Ganz allgemein gilt: Eine
mehrteilige Arbeitsanweisung
gibt die Gesichtspunkte vor, die bei der Interpretation in jedem Fall
behandelt werden müssen und setzt dabei Schwerpunkte. Zugleich stellt sie
meistens eine Art "Fahrplan" dar, nach der eine
Textinterpretation
(Interpretationsaufsatz,
literarischer Aufsatz) aufgebaut sein
sollte. Die meistens durchnummerierte Form der Arbeitsanweisung darf aber
nicht so aufgefasst werden, als handle es sich dabei um einzelne Aufgaben,
die wie in einer Klassenarbeit, z. B. in Biologie, nacheinander "abgehakt"
werden können. Alle Teile zusammen geben das Ganze des
Interpretationsaufsatzes, der ein zusammenhängendes Textganzes
darstellt.
Die Nummern der einzelnen Arbeitsanweisungen haben daher in der
schriftlichen Ausarbeitung des Interpretationsaufsatzes nichts zu suchen!
Wer dem "Fahrplan" der mehrteiligen Arbeitsanweisung folgt, sollte dabei
zwischen den einzelnen Teilen des Aufsatzes Absätze einfügen. Wer kann,
fügt eine Überleitung hinzu, ansonsten kann der Übergang aber auch ohne
sie erfolgen.
Grundsätzlich kann sich der Aufbau des Interpretationsaufsatzes auch am
allgemeinen Gliederungsschema
orientieren, wobei freilich die jeweiligen Vorgaben in der mehrteiligen
Arbeitsanweisung zu berücksichtigen sind. (vgl.
Wie baut man einen Interpretationsaufsatz auf?)
Grundsätzlich geht es bei dieser Aufgabe darum, die zu analysierende
und zu interpretierende Textstelle in ihren inhaltlichen und strukturellen
Bezügen zum Gesamttext zu betrachten. (vgl.
FAQ: Wie ordnet man eine Textstelle ein?)
Im vorliegenden Fall des
Dialoges zwischen
Egmont und
Wilhelm von Oranien
bedeutet dies:
-
Das Wesentliche
der dramatischen Handlung vor und nach dem Dialog von Egmont und
Oranien wiederzugeben.
-
Jene Elemente der dramatischen Handlung zu erfassen und
wiederzugeben, die für diese Szene und ihr Verständnis besonders wichtig
sind.
-
Wesentliche und auf die Szene fokussierte Handlungselemente nach
diesem Kapitel zu erfassen und wiederzugeben.
Im Fall von
Goethes
Drama »Egmont«
ist die Einordnung einer einzelnen Szene in den Gesamtzusammenhang mit
besonderen Schwierigkeiten verbunden, die mit der Struktur bzw. der
Komposition dieses Dramas
zusammenhängen. Denn die mehr oder weniger lose Szenenfolge, die
zwar einen einem linearen zeitlichen Verlauf folgt, aber manche Szenen
recht unverbunden hintereinander bringt, führt dazu, dass kein einfacher,
einsträngiger Handlungsverlauf dargestellt werden kann. So sind z. B. die
Volksszenen am Anfang des
1. und des
2. Akts mit der
eigentlichen Egmont-Handlung nur wenig verbunden, auch wenn sie im Rahmen
der
perspektivisch angelegten Exposition
des Charakters Egmonts eine wichtige Funktion haben. Ebenso
gilt dies, in eingeschränkterem Maße, gewiss auch für die Szenen des 1.
Akts, in denen die Regentin
Margarete von Parma mit ihrem Sekretär
Machiavell auf der Bühne erscheint. Und schließlich sind
auch die Verbindungen der
Klärchen-Handlung nur lose mit dem Schicksal Egmonts in
Beziehung gebracht. Aus solchen Gründen hat man z. B. auch bei der
Aufführung des Dramas immer wieder auf die Inszenierung der Volksszenen
verzichtet.
Was also ist dann das
Wesentliche der dramatischen Handlung,
was vor dem Dialog von Egmont und Oranien bei der Einordnung der Szene
darzulegen ist?
Zunächst einmal sind es nur, die Elemente, die den Charakter Egmonts
exponieren. Das bedeutet z.B., dass der Ablauf des
Armbrustschießens im
1. Akt (1.
Zwischenakt) unwesentlich ist. Wesentlich aber ist, die
Darstellung der politischen Lage in den spanischen Niederlanden und die
Haltung der Niederländer dazu, sowie ihre Einstellung zu und Beurteilung
der politischen Akteure wie König, Regentin, Oranien und Egmont.
Das gleiche gilt für das Gespräch der Regentin mit ihrem Sekretär (2.
Zwischenakt) und die Szene "Im Bürgerhaus" (3.
Zwischenakt)
a) Den Inhalt der Szene
erfassen
Zunächst einmal muss man natürlich erfassen, worum es
im
Dialog zwischen Egmont und Oranien
geht. Dies lässt sich u. a. durch die Beantwortung der folgenden Fragen
klären:
-
Worüber unterhalten sich
Egmont und Oranien?
-
Welche Inhalte/Themen kommen
in dem Gespräch zur Sprache?
-
Wann kommt es zu diesem
Gespräch?
-
Auf wessen Veranlassung kommt
es zustande?
-
In welcher Situation findet
das Gespräch statt?
-
In welcher Beziehung stehen
die beiden Gesprächspartner zueinander?
-
Was beabsichtigen Egmont und
Oranien in dem Gespräch?
-
Wie sind die Gesprächsanteile
zwischen beiden Dialogpartnern verteilt?
-
Wie gehen die
Gesprächspartner während ihres Gesprächs miteinander um?
-
Wie endet das Gespräch
zwischen Egmont und Oranien?
-
Welchen Stellenwert hat diese
Szene für den weiteren Verlauf der Handlung?
-
Welche kurzfristigen und
längerfristigen Konsequenzen ergeben sich aus dem Gespräch?
Als kurz gefasste Antwort auf diese Fragen lässt sich festhalten:
Das Gespräch zwischen
Egmont
und
Oranien im
2. Aufzug (2.
Zwischenakt: Egmonts Wohnung, II,9) dreht sich um das
Problem, wie die niederländischen Fürsten auf die bevorstehende Ankunft
Herzog Albas, des neuen Regenten, in den zum
spanischen Habsburgerreich
zählenden niederländischen Provinzen reagieren sollen. In dem Dialog
zwischen den beiden im Drama bedeutendsten Fürsten der Niederlande, die
den Spaniern zugleich als Statthalter in den Provinzen dienen, bewerten
beide die Ergebnisse des erst kurz zuvor beendeten Treffens mit der
Regentin Margarete von Parma unterschiedlich.
Während Oranien einen Wechsel der könglich-spanischen Politik in den
Niederlanden mit einem härteren Unterdrückungskurs fürchtet und daher
einen Wechsel in der Regentschaft kommen sieht, kann Egmont nichts
dergleichen erkennen. Er vertraut seine dem König erwiesene Loyalität und
das gegenseitige Treueverhältnis. Das Gespräch findet in der Wohnung
Egmonts knapp zwei Stunden nach der Sitzung im Rat der Regentin und
scheint von Oranien gewünscht worden zu sein, um über eine gemeinsame
Strategie bei einer verschärften Hispanisierungspolitik zu beraten. Auch
die Tatsache, von Oranien seinem Gesprächspartner mitgeteilt, dass der
spanische Herzog Alba mit einem Söldnerheer in der nächsten Zeit in
Brüssel erwartet werde, kann Egmont nicht dazu bewegen, sich, wie Oranien
vorhat, in seiner eigenen Provinz auf die Auseinandersetzungen mit den
Spaniern vorzubereiten. Dies kommt seiner Auffassung nach einem bewussten
Treuebruch gegenüber dem spanischen König gleich. Auch wenn Egmont in der
Diskussion mit seinem Gegenüber nur wenige stichhaltige Argumente
vorbringen kann und dem rationalen Kalkül eines politischen Kopfes wie
Oranien wenig entgegensetzen kann, verharrt er doch darin, in Brüssel zu
bleiben und dem neuen Regenten seine Reverenz zu erweisen.
Das Gespräch zwischen beiden verläuft sehr offen und nur gegen Ende, als
Egmont sich in die Defensive gedrängt sieht, kommt es zu einer etwas
polemischeren Auseinandersetzung, deren Wogen aber durch persönliche
Gesten der Freundschaft und Anteilnahme Oraniens am möglichen Schicksal
Egmonts aber auch rasch wieder entschärft werden können. So verlässt
Oranien Egmont im Glauben, dass dessen Entscheidung zugleich seinen
Untergang bedeutet. In diesem Dialog werden die zwei Alternativen
aufgezeigt, die sich den niederländischen Fürsten angesichts der
bevorstehenden Ankunft Albas stellen. Indem sich Egmont dafür entscheidet,
seinen eigenen Weg zu gehen, oder wie er sagt, mit seinen Augen sehen
will, hat er die letzte Chance vertan, sein Leben zu retten.
Der
zentrale inhaltliche Gegenstand der Szene ist die
Einschätzung der politischen Lage in den Niederlanden und die politischen
Konsequenzen. Zugleich werden aber in dem Dialog auch Themen
berührt, die über die konkrete Problematik hinausweisen und eine
allgemeine gesellschaftliche und/oder politische Relevanz besitzen. Solche
Themen sind zum Beispiel: die
Rolle des einzelnen und die eines politischen Führers in Konflikten,
die
Legitimation politischen
Handelns, die
Loyalität
gegenüber einem Herrscher oder einem Staat und die ethische
Verantwortbarkeit politischen Tuns
b) Die Einordnung vornehmen
Hat man so erfasst, worum es in der Textstelle geht, muss man sich an die
Einordnung des dramatischen Geschehens der Szene in den Gesamtzusammenhang
des Dramas machen. (FAQ:
Was ist genau verlangt,
wenn man eine Dramenszene einordnen soll?)
Dazu muss
man den Inhalt des Dramas überblicken und zusammenzufassen. Allerdings
soll der Inhalt der Dramenhandlung dabei nicht seitenlang ausgebreitet und
jede Einzelheit erwähnt werden.
Die Gesamthandlung muss, wie schon oben gesagt, in ihren
wesentlichen Zügen skizziert und jene Gesichtspunkte daraus besonders
hervorgehoben werden, die für das Verständnis der Szene besonders wichtig
sind.
Die Leistung, die hier erbracht werden soll, ist also nicht der Nachweis
darüber, dass man den Text bis zum Ende gründlich gelesen hat, sondern
dass man unter einer bestimmten Problemstellung zu einer Szene
das Wesentliche aus dem Text "herauslesen" kann.
Dabei können z. B. die folgenden Fragen helfen:
-
Was ist zeitlich vor der Szene geschehen?
-
Was sind davon die wichtigsten Geschehnisse?
-
Welche Geschehnisse usw. sind unter dem Blickwinkel dessen, was im
Dialog von Egmont und Oranien "passiert", besonders wichtig?
-
Was geschieht unmittelbar nach der Szene, was im weiteren Verlauf
des Dramas?
-
Welche der nachfolgenden Geschehnisse sind in einem besonders engen
Zusammenhang mit dem zu sehen, was im Gespräch zwischen Egmont und
Oranien zur Sprache gekommen ist?
ad 2)
Fassen Sie den Inhalt des Gesprächs unter Berücksichtung seiner
inhaltlich-thematischen Gliederung in Form einer kurzen
Inhaltsangabe zusammen.
Ohne
Aussagekern wird dabei ein
kurz gehaltene
Inhaltsangabe der zu
analysierenden Szene verlangt. Dabei sollten Inhalt und Verlauf der
dramatischen Rede berücksichtigt werden. Wenn sowohl der Inhalt, als auch
der Verlauf dargestellt werden soll, muss man das Gespräch in
Sinnabschnitte einteilen.
Am besten stellt man diese Beschreibung des Aufbaus nach Sinnabschnitten
an den Beginn, ehe man sich dann, noch einmal darauf zurückgreifend, dem
Inhalt des jeweiligen Sinnabschnittes wieder zuwendet. (FAQ:
Was bedeutet der Arbeitsauftrag: Geben Sie den Inhalt der Dramenszene
unter Berücksichtigung der inhaltlichen Gliederung des Gesprächsverlaufs
wieder?)
ad 3)
Arbeiten Sie die unterschiedlichen politischen Positionen Egmonts und
Oraniens heraus.
Bei diesem Arbeitsauftrag geht es zunächst
darum, die Szene unter einem systematischen Blickwinkel zu beschreiben und
zu analysieren. Dies erfolgt systematisch, getrennt für Oranien und
Egmont, und unter klarem
Textbezug, der durch
sinngemäßes und
wörtliches Zitieren hergestellt wird. (vgl.
FAQ: Wie funktioniert das eigentlich mit einem korrekten Textbeleg?).
Diese Analyse mündet in einem Vergleich der beiden Positionen.
ad 4)
Vergleichen Sie, ausgehend von dieser Textstelle, die Charaktere von
Egmont und Oranien.
Inwiefern beeinflusst die Persönlichkeit Egmonts den Ausgang des Dramas?
Dieser Arbeitsauftrag der Arbeitsanweisung lenkt den Blickwinkel auf die
beiden Charaktere und verlangt eine
literarische Charakteristik.
Damit stellt sich die Aufgabe, beide
Figuren anhand der im Text enthaltenen Aussagen (explizite und
implizite
Figurencharakterisierung)
in ihrer (charakterlichen) Eigenart zu erfassen, zu beschreiben und
miteinander zu vergleichen. Konkret bedeutet dies, alle jene Textstellen
im Dialog zwischen Egmont und Oranien noch einmal unter die Lupe zu
nehmen, die darüber eine Aussage machen. Da sind, nur um einige zu nennen,
jene Textstellen, die zeigen, dass Oranien ein klar und rational denkender
Fürst ist, oder die zur Anschauung bringen, dass Egmont von einer
besonderen ethischen Verantwortung politischen Handelns ausgeht.
Schließlich gibt die Arbeitsanweisung aber auch deutlich vor, dass diese
Charakteristik, insbesondere im Falle Egmonts nur von der Textstelle
ausgehen soll, damit also auch weitere Aspekte aus dem Gesamtdrama
berücksichtigen muss.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
29.01.2024