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Franz Kafka: Das Schloss

"Das ist eben Kafka."

Professor Soska in Philip Roth' Roman: Professor der Begierde


In seinem Roman "Professor der Begierde" (1978, 1998), stellt der US-amerikanische Schriftsteller »Philip Roth (geb. 1933) dar, wie der Literaturprofessor David Kepesh, ein Enkel jüdischer Emigranten, als im Grunde einsamer Egomane von seiner sexuellen Begierde umgetrieben wird und erst zu sich selbst findet, als er nach seiner Scheidung von Helen Baird, mit der drei Jahre verheiratet gewesen ist, in der Lehrerin Claire Ovington eine verständnisvolle Lebensgefährtin findet. Mit Claire unternimmt Kepesh eine Reise nach Europa, die sie über Norditalien und Wien auch nach Prag führt. Dort will Kepesh, der im vorausgegangenen Semester an der Universität ein Seminar über Kafka gehalten hat, zur Vorbereitung eines Vortrags in Brügge über "Kafkas Ringen mit der geistigen Aushungerung", die Vaterstadt Franz Kafkas kennenlernen, die er bis dahin noch nie besucht hat. Dort angekommen, haben sie die Gelegenheit mit dem tschechischen Literaturprofessor Soska einen Rundgang durch die Prager Altstadt zu unternehmen und dabei die Gebäude zu besichtigen, die für Kafkas Leben in Prag bedeutsam gewesen sind (Schule, Hermann Kafkas Geschäft, Wohngebäude der Familie Kafka etc.). Während des Rundgangs erfahren sie, dass Soska - wie auch seine Frau -  nach dem Einmarsch der Sowjetunion und anderen Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei am 21.8.1968 bei der Niederschlagung des so genannten Prager Frühlings im Alter von 39 Jahren aus politischen Gründen ihre Positionen verloren hatten und dass der ehemalige ehemalige Literaturprofessor seit geraumer Zeit in einer Fleischkonservenfabrik arbeitet, um seine vierköpfige Familie zu ernähren. Kepesh fragt sich angesichts dieses persönlichen Schicksals, wie Soska es überhaupt schaffe, mit dieser Situation zurechtzukommen, ohne daran zu verzweifeln. Soska antwortet ihm auf solche im Raum stehenden Fragen:

"Kafka selbstverständlich", sagt er und bedenkt mich wieder mit seinem Lächeln. "Ja, so ist das; viele von uns überleben fast ausschließlich mit Kafka. Die Leute auf der Straße, die nie ein Wort von ihm gelesen haben, eingeschlossen. Wenn irgendwas passiert, blicken sie einander an und sagen: 'Das ist eben Kafka', . was etwa heißen soll: 'So laufen die Dinge hier nun mal' - was soviel bedeutet wie: 'Was hast du denn erwartet?''
"Und die Wut? Ist sie beschwichtigt, wenn man mit der Achsel zuckt und sagt: 'Das ist eben Kafka'?"
"Die ersten sches Monate nachdem die Russen herkamen, um bei uns zu bleiben, befand ich mich selbst in einem Zustand ständiger Erregung. Nacht für Nacht habe ich mich heimlich mit Freunden getroffen, und mindestens jeden zweiten Tag habe ich eine illegale Bittschrift in Umlauf gebracht. In der mir noch verbleibenden Zeit verfasste ich so präzise wie nur irgend möglich und in wunderschönen und gedankenschweren Sätzen eine umfassende Analyse der Situation, die dann als Samisdat unter meinen Kollegen von Hand zu Hand gingen. Dann brach ich eines Tages zusammen, und sie haben mich mit blutendem Magengeschwür ins Krankenhaus gebracht. Anfangs habe ich mir gesagt: na schön, liege ich also einen Monat lang flach, nehme ich meine Medizin, esse die fade Diät, und dann - tja, was dann? Was werde ich tun, wenn das Magengeschwür auskuriert ist? In ihrem Schloss und ihrem Prozess wieder den K. spielen? Das Ganze kann doch unendlich lange so weitergehen, wie Kafka und seine Leser so gut wissen. Ach, seine rührenden, hoffnungsvollen und emsig bemühten K.s, die wie wahnsinnig all diese Treppenhäuser rauf und runter laufen und nach einer Lösung suchen, die fieberhaft die Stadt durchqueren und über die neueste Entwicklung nachdenken, die sie ausgerechnet zu ihrem Erfolg führen soll. Anfänge, Mittelteile und - am allerphantastischsten - Schlüsse - damit glauben sie, die Ereignisse zwingen zu können, sich zu offenbaren."
"Lassen wir Kafka und seine Leser mal beiseite - wird sich denn etwas ändern, wenn keine Opposition da ist?"
Dieses Lächeln, das verbirgt, dass nur Gott allein weiß, welchen Ausdruck er der Welt zeigen würde! "Mein Herr, ich habe keinen Hehl aus meiner Einstellung gemacht. Das ganze Land hat aus seiner Einstellung keinen Hehl gemacht. Wie wir jetzt leben - das ist nicht das, was wir uns vorgestellt haben. Was mich betrifft, so kann ich das, was in meinem Verdauungstrakt noch verblieben ist, nicht dadurch wegätzen, dass ich das den Behörden sieben Tage in der Woche klarmache."
"Und was tun Sie jetzt stattdessen?"
"Ich übersetze den Moby Dick ins Tschechische. Selbstverständlich gibt es bereits eine Übersetzung, sogar eine sehr schöne. Es besteht nicht der geringste Bedarf an einer weiteren Übersetzung. Freilich ist das ein Vorhaben, mit dem ich in Gedanken immer gespielt habe, warum also nicht, da ich im Augenblick sonst nichts Dringendes zu tun habe?"
(Philip Roth, Professor der Begierde, 1997, Neuausgabe, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2004, S. 207-209)

Die Bedeutung des "Das ist eben Kafka", von dem Soska spricht, besteht nicht nur in der darin zum Ausdruck kommenden nahezu fatalistischen Hinnahme der Verhältnisse nach der Besetzung Prags durch die Truppen des Warschauer Pakts. Wenn Soska erklärt, er habe eine Zeitlang - wie viele andere K.s eben auch - versucht, mit Argumenten gegen die Realität der Besetzung vorzugehen, weil er geglaubt habe, "die Ereignisse zwingen zu können, sich zu offenbaren", sieht er in der fieberhaften, rührenden, hoffnungsvollen und bemühten Suche nach einer Lösung im Nachhinein, ein aussichtsloses Unterfangen, das sich in einer Endlosschleife immer wieder wiederholt, ohne die erwartete oder erwünschte Lösung herbeizuführen: »'Das ist eben Kafka', . was etwa heißen soll: 'So laufen die Dinge hier nun mal' - was soviel bedeutet wie: 'Was hast du denn erwartet?'« Für Soska von der Hauptfigur des Kapitäns Ahab in Moby Dick von Herman Melville (1819-91) so fasziniert. Dessen Unbeherrschtheit, dessen "Gier, alles ins rechte Lot zu bringen, immer erster zu sein, zum Weltmeister ausgerufen zu werden!" (ebd., S. 208) fasziniert ihn nicht, weil darin die Kraft, Energie und Willensstärke des Machtmenschen sichtbar wird. Es sei, vielmehr der in die Welt hinausgebrüllte "ungeheuerliche Zorn", der Ahab antreibe. Und genau diesen Zorn wolle er bei seiner Übersetzung ins Tschechische, von der wisse, dass sie wahrscheinlich insgesamt schlechter als die schon vorhandene sei und sicher gar nicht gedruckt werde, sichtbar werden lassen. (vgl. ebd. S.209) Auf diese Weise will er kompensieren, was ihm - und da ist er ja schließlich ganz Josef. K.! - in seiner Auseinandersetzung mit den Mächtigen, insbesondere der kommunistischen Diktatur in der Tschechoslowakei nie gelungen ist. Aber selbst, wenn ihm, wie er sagt, zumindest hin und wieder bewusst ist, dass es sich dabei um "eine prätentiöse Form der Kapitulation der [...] Selbstverspottung" (ebd. S.210) handelt, ist er der Überzeugung, dass diese Übersetzung "im Ruhestand die ernsthafteste Aufgabe" sei, die er sich vorstellen könne. Auf die Frage des tschechischen Literaturprofessors, was den amerikanischen Professor an Kafka fessle, erklärt dieser, dass seine Kafka-Rezeption sich jedenfalls nicht um das Thema politischer Hoffnungslosigkeit drehe.

"Sondern vielmehr", sage ich, "weitgehend um sexuelle Verzweiflung, um Keuschheitsgelübde, die ich hinter meinem eigenen Rücken abgelegt haben muss und mit denen ich gegen meinen Willen gelebt habe, Ich habe mich entweder gegen mein Fleisch gewandt, oder das Fleisch sich gegen mich - ich weiß immer noch nicht recht, wie ich es ausdrücken soll. [...] ich kann die unerbittliche Ausschließlichkeit des Körpers, seine ungerührte Gleichgültigkeit und absolute Verachtung dem Wohlergehen des Geistes gegenüber nur mit einem unbeugsam starren autoritären Regime vergleichen. Da können Sie so viele Eingaben machen, wie Sie wollen, können den alleraufrichtigsten, würdigsten und logischsten Appell loslassen und erfahren nicht die geringste Reaktion. Falls Sie überhaupt was hören, dann höchstens so etwas wie Gelächter. Ich habe meine Eingaben über einen Psychotherapeuten weitergeleitet; bin jeden zweiten Tag für eine Stunde in seine Praxis gegangen und habe meinen Fall dargelegt, damit meine gesunde Libido wiederhergestellt würde. Und zwar, wie Sie mir glauben können, mit Argumenten und wohlgesetzten Worten, die nicht weniger verschachtelt, weitschweifig, listig und abstrus waren als die, sie Sie im Schloss finden. Sie halten den armen K. schon für einen Ausbund an Gewitztheit - Sie hätten mal hören sollen, wie ich versucht habe, der Impotenz ein Schnippchen zu schlagen. [...] Verstehen Sie, ich habe auf meine Weise dieses Gefühl kennengelernt, vorgeladen zu werden - oder das Gefühl mir einzubilden, ich werde vorgeladen - und zwar zu etwas, wo man nicht mehr mitkommt, wiewohl man angesichts jeder kompromittierenden oder farcenhaften Konsequenz einfach unfähig ist, Lunte zu riechen und das Ziel sausen zu lassen. Verstehen Sie, früher habe ich zu leben versucht, als ob Sex heiliger Boden wäre." (ebd. S.210 ff.)

Der Erzähler legt Soska, der mit der Deutung Kespesh offensichtlich nicht viel anfangen kann, am Ende folgende Worte in den Mund:

"Ach", sagte er und legte mir auf freundliche, ja väterliche Weise die Hand auf den Arm, "jedem gehemmten Bürger seinen eigenen Kafka." (ebd. S.212)

Und der Ich-Erzähler, David Kepesh, kontert: "Und jedem zornigen Mann seinen eigenen Melville". (ebd.)

Insgesamt stehen diese Textstellen aber auch im Kontext zur Bedeutung, die Kafka bzw. die politische Diskussion im Gewand der Literaturwissenschaft für das Entstehen einer kritischen Öffentlichkeit vor und während des Prager Frühlings besessen hat. So wurde die literarische Bedeutung des in der materialistischen Literaturwissenschaft lange verfemten Franz Kafka schon 1963 auf einer internationalen Schriftstellertagung auf Schloss Liblice zur Diskussion gestellt. In der auf dieser Kafka-Konferenz geführten Debatte ging vor allem um den in der marxistischen Theorie zentralen Begriff der Entfremdung ging. "Gegen die Meinung vor allem der Teilnehmer aus der DDR, welche Kafka als Opfer eines Personenkults sahen und dafürhielten, dass es die von Karl Marx postulierte Entfremdung des Arbeiters von seiner Arbeit im Sozialismus nicht mehr geben könne, vertraten die tschechoslowakischen Delegierten mit dem Österreicher Ernst Fischer die Auffassung, dass dies sehr wohl der Fall sein könne und dass man die Dinge so sehen solle, wie sie lägen.
Die Diskussion der Kafka-Konferenz wurde von der Literaturzeitung Literární noviny aufgegriffen und weitergeführt. Diese Zeitschrift war in der Folgezeit ein Hauptschauplatz der Auseinandersetzung zwischen den Ideologen und den Idealisten. Die Zeitschrift erreichte eine für ein Land wie die Tschechoslowakei beachtliche Auflage von 140.000 Exemplaren. Sie hatte sich zunehmend mit Sanktionen des Zentralkomitee der KPČ zu befassen. Der Chefredakteur wurde ausgewechselt, doch sein Nachfolger konnte wenig ausrichten. Auf einem Kongress des Schriftstellerverbandes im Juni 1967 übten die von Literární noviny entsandten Delegierten (drei Redakteure der Zeitschrift Ivan Klíma, Antonín Jaroslav Liehm und Ludvík Vaculík) erstmals direkte Kritik an der Parteiführung.
Staats- und Parteichef Antonín Novotný reagierte mit einer öffentlichen Erklärung, wonach der Kongress Teil einer vom Ausland gesteuerten Kampagne gegen die anstehenden Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution sei. Die KPČ befahl die Umbildung der Redaktion der Zeitschrift und verbot einer Anzahl der Kongressteilnehmer, darunter Pavel Kohout und Václav Havel, bei den Wahlen des Schriftstellerverbands zu kandidieren. Die oben genannten drei Redakteure wurden aus der Partei ausgeschlossen, andere Teilnehmer – wie etwa Kohout – erhielten Verwarnungen. Die Zeitschrift wurde dem Kulturminister Karel Hoffmann unterstellt und büßte augenblicklich ihre Funktion als Dissidentenorgan ein. Alles dies wurde jedoch als Anzeichen gesehen, dass Novotný Schwierigkeiten hatte, sich wie einst auf der Stelle durchzusetzen. So führten die Sanktionen stattdessen zu einem breiten Protest von Journalisten, Künstlern und Schriftstellern, und eine 'gesetzlich ungeregelte, aber disziplinierte Presseanarchie', die im März 1968 schließlich in der Abschaffung der Zensur gipfeln sollte, begann, sich zu entwickeln." (Wikipedia: Prager Frühling, 18.07.2015)

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 19.07.2015

     
    
   Arbeitsanregungen:
  1. Arbeiten Sie aus dem Textauszug von Philip Roth heraus, was die Aussage "Das ist eben Kafka" für den ehemaligen tschechischen Literaturprofessor Soska und andere bedeutet?

  2. Soska vergleicht sein eigenes Verhalten und das vieler anderer mit Josef K. Nehmen Sie diesen Vergleich kritisch unter die Lupe?

  3. Wie beurteilen Sie auf diesem Hintergrund Soskas Arbeit an einer Übersetzung von Moby Dick?

  4. In welchem Bezug steht die Bedeutung, die Kafka im Denken des Professors und vieler andere hat, zu der Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit im Vorfeld des so genannten Prager Frühlings?
     

 
     
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