Henrik
Ibsens
Figur "Nora"
hat bei etlichen zeitgenössischen Kritikern des Dramas keine
Gnade gefunden. Dafür gibt es wohl vor allem Gründe, die mit dem
zeitgenössischen Frauenbild zusammenhängen.
"Man ist gewöhnt, nur solche Stücke als unsittliche zu bezeichnen, in
welchen geschlechtliche Verhältnisse in einer Weise behandelt
werden, die dem öffentlichen Schamgefühl zuwider ist. In diesem
Sinne lässt sich gegen das Ibesn'sche Drama natürlich gar nichts
sagen. Gleichwohl muß ich dasselbe als ein sittlicher Beziehung sehr
bedenkliches bezeichnen, ja, es erscheint mir viel bedenklicher als
die krassesten Ehebruchsdramen der französischen Schule. Hier werden
mit großem dichterischen Talente und großer Beredsamkeit Gefühle und
Gesinnungen ausgesprochen, die durchaus ungesund, und die, wie ich
fürchte, wie dazu gemacht sind, in das Fleisch und Blut ungesunder
weiblicher Organismen überzugehen und das Arsenal der »Verkannten«
um Prachtstücke ersten Ranges zu bereichern. Das Begriffsvermögen
der beschränktesten Person reicht gerade so weit, um die reizvolle
Rolle der Unverstandenen und Verkannten zu verstehen. Zu einer Nora
bringt jede phrasenhafte und oberflächliche Frau das nöthige Zeug
mit. Daß Helmer, der ja sonst so klug ist, auf die lächerliche
Verirrung Noras nichts zu erwidern hat, daß sie mit ihren
kindischen, thörichten, ungesunden Ideen den Sieg davonträgt und das
Schlachtfeld verläßt, nachdem sie den stärkeren Gegner zu Boden
geworfen hat, daß der Unsinn siegt und die Vernunft untergeht, - das
ist es, was ich nicht anders denn als unsittlich bezeichnen kann.
(aus: Paul Lindau: Nora, in: Die Gegenwart. Wochenschrift für
Literatur, Kunst und öffentliches Leben, Berlin: Stilke, Bd. 18, Nr.
48 (27.11.1880), S.348f.)
Karl Frenzel (1827-1914)
Karl Frenzel (1827-1914) äußerte sich in einem
Überblicks-Artikel der Deutschen Rundschau (1881) über Ibsens Drama:
"Was will er mit seiner »Nora« beweisen? Daß die Gesetze, die
jede Urkundenfälschung bestrafen ungerecht sind? Welch' eine
Thorheit! Das Gesetz ist durchaus in seinem Recht und die Strafe von
einem oder von acht Tagen Gefängniß, zu der Nora Helmer verurtheilt
werden würde, ohne den geringsten Schaden an ihrer Ehre zu nehmen,
da jeder Richter hervorheben würde, daß sie nur formell gefehlt hat,
steht in keinem Verhältniß zu den Folterqualen, die Nora und wir
durch drei Acte erleiden müssen: Alles in Erwartung der
fürchterlichen Entscheidung! Wehrt der Dichter aber diese Erklärung
ab und behauptet, er habe in Nora eine große, unverstandene
Frauenseele, das innere Unglück einer dem äußeren Schein nach
glücklichen Ehe zeigen wollen, so hat er sich durchaus in dem
Eindruck getäuscht, den ich von seiner Nora empfange. [...] Und dies Verlassen ihres Mannes, ihrer unerwachsenen Kinder
soll nicht unsittlich, soll tragisch sein? [...] Ibsens Nora stellt
den Begriff der Pflicht einfach auf den Kopf; während sie die
verkörperte Eigensucht ist, hält sie sich für die verkörperte
hingebende Liebe- Den schlimmsten Fehler aber finde ich, daß die
zwei Seiten, aus denen Nora's Natur besteht, sich nicht
zusammenreimen lassen. Wer so denkt und redet, wie die Nora der
letzten Scene, tänzelt und ruschelt und spielt nicht das Kätzchen,
wie die Nora der ersten. Mögich, daß unser Dichter ein Modell zu
seiner Nora kennt, aber er hat nichts gethan, um ihr Abbild auf der
Bühne, im Rahmen der DIchtung, wahrscheinlich zu machen." (aus: Karl
Frenzel, Die Berliner Theater, in: Deutsche Rundschau (26) 19881,
S.308f., zit. n.:
Keel 1990, S.51)
Hugo Wittman (geb. 1839)
Hugo Wittman (geb. 1839) rezensierte die österreichische
Erstaufführung im September 1881 in der Neuen Freien Presse, dem
liberalen "Weltblatt" Wiens, die Aufführung des Stücks mit den
Worten:
"Wir haben im Laufe der Zeit viel mißrathene Frauengestalten über
die Bühne hinken sehen, aber eine so unausstehlich verschrobene und
geistig verkrüppelte Person wie diese Nora des norwegischen Dichters
ist uns selten vorgekommen. Bei anderen Mißgeburten kann man
wenigstens errathen, was ihr unglückseliger Erzeuger eigentlich
gemeint hat. die dramatische Absicht schlägt durch, wenn auch die
dramatische Kunst versagt. Die arme Nora aber lässt vollständig im
Unklaren, ob wir in ihr eine Verschwenderin oder eine
haushälterische Frau, ein leichtsinniges Ding oder die Tugend
selber, eine Puppe oder eine Heldin zu sehen haben. in Gewebe von
Unmöglichkeiten und Unwahrheiten spinnt sich um dieses in das Nichts
puffende Räthsel [...] (zit. n.
Keel 1990, S.53)
Jørgen Haugan (1977)
"Obwohl Nora als ein unentwickeltes und vernachlässigtes Kind
dargestellt wird, ist sie in ihrem Verhältnis zu ihrem Gatten
durchaus erfahren. Ihre Kenntnis seines Wesens und seiner Interessen
nützt sie aus, um das zu erreichen, was sie wünscht, seien es
Makronen, sei es Geld oder Einfluss auf die Anstellungen in der
Bank. Sie belügt Helmer, und sie hat einen merkwürdigen Genuss
daran, ihn hinters Licht zu führen, um sich so über seine Verbote
hinwegzusetzen." (Haugan
1977, zit. n.:
Keel 1990, S.66) Für
Jørgen Haugan steht dabei fest, dass Nora sich ihrer verführenden
Wirkung als weibliches Wesen auf Helmer wohlbewusst ist und in
diesem Bewusstsein handelt. Dies wird besonders deutlich, als sie
von Christine Linde bei ihrem ersten Gespräch (I, 3)befragt, ob sie
Helmer niemals reinen Wein einschenken wolle, geradezu abgeklärt zu
verstehen gibt, dies erst in ferner Zukunft, wenn ihre äußerliche
Attraktivität nicht mehr hinreichen werde, Helmer an sich zu binden,
in Frage komme. "Dann", so sagt sie unumwunden, "könnte es
vorteilhaft sein, etwas in der Hinterhand zu haben." (S.20) Mit
diesem Kalkül wird Noras idealistische Hoffnung auf das "Wunderbare"
demaskiert.
"In der Enttäuschung erwacht Nora zum Erlebnis ihres eigenen Ich
[...]. Es ist diese Ich-Kraft, die sie aus dem Puppenhaus hinaus
treibt, es ist aber eine rat- und richtungslose Leidenschaft, ein
Hals über Kopf gefasster Entschluss. Eine tief desillusionierte Frau
geht, um ohne Geld und Ausbildung einen Platz in der Gesellschaft zu
finden. [...] Nora kennt die ökonomische Ordnung der Gesellschaft
nicht, aber sie will sich damit vertraut machen. Es ist also kein
großer Optimismus an Noras Ausmarsch geknüpft; es verhält sich eher
so, dass Ibsens Sympathie für Nora ihn veranlasst, sie vor dem
Zusammenbruch zu verschonen." (Haugan 1977, zit. n.:
Keel 1990, S.67)
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
04.03.2024
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