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Über
das Mitleid in der Tragödie von Aristoteles
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(…) Er, Aristoteles, ist es gewiss nicht, der die mit Recht getadelte Einteilung der tragischen Leidenschaften in Mitleid und Schrecken gemacht hat. Man hat ihn falsch verstanden, falsch übersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Übel eines andern, für diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, dass die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, dass wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid. (…) |
These: Die bisherige Aristoteles-Rezeption zur Tragödie bzw. Katharsis-Lehre beruht auf einem Übersetzungsfehler. These: Man fürchtet sich nicht für den anderen, im Sinne von: an seiner Stelle, sondern man fürchtet sich vor einem gleichen Schicksal. im Gegensatz zu Aristoteles sind für Lessing Mitleid und Furcht keine gleichwertigen Affekte, sondern Mitleid eine christliche Tugend. zeitgebundene empfindsame Definition von Furcht bzw. zeitgebundene empfindsame Aneignung der antiken Affektenlehre. |
Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den sich Aristoteles von dem Mitleiden gemacht hat. Er glaubte nämlich, dass das Übel, welches der Gegenstand unseres Mitleidens werden solle, notwendig von der Beschaffenheit sein müsse, dass wir es auch für uns selbst, oder für eines von den Unsrigen, zu befürchten hätten. Wo diese Furcht nicht sei, könne auch kein Mitleid stattfinden. […] |
Aristoteles’ Begriff von Mitleid (nach Lessing): Was Mitleid erregt, erzeugt auch Furcht. Furcht ist die Basis von Mitleid. |
Er erkläret […] auch das Fürchterliche und das Mitleidswürdige, eines durch das andere. Alles das, sagt er, ist uns fürchterlich, was, wenn es einem anderen begegnet wäre, oder begegnen sollte, unser Mitleid erregen würde: und alles das finden wir mitleidswürdig, was wir fürchten würden, wenn es uns bevorstünde. […] |
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Aus dieser Gleichheit entstehe die Furcht, dass unser Schicksal gar leicht dem seinigen [der tragischen Figur, d. Verf.] ebenso ähnlich werden könne als wir ihm zu sein uns selbst fühlen: und diese Furcht sei es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife bringe. |
christlich-humanitäre Umdeutung des Mitleidbegriffs angelehnt an Jean-Jaques Rousseau, für den Mitleid der Ursprung aller sozialen Tugenden darstellt |
So dachte Aristoteles von dem Mitleiden, und nur hieraus wird die wahre Ursache begreiflich, warum er in der Erklärung der Tragödie, nächst dem Mitleiden, nur die einzige Furcht nannte. Nicht als ob diese Furcht hier eine besondere, von dem Mitleiden unabhängige Leidenschaft sei, welche bald mit bald ohne dem Mitleid, sowie das Mitleid bald mit bald ohne ihr erreget werden könne; welches die Missdeutung des Corneille war: sondern weil, nach seiner Erklärung des Mitleids, dieses die Furcht notwendig einschließt; weil nichts unser Mitleid erregt, als was zugleich unsere Furcht erwecken kann |
Corneille war nach Lessing (vgl. Hamburgische Dramaturgie. 75. Stück“ ) davon ausgegangen, dass Aristoteles für seine Katharsis nicht vorausgesetzt habe, dass diese nur funktioniere, wenn in ein und derselben Handlung beide Affekte erregt und gereinigt werden könnten. „Lessing verwahrt sich damit gegen die Auslegung Corneilles, daß Schrecken und Mitleid nur die Mittel seien, mit deren Hilfe der Zuschauer von den im Drama vorgeführten Leidenschaften gereinigt werden. Damit würden gerade die beiden Leidenschaften, auf die es Lessing besonders ankommt, Furcht und Mitleid nämlich, von der Reinigung ausgeschlossen, da diese nicht im Drama vorgeführt (diese Möglichkeit gesteht Lessing zwar zu, aber nur als extremen Sonderfall), sondern im Zuschauer erregt werden. Der Unterschied zwischen Corneille und Lessing besteht aber nur vordergründig darin, daß dieser die Leidenschaften überhaupt, der letztere nur Furcht gereinigt wissen wollte. Bei Lessing erhalten Furcht und Mitleid eine andere, erweiterte Funktion (…) (W.Barner u.a.,, Lessing: Epoche ‑ Werk ‑ Wirkung, München: Verlag C.H. Beck, 5. Aufl. 1987, S. 197 ) |
Worterläuterungen:
1 Lange
Zeit war umstritten, ob Aristoteles Begriff des "phobos" mit
Schrecken oder mit Furcht übersetzt werden sollte.
2 Unter
Gleichheit versteht Lessing in diesem Zusammenhang die prinzipielle
charakterliche Ähnlichkeit der dramatischen Figuren mit den Zuschauern
als sog. "vermischte Charaktere".
3
Pierre
Corneille (1606-1684), frz. Dramatiker; wichtigster Dramatiker der
frz. Klassik (bekannteste Werke: "Le Cid", "Le menteur");
seine Tragödien (u.a. "Horace") werden zu Musterbeispielen des
die drei aristotelischen Einheiten des Dramas (des Ortes, der Zeit, der
Handlung) umsetzenden Theaterstücke der frz. Klassik.
▪ Gotthold Ephraim Lessing: Über das Mitleid in der Tragödie von Aristoteles
▪
Dramentheorie des Aristoteles
(384-322 v. Chr.)
▪
Überblick
▪
Das
Theater im Menschen- und Gesellschaftsbild von Aristoteles
▪
Wirkungsästhetische
Theorie: Katharsis
▪
Die
Kunstform der Tragödie
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 06.05.2021
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