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Bausteine: John Berger, Eine Frage des Platzes

Texterfassung

 
FAChbereich Deutsch
Center-Map Glossar Literatur  ● Autorinnen und Autoren John Berger [ ● Ein Frage des Platzes Bausteine ◄ ... ] Schreibformen Operatoren im Fach Deutsch

 

Über die Stirn der Kuh zieht der Sohn eine schwarze Ledermaske und bindet sie an den Hörnern fest. Das Leder ist vom Gebrauch schwarz geworden. Die Kuh kann nichts sehen. Zum ersten Mal hat man eine plötzliche Nacht über ihre Augen gebreitet. In weniger als einer Minute wird sie wieder aufgehoben, wenn die Kuh tot ist. Während eines Jahres sorgt die Maske auf dem zehn Schritt langen Weg zwischen Hungerstall und Schlachthaus für zwanzig Stunden Nacht.

Erzähler erzählt scheinbar "neutral" die Wirkungsweise der schwarzen Ledermaske, wobei er allerdings die Perspektive der Kuh selbst wählt, über die plötzliche Nacht kommt.
Die große Anzahl der in einem Jahr vorgenommenen Schlachtungen wird nur indirekt vermittelt (1 Minute - 20 Stunden Nacht)

Das Schlachthaus wird betrieben von einem alten Mann, seiner Frau, die fünfzehn Jahre jünger ist, und ihrem Sohn, der achtundzwanzig ist.

 

Da sie nichts sehen kann, bewegt sich die Kuh widerstrebend, aber der Sohn zieht den Strick um ihre Hörner, die Mutter folgt und hält den Schwanz der Kuh.

 

"Wenn ich sie behalten hätte", sagt der Bauer zu sich selbst Bauer zu sich selbst, "in zwei Monaten würde sie kalben. Wir hätten sie nicht mehr melken können. Und nach der Geburt hätte sie Gewicht verloren. Jetzt ist der beste Moment." zu sich selbst, "in zwei Monaten würde sie kalben. Wir hätten sie nicht mehr melken können. Und nach der Geburt hätte sie Gewicht verloren. Jetzt ist der beste Moment."

Bauer spricht nur mit sich selbst (keine sprachliche Kommunikation unter den Beteiligten)

Am Tor zum Schlachthaus sträubt sich die Kuh wieder. Lässt sich dann hineinziehen.
Drinnen, hoch oben unter dem Dach, ist ein System von Schienen. Auf den Schienen laufen Räder und von jedem Rad hängt eine Stange mit einem Haken am Ende herab. An diesem Haken aufgehängt, kann ein Pferdekadaver von vierhundert Kilogramm von einem Vierzehnjährigen geschoben oder gezogen werden.

statt sich der Todesangst des Tieres zuzuwenden, beschreibt der Erzähler technische Details der Schlachthausausstattung!

Der Sohn setzt der Kuh den Federbolzen an den Kopf. Eine Maske macht bei Hinrichtungen das Opfer passiver und schützt den Henker vor dem letzten Blick aus den Augen des Opfers. Hier gewährleistet die Maske, dass die Kuh den Kopf nicht vom Bolzen wegdreht, der sie betäubt.
Die Beine knicken ein und der Körper sackt im selben Moment zusammen. Wenn ein Viadukt birst, scheint das Mauerwerk - aus der Entfernung gesehen - langsam in das Tal hinabzufallen. Genauso die Wand eines Gebäudes, im Anschluss an eine Explosion. Aber die Kuh stürzte so schnell wie der Blitz nieder. Es war nicht Zement, was ihren Körper zusammenhielt, es war Energie.

Die "Hinrichtung der Kuh"
- Vergleich zwischen Hinrichtung von Schwerverbrechern und "Hinrichtung" der Kuh

- Vergleich zwischen der Zerstörung "toter" Materie und bioenergetischer Masse

= Erzähler versucht das Geschehen weiterhin distanziert zu sehen, meldet sich aber auch eindeutig zu Wort.

"Warum haben sie sie gestern nicht geschlachtet?" sagt der Bauer zu sich selbst. Bauer zu sich selbst.

s.o. fungiert quasi als Einschub in die Beschreibung des Tötungsvorganges

Der Sohn treibt eine Metallfeder durch das Loch im Schädel in das Hirn der Kuh. Sie geht fast zwanzig Zentimeter hinein. Er lässt sie vibrieren, damit sich auch wirklich alle Muskeln des Tieres entspannen, dann zieht er sie heraus. Die Mutter hält das obenliegende Vorderbein mit beiden Händen am Hufhaar fest. Der Sohn macht den Einschnitt am Hals und das Blut fließt heraus auf den Boden. Einen Moment lang nimmt es die Gestalt eines gewaltigen samtenen Rockes an, dessen winziger Bund der Wundrand ist. Dann fließt es weiter, mit nichts mehr vergleichbar.
Leben ist flüssig. Die Chinesen irrten in der Annahme, das Wesentliche sei der Atem. Die Seele ist vielleicht der Atem. Die rosigen Nüstern der Kuh zittern noch. Das Auge starrt sichtlos und die Zunge fällt ihr seitlich aus dem Maul

quasi technische Beschreibung der endgültigen Tötung des Tieres unter den Bedingungen der Fleischverwertung (Muskelentspannung)

beschönigender Vergleich als Mittel, um innere Distanzierung zu bewahren; Blut als Symbol des Lebens, Verbluten = Tod

Reflexion des Erzählers an der Schwelle zum Exitus

 

Wenn die Zunge herausgeschnitten Zunge herausgeschnitten wird, wird sie neben den Kopf und die Leber gehängt. Alle Köpfe, Zungen und Lebern hängen zusammen in einer Reihe. Die Kiefer klaffen offen, zungenlos, und jede der runden Zahnreihen ist ein wenig mit Blut verschmiert, als hätte das Drama damit begonnen, dass ein Tier, das kein Raubtier war, anfing, Fleisch zu fressen. Auf dem Betonfußboden unter den Lebern sind Flecken von hellem, zinnoberrotem Blut, der Farbe von Mohn beim ersten Erblühen, bevor sie sich zu Karmesin vertieft.
Aufbegehrend, zweifach im Stich gelassen von Blut und Hirn, krümmt sich der Körper der Kuh mit Gewalt und die Hinterbeine stoßen in die Luft. Es ist verwunderlich, dass ein großes Tier so schnell stirbt wie ein kleines.

beginnende Zerteilung der Kuh, Hinweis auf Tötung vieler anderer Tiere, Verlust der Singularität des Geschehens, Tier wird zum Fleisch!




Tod und Leben in einem Bild!

Die Mutter lässt das Vorderbein los - als wäre der Puls nun zum Zählen zu schwach -, und schlaff fällt es gegen den Körper. Der Sohn fängt an, das Fell um die Hörner wegzuschneiden. Der Sohn hat das Tempo vom Vater gelernt, doch nun sind die Bewegungen des alten Mannes langsam. Bedächtig zerlegt der Vater hinten im Schlachthaus ein Pferd in zwei Teile.
Zwischen
Mutter und Sohn herrscht Komplizenschaft. Wortlos stimmen sie ihre Arbeit aufeinander ab. Gelegentlich werfen sie sich einen Blick zu, ohne zu lächeln, doch mit Verständnis. Sie holt einen vierrädrigen Karren, ähnlich einer verlängerten, sehr großen Lore im Tagbau. Er schlitzt jedes Hinterbein mit einem einzigen Schnitt seines winzigen Messers auf und steckt die Haken hinein. Sie drückt den Knopf und setzt den elektrischen Hebezug in Gang. Der Kadaver der Kuh wird hochgezogen, hängt über beiden, wird auf dem Rücken in den Wagen gesenkt. Gemeinsam schieben sie den Wagen vorwärts.
Sie arbeiten wie Schneider. Unter dem Fell ist die Haut weiß. Sie öffnen das Fell vom Hals bis zum Schwanz, so dass es zu einem aufgeknöpften Mantel wird.

im Gegensatz zum "schnellen Tod" der Kuh nun deutliche Verlangsamung

Vater zerlegt, ohne Notiz von dem Vorgang zu nehmen, ein Pferd

Erzähler nimmt Partei (Komplize!)

  

  



Vergleich verliert jeden Bezug zum Lebewesen

Der Bauer, dem die Kuh gehört, kommt zum Wagen herüber, um zu zeigen, warum sie geschlachtet werden musste; zwei ihrer Zitzen waren in Verwesung übergegangen und es war unmöglich, die Kuh zu melken. Er nimmt eine Zitze in die Hand. Sie ist so warm im Stall, als er sie molk. Die Mutter und der Sohn hören ihm zu, nicken, geben aber keine Antwort und halten in der Arbeit nicht inne.

Bauer muss die Tötung als eine Art Notschlachtung vor sich legitimieren

Der Sohn löst die vier Hufe aus, dreht sie ab und wirft sie in eine Schubkarre. Die Mutter entfernt das Euter. Dann zerhackt der Sohn durch den Schnitt im Fell hindurch das Brustbein. Es ähnelt dem letzen Beilhieb gegen einen Baum, bevor er fällt, denn von diesem Moment an wandelt sich die Kuh, nun kein Tier mehr, zu Fleisch, gerade so wie sich der Baum zu Holz verwandelt.
Der
Vater lässt von seinem Pferd ab und schlurft quer durch das Schlachthaus, um hinauszugehen und zu pinkeln. Das macht er jeden Morgen drei- oder viermal. Wenn er in anderer Absicht geht, geht er rüstiger. Doch ist es schwer zu sagen, ob er jetzt wegen des Drucks auf seiner Blase schlurft oder um seine sehr viel jüngere Frau daran zu erinnern, dass sein Alter vielleicht kläglich ist, seine Autorität aber unerschütterlich.
Ausdruckslos sieht die
Frau ihm zu, bis er an die Tür kommt. Dann wendet sie sich wieder würdevoll dem Fleisch zu und beginnt, es abzuwaschen und dann mit einem Tuch trocken zu tupfen. Der Kadaver umhüllt sie, doch nahezu alle Spannung ist fort. Eine Speisekammer könnte sie so aufräumen. Nur dass die Fibern des Fleisches vom Schock der Schlachtung noch zucken, genau wie im Sommer das Fell am Hals einer Kuh, um die Fliegen aufzuscheuchen.
Der
Sohn zerlegt die beiden Seiten Rind mit vollendeter Symmetrie. Es sind nun zwei Fleischseiten, wie sie die Hungernden seit Hunderttausenden von Jahren sich haben träumen lassen. Die Mutter schiebt sie das Schienensystem entlang zur Waage. Sie wiegen zusammen zweihundertsiebenundfünfzig Kilogramm.

Zerlegung der Kuh


Metamorphose vom Tier zum Fleisch im Bewusstsein des Erzählers












Fleisch geworden hat die Kuh nun nur noch einen Kilopreis!

Der Bauer überprüft die Anzeige auf der Skala. Er hat sich mit neun Francs das Kilo einverstanden erklärt. Er bekommt nichts für die Zunge, die Leber, die Hufe, den Kopf, die Därme. Die Teile, die man den Armen in der Stadt verkauft, bekommen die Armen auf dem Land nicht bezahlt. Und für das Fell wird er auch nicht bezahlt.

Bauer als Objekt der Ausbeutung

Zu Hause im Stall ist der Platz, den die geschlachtete Kuh innehatte, leer. Eines der jungen Rinder kommt dorthin. Bis zum nächsten Sommer wird es lernen, sich an den Ort zu erinnern und dann weiß es jeden Abend und Morgen, wenn es von den Feldern zum Melken geholt wird, welches sein Platz im Stall ist.

Es ist alles eine Frage des Platzes!

(aus: John Berger, SauErde. Geschichten vom Lande. Aus dem Englischen von Jörg Trobitius, München Wien: Carl Hanser Verlag 1982, S.7 -11)

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 16.03.2020

   
 

 
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