"Es ist eine alte
Annahme, dass Lessing den Charakter des Nathan nach dem seines Freundes,
des jüdischen Philosophen »Moses Mendelssohn
1 gebildet habe. Allein
vergeblich sieht man sich nach bestimmten individuellen Zügen, die sich
beiderseits entsprechen sollen, um. Nur die allgemeine Stimmung der
sittlichen Ruhe und Milde, die auf Nathans Tun und Sprechen liegt, kann
an Mendelssohn erinnern; dessen kränkliches, gedrücktes Wesen aber in
seinem angeblichen Nachbilde ohne jeden Nachklang geblieben wäre. Nathan
ist von Hause aus eine ideale Figur, die Verkörperung einer Idee. Diese
Idee ist keine andere, als die des religiösen Standpunkts, auf welchem
Lessing stand, die Idee der Humanität, der allem Dogmenwesen
erwachsenen, in Liebe tätigen Vernunftreligion; und insofern könnte man
eher Lessing selbst, als Mendelsohn, in der Person des Nathan
wiederfinden. Jedenfalls gibt die Solidarität der Denkart, die zwischen
dem Dichter und seinem Helden stattfindet, dem Bildes des letztern eine
Lebenswärme, die dasselbe für sich schon über die Sphäre einer toten
Abstraktion erhebt. Es kommt aber hinzu dass diese Idee von dem großen
Dichter in den Körper und das Wesen eines Juden gesenkt ist. Dazu
veranlasste ihn zunächst die Erzählung2 des
»Boccaccio ; dessen
»Melchisedek
nun aber zum Nathan zu idealisieren, war ihm allerdings durch seine
Bekanntschaft mit Mendelssohn besonders nahe gelegt. »Welch ein Jude!«
sagt der Tempelherr von Nathan »und der so ganz nur Jude scheinen will!«
Dies ist auch ein Wink für den Schauspieler; freilich nicht in Nathans
Sprache den jüdischen Dialekt anklingen zu lassen, wie dies mit grober
Verkennung des Unterschieds zwischen dem idealen Schauspiel und der
Komödie schon geschehen ist; aber eine gewisse Schlauheit, die Menschen
herumzuholen, ein sich Schmiegen und Kleinmachen, um seine Zwecke, die
freilich bei ihm die reinsten und höchsten sind zu erreichen, auch in
seiner Ausdrucksweise neben der dialektischen Schärfe eine Neigung zu
Bild und Gleichnis, sind echt orientalisch-jüdische Züge (Letztere
allerdings auch wieder persönlich Lessing’sche) Züge, die der im Nathan
dargestellten Idee zu einer bestimmten ausgeprägten Verkörperung
verhelfen. Erinnerte uns oben die Erzählung von den drei Ringen an die
Geschichte mit den drei Kästchen beim »Kaufmann von Venedig, so wird man
kaum umhin können, bei dem Juden des Lessing’schen Stücks an den des
»Shakespeare’schen, freilich als das reine Widerspiel von jenem, zu
denken. Wie in »Shylock der Jude den Menschen nahezu aufgezehrt hat, so
ist bei Nathan umgekehrt der Jude bis auf wenige formelle Spuren im
Menschen aufgegangen.“
(aus: David Friedrich Strauß, Über Lessings Nathan. Ein Vortrag (1863),
in: Bohnen (Hg.) (1984), Lessings »Nathan der Weise«, S.11-45, h: S.31f.; an die moderne Rechtschreibung angepasst, G.E.)
Dieses Werk (Ueber Lesing's "Nathan" (1863), von
David Friedrich Strauß), das durch
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Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
1 Moses
Mendelssohn war ein besonders enger Freund Lessings; 1770 wurde er
von dem Schweizer Pfarrer »Johann
Caspar Lavater öffentlich aufgefordert, entweder in aller Form das
Christentum zu widerlegen oder selber Christ zu werden. Dies führte zu
einer öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Mendelssohn und Lavater,
die von ihm viel Takt, Geschick und Kraft erforderte. In dieser
Auseinandersetzung wurde er auch unter anderem von »Johann
Balthasar Kölbele öffentlich angegriffen. 1771 erlitt Mendelssohn,
wahrscheinlich im Zusammenhang mit diesen Anstrengungen, einen
psychophysischen Zusammenbruch, der ein zeitweiliges Aussetzen jeglicher
philosophischer Tätigkeit erzwang. (vgl. Wikipedia)
2 →Boccaccio,
Giovanni: Die Ringparabel (1470/71)