Textstelle
1:
"K. achtete auf
diese Reden kaum, das Verfügungsrecht über seine Sachen, das er
vielleicht noch besaß, schätzte er nicht hoch ein, viel
wichtiger war es ihm, Klarheit über seine Lage zu bekommen; in
Gegenwart dieser Leute konnte er aber nicht einmal nachdenken,
immer wieder stieß der Bauch des zweiten Wächters - es konnten
ja nur Wächter sein - förmlich freundschaftlich an ihn, sah er
aber auf, dann erblickte er ein zu diesem dicken Körper gar
nicht passendes trockenes, knochiges Gesicht mit starker,
seitlich gedrehter Nase, das sich über ihn hinweg mit dem
anderen Wächter verständigte. Was waren denn das für Menschen?
Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an? K. lebte
doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle
Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte, ihn in seiner Wohnung zu
überfallen? Er neigte stets dazu, alles möglichst leicht zu
nehmen, das Schlimmste erst beim Eintritt des Schlimmsten zu
glauben, keine Vorsorge für die Zukunft zu treffen, selbst wenn
alles drohte. Hier schien ihm das aber nicht richtig, man konnte
zwar das Ganze als Spaß ansehen, als einen groben Spaß, den ihm aus
unbekannten Gründen, vielleicht weil heute sein dreißigster Geburtstag war,
die Kollegen in der Bank veranstaltet hatten, es war natürlich möglich,
vielleicht brauchte er nur auf irgendeine Weise den Wächtern ins Gesicht zu
lachen, und sie würden mitlachen, vielleicht waren es Dienstmänner von der
Straßenecke, sie sahen ihnen nicht unähnlich - trotzdem war er diesmal,
förmlich schon seit dem ersten Anblick des Wächters Franz, entschlossen,
nicht den geringsten Vorteil, den er vielleicht gegenüber diesen Leuten
besaß, aus der Hand zu geben. Darin, dass man später sagen würde, er habe
keinen Spaß verstanden, sah K. eine ganz geringe Gefahr, wohl aber erinnerte
er sich - ohne dass es sonst seine Gewohnheit gewesen wäre, aus Erfahrungen
zu lernen - an einige, an sich unbedeutende Fälle, in denen er zum
Unterschied von seinen Freunden mit Bewusstsein, ohne das geringste Gefühl
für die möglichen Folgen, sich unvorsichtig benommen hatte und dafür durch
das Ergebnis gestraft worden war. Es sollte nicht wieder geschehen,
zumindest nicht diesmal; war es eine Komödie, so wollte er mitspielen.
Noch war er frei. »Erlauben Sie«, sagte er und ging eilig
zwischen den Wächtern durch in sein Zimmer." (HL
7)
Textstelle 2:
"Als er vollständig angezogen
war, musste er knapp vor Willem
durch das leere Nebenzimmer in das folgende
Zimmer gehen, dessen Tür mit beiden Flügeln bereits geöffnet war. Dieses
Zimmer wurde, wie K. genau wusste, seit kurzer Zeit von einem Fräulein Bürstner, einer Schreibmaschinistin, bewohnt, die sehr früh in die Arbeit zu
gehen pflegte, spät nach Hause kam und mit der K. nicht viel mehr als die
Grußworte gewechselt hatte. Jetzt war das Nachttischchen von ihrem Bett als
Verhandlungstisch in die Mitte des Zimmers gerückt, und der Aufseher saß
hinter ihm. Er hatte die Beine übereinander geschlagen und einen Arm auf die
Rückenlehne des Stuhles gelegt.
In einer Ecke des Zimmers
standen drei junge Leute und sahen die Photographien des Fräulein Bürstner
an, die in einer an der Wand aufgehängten Matte steckten. An der Klinke des
offenen Fensters hing eine weiße Bluse. Im
gegenüberliegenden Fenster lagen
wieder die zwei Alten, doch hatte sich ihre Gesellschaft vergrößert, denn
hinter ihnen, sie weit überragend, stand ein Mann mit einem auf der Brust
offenen Hemd, der seinen rötlichen Spitzbart mit den Fingern drückte und
drehte. »Josef K.?« fragte der Aufseher, vielleicht nur um K.s zerstreute
Blicke auf sich zu lenken. K. nickte. »Sie sind durch die Vorgänge des
heutigen Morgens wohl sehr überrascht?« fragte der Aufseher und verschob
dabei mit beiden Händen die wenigen Gegenstände, die auf dem Nachttischchen
lagen, die Kerze mit Zündhölzchen, ein Buch und ein Nadelkissen, als seien
es Gegenstände, die er zur Verhandlung benötige. »Gewiss«, sagte K., und das
Wohlgefühl, endlich einem vernünftigen Menschen gegenüberzustehen und über
seine Angelegenheit mit ihm sprechen zu können, ergriff ihn. »Gewiss, ich
bin überrascht, aber ich bin keineswegs sehr überrascht.« »Nicht sehr
überrascht?« fragte der Aufseher und stellte nun die Kerze in die Mitte des
Tischchens, während er die anderen Sachen um sie gruppierte. »Sie
missverstehen mich vielleicht«, beeilte sich K. zu bemerken. »Ich meine« -
hier unterbrach sich K. und sah sich nach einem Sessel um.
»Ich kann mich doch setzen?«
fragte er. »Es ist nicht üblich«, antwortete der Aufseher. »Ich meine«,
sagte nun K. ohne weitere Pause, »ich bin allerdings sehr überrascht, aber
man ist, wenn man dreißig Jahre auf der Welt ist und sich allein hat
durchschlagen müssen, wie es mir beschieden war, gegen Überraschungen
abgehärtet und nimmt sie nicht zu schwer. Besonders die heutige nicht.«
»Warum besonders die heutige nicht?« »Ich will nicht sagen, dass ich das
Ganze für einen Spaß ansehe, dafür scheinen mir die Veranstaltungen, die
gemacht wurden, doch zu umfangreich. Es müssten alle Mitglieder der Pension
daran beteiligt sein und auch Sie alle, das ginge über die Grenzen eines
Spaßes. Ich will also nicht sagen, dass es ein Spaß ist.« »Ganz richtig«,
sagte der Aufseher und sah nach, wie viel Zündhölzchen in der
Zündhölzchenschachtel waren." (HL
11f.)