
mit anderen Worten: der Wille des Volks hat seine höchste Beweglichkeit
erlangt, und die große Lichtmasse der Vernunft, die immer noch vorhanden
ist, wirft ihre Strahlen in der von ihm verstatteten Richtung. [...]
Die Erscheinungen unter dem Joche des Despotismus können denen, die sich
während einer republikanischen Revolution ereignen, sehr ähnlich sehen und
die letzteren sogar einen Anstrich von Fühllosigkeit und Grausamkeit haben,
den man dort wohl hinter einer sanfteren Larve zu verbergen weiß; doch sind
sie schon um deswillen himmelweit verschieden, weil sie durch ganz
verschiedenartige Kräfte bewirkt werden und von der öffentlichen Meinung
selbst einen ganz verschiedenen Stempel erhalten. Eine Ungerechtigkeit
verliert ihr Empörendes, ihr Gewalttätiges, ihr Willkürliches, wenn die
öffentliche Volksmeinung, die als Schiedsrichterin unumschränkt in letzter
Instanz entscheidet, dem Gesetze der Notwendigkeit huldigt, das jene
Handlung oder Verordnung oder Maßregel hervorrief.
*
»Georg
Forster (1754-1794), Schriftsteller, Naturkundler und
Ethnograph. Sein Werk »Reise um die Welt (1778-1780)« ist ein
Klassiker der deutschen Reiseliteratur; zwischen 1772 und 1775
gemeinsam mit seinem Vater Teilnahme an der zweiten Weltumsegelung von James
Cook; 1785 Heirat mit Therese Huber, eine der ersten freien
Schriftstellerinnen deutscher Sprache; von 1778 bis 1784 Professor in
Kassel, danach in Wilna (1784-1788), anschließend
Universitätsbibliothekar im Kurfürstentum Mainz; begeistert von den Idealen
der Französischen Revolution 1790 Reise mit Humboldt durch die Niederlande,
Großbritannien und Frankreich; nach der Besetzung von Mainz (Mainzer
Republik 1792/93)durch französische Truppen am 21. Oktober 1792 Mitglied
des Mainzer Jakobinerklubs; ein Jahr stellvertretender Vorsitz im
Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent; aus dieser Zeit zahlreiche Reden,
Flugschriften und Pamphlete in der Zeitung »Der Volksfreund«; nach der
Rückeroberung von Mainz durch die preußische Armee unter Reichsacht und
konnte daher nicht mehr in die Stadt zurückkehren; stirbt politisch isoliert
und verarmt am 12. Januar 1794 in Paris.
1 Gemeint ist hier
der Beschluss des Konvents vom 5. September 1793, mit dem die eigentliche
Terrorherrschaft während der
französischen Revolution beginnt (Terreur)
2 präponderieren:
überwiegen;
3 Präponderanz:
Übergewicht (z.B. eines Staates)
4 vim inertiae:
5 Necker, Jacques
(1732-1804), französischer Finanzier und Staatsmann; 1776 als Nachfolger des
französischen Finanzministers Turgot führte er eine Reihe von Finanzreformen
durch, um ein gerechteres Besteuerungssystem zu begründen und die
Verschuldung der Zentralregierung zu reduzieren; 1788 erneut Finanzminister;
schlug dem König 1789 vor, die Generalstände (États généraux) einzuberufen,
die seit dem Jahr 1614 nicht mehr zusammengetreten waren; Weil die
Generalstände verschiedene radikale Vorschläge annahm, wurde Necker erneut
von Ludwig XVI. entlassen; Dies war der unmittelbare Anlass für den Sturm
auf die Bastille durch die aufgebrachte Bevölkerung von Paris am 14. Juli
1789. Bald darauf wurde Necker erneut vom König berufen, aber er konnte die
Krise nicht lösen, trat im September 1790 zurück und lebte auf seinem
Landgut in Coppet in der Schweiz im Ruhestand. (nach: Microsoft(R) Encarta(R)
99 Enzyklopädie. (c) 1993-1998)
(in:
Garber, Jörn (Hg.) 1974
S.2ff.)