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Bernhard Schlink: Der Vorleser

Sexueller Missbrauch oder einvernehmliche Einführung in heterosexuelle Praktiken?

Gert Egle

 
 
 

Ende Februar 1959 macht sich Michael auf den Weg, um sich auf Wunsch seiner Mutter bei Hanna Schmitz zu bedanken. Diese Begegnung ist in der Erinnerung des Erzählers deutlich in zwei Teile geteilt. An das, was sie in der ersten Zeit während seines Besuchs bei ihr in der Küche gesprochen haben, kann sich der Erzähler nicht mehr erinnern. Allerdings bemerkt er, dass Hanna während ihres Gesprächs in der Küche auch ihre Unterwäsche vor seinen Augen bügelt, was wohl mehr als seine reine Aufmerksamkeit erregt, denn trotz seines Willens nicht hinzuschauen, kann der davon seinen Blick nicht abwenden. (S.14) So sehr ist seine Wahrnehmung daran gebannt, dass er sich zwar noch daran erinnern kann, welche Kleidung sie getragen hat und wie ihre Frisur ausgesehen hat, aber kein Bild von ihrem Gesicht mehr vor Augen hat. Zwar glaubt das erzählende Ich zu wissen, dass der junge Michael das Gesicht schön gefunden habe, doch muss es versuchen, dieses Gesicht mit einer nüchternen Beschreibung zu "rekonstruieren", weil sich die späteren Gesichter Hannas über diese Eindrücke gelegt hätten. Damit wird aber zugleich auch ausgedrückt, dass die Wiedergabe des Geschehens aus der Perspektive des erlebenden Ichs, zumindest in diesem Falle, durch die Wahrnehmung des erzählenden Ichs getrübt ist.
Als sich Michael verabschieden will, beginnt der, auch durch ein neues Kapitel ausgedrückte, zweite Teil des Besuchs. Hanna will ihn, da sie selbst auch gehen muss, noch ein Stück weit begleiten. Dabei kann er, während er im Flur wartet, durch einen offen stehenden Türspalt beobachten, wie sich Hanna in der Küche die Strümpfe anzieht. Mit voyeuristischer Genauigkeit beschreibt das erlebende Ich, was es in den Bann zieht:

"Sie zog die Kittelschürze aus und stand in hellgrünem Unterkleid. Über der Lehne des Stuhls hingen zwei Strümpfe. Sie nahm einen und raffte ihn mit wechselnd greifenden Händen zu einer Rolle. Sie balancierte auf einem Bein, stützte auf dessen Knie die Ferse des anderen Beins, beugte sich vor, führte den gerollten Strumpf über die Fußspitze, setzte die Fußspitze auf den Stuhl, streifte den Strumpf über Wade, Knie und Schenkel, neigte sich zur Seite und befestigte den Strumpf an den Strumpfbändern. Sie richtete sich auf, nahm den Fuß vom Stuhl und griff nach dem anderen Strumpf." (1. Teil, Kap. 4, S. 15)

Was hier erzählt wird, trägt deutlich die "Handschrift" des erlebenden Ichs. Geradezu atemlos verfolgt der junge Michael auch die kleinste Bewegung, was sprachlich mit einer nur von Kommas unterbrochenen Aufzählung unterstrichen wird. Die erotische Wirkung dieses Motivs ist durch die Werbung, aber auch durch Filme wie "Die Reifeprüfung" (Regie: Mike Nichols, USA 1967) mit Dustin Hoffmann und Anne Bancroft hinlänglich bekannt und wird dort, allerdings in etwas anderer Form, sogar in verschiedenen Filmplakaten in Szene gesetzt.
Dass der Fünfzehnjährige bei diesem Anblick seinen sexuellen Phantasieren erliegt und Hannas Körper mit seinen Augen geradezu abtastet, ist von daher nichts Außergewöhnliches, zumal ein solcher Anblick in den sechziger Jahren, in denen die Szene spielt, wohl auch noch manch Erwachsenen "übermannt" hätte. Was damals der Seidenstrumpf, das ist wohl heute die neue "Lust" an Dessous geworden, denen - in allen möglichen Varianten - eine besondere ausgeprägte Verführungskraft zugesprochen wird.
Weniger die Tatsache, dass Michael den voyeristischen Blick genießt, bis er sich im Gefühl, von Hanna dabei ertappt worden zu sein, beschämt davonmacht, ist daher für das Verständnis der Szene wichtig. Daran ist, zumindest nach heutigen moralischen Maßstäben, wohl nicht viel auszusetzen. Die Frage ist, ob und inwieweit das Ganze von Hanna inszeniert worden ist, um den Jugendlichen in Erregung und in Scham zu versetzen.
Sieht man genauer hin, entpuppt sich das Ganze nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit so, wie es das erzählende Ich des Fünfzigjährigen später in einem anderen Zusammenhang vermutet (vgl. S. 49), nämlich als bewusste Inszenierung in einem "Machtspiel". Schon die Tatsache, dass sie vor dem jungen Mann ihre Unterwäsche bügelt, stellt sich auf diesem Hintergrund keineswegs als "normaler" Vorgang dar. Auch wenn der Erzähler davon nichts zu berichten weiß, ist doch davon auszugehen, dass Hanna spürt, in welche Aufregung allein dieses Tun den Fünfzehnjährigen versetzt. Dass sie darüber hinaus beim Umziehen bzw. Anlegen ihrer Strümpfe die Türe einen Spalt weit offen lässt, um Michael solche Blicke zu gewähren, ist Teil ihres Kalküls, das aufgeht, als sie Michael ganz unverwandt und ohne die geringste Scham in die Augen blickt. (vgl. S. 16) Nur so erklärt sich im Übrigen auch, dass sie eine Woche später, ohne dass es eigentlich erneut zu einer erotisch irgendwie aufgeladenen Kommunikation zwischen beiden gekommen ist, nackt hinter Michael steht und ihn an seinem erigierten Penis berührend erklärt: "Darum bist du doch hier!". (S.26)

In der Zeit nach seinem Erlebnis beim ersten Besuch bei Hanna durchlebt Michael Nächte, in denen seine erregenden Phantasien immer wieder zu Samenergüssen im Schlaf führen. Auch wenn nicht explizit gesagt wird, dass sich dieses Phantasien unmittelbar um Hanna drehen, so ist doch davon auszugehen, dass die "Bilder und Szenen", von denen die Rede ist, damit in Zusammenhang stehen. Diese erzeugen in dem Jugendlichen, insbesondere weil er auch bewusst solchen Phantasien nachhängt, ein "schlechtes Gewissen". (S.20) Solche Gewissensbisse sind angesichts der in dieser Zeit herrschenden Moral, die die Masturbation im Allgemeinen noch als unmoralisch, selbstsüchtig, ja widernatürlich angesehen hat. Dennoch fürchtet Michael nicht für seine "Geheimnisse der Kindheit" von Mutter und Schwester und sogar von seinem Pfarrer offenen Tadel zu bekommen, während er aber zugleich die stattdessen antizipierten liebevollen und besorgten Ermahnungen als noch größeres Übel empfindet. Hinter diesem Gefühl steht dabei wohl der Anspruch von den Erwachsenen nicht mehr als Kind behandelt werden zu wollen.
Angesichts dieser Umstände ist die vom erzählenden Ich aufgeworfene Frage danach, warum der junge Michael es dann doch unternimmt, Hanna zu besuchen, mehr als berechtigt. Allerdings zeigt sich auch bei dieser Reflexion des fünfzigjährigen Erzählers, dass seine Sicht der Dinge die Wahrnehmung des Jugendlichen deutlich überlagert. Im Nachhinein so erscheint es ihm nämlich geradewegs wie eine rational bewusste Entscheidung in einem Konflikt zwischen sexuellen Trieben und Moral, der Wunsch nach der "sündigen Tat" Ausdruck erscheint so wie ein Aufbegehren gegen die herrschende Moral. (vgl. S. 21) Auch wenn dies angesichts der "Gewissensnöte" des Fünfzehnjährigen angezweifelt werden darf, steht doch fest, dass es seine eigene Entscheidung ist, als er sich eine Woche nach ihrer ersten Begegnung wieder zu Hanna aufmacht. Allerdings spielen dabei auch andere, möglicherweise vorgeschobene Gründe eine Rolle, von denen dann im Horizont des erlebenden Ichs die Rede ist:

"Hinzugehen mochte gefährlich sein. Aber eigentlich war unmöglich, daß die Gefahr sich realisierte. Frau Schmitz würde mich verwundert begrüßen, eine Entschuldigung für mein sonderbares Verhalten anhören und mich freundlich verabschieden. Gefährlicher war, nicht hinzugehen; ich lief Gefahr, von meinen Phantasien nicht loszukommen. Also tat ich das Richtige, wenn ich hinging. Sie würde sich normal verhalten, ich würde mich normal verhalten, und alles würde wieder normal sein." (S.21)

Kein Wunder, dass derartige Überlegungen dem erwachsenen Michael Berg wie "Vernünfteleien" vorkommen, mit denen er als Jugendlicher sein "schlechtes Gewissen zum Schweigen gebracht" habe. Zugleich aber spürt das erzählende Ich heraus, dass diese allein die Entscheidung, Hanna erneut aufzusuchen, nicht hinreichend motivieren bzw. erklären können. So stellt der Erzähler ernüchtert fest: "Ich weiß nicht, warum ich es tat." (S. 21) Die Erklärung dafür sieht er in einem sein ganzes Leben durchziehenden Muster von Denken und Handeln: "Ich denke, komme zu einem Ergebnis, halte das Ergebnis in einer Entscheidung fest und erfahre, daß das Handeln eine Sache für sich ist und der Entscheidung folgen kann, aber nicht folgen muß. [...] Es, was immer es sein mag, handelt; es fährt zu der Frau, die ich nicht mehr sehen will [...]". (S.21f.) Das Handeln hat, so führt er weiter aus, für ihn stets "seine eigene Quelle" und folgt für ihn erfahrungsgemäß nicht zwingend aus einem kognitiven Entscheidungsprozess.

Als Michael von Hanna aufgefordert wird, seine Sachen auszuziehen, zögert Michael zunächst, überwindet aber, als er bemerkt, dass die Badewanne fast vollgelaufen ist, seine natürliche Scham. Doch als Hanna entgegen ihrer Versicherung, sie werde nicht hinschauen, ihn doch genau mustert, wird er rot. Nachdem er sich in Abwesenheit Hannas selbst den Schmutz vom Körper abgewaschen hat, spürt er eine Erektion, die er auf das Gefühl eines nicht näher bezeichneten "erregenden Behagens" zurückführt. (S.26) Die Tatsache, dass er diese Regung in dieser Situation keineswegs mit Hanna verbindet, zeigt, dass er sich den sexuellen Kontakt mit Hanna eigentlich überhaupt nicht vorstellen kann, nicht vorstellen will oder aber eine solche Vorstellung nicht zulassen kann. So wendet er Hanna, als diese mit einem Badetuch zurückkommt und ihn abtrocknen will, schamhaft den Rücken zu, als sie ihn abtrocknet. Wie gelähmt bleibt er stehen, als sie damit fertig ist, womöglich aus Scham ebenso wie wegen Erwartung, was nun passieren würde. Jedenfalls gewinnt man den Eindruck, dass das Abtrocknen von ihm als erstes Signal für Hannas sexuelles Interesse an ihm gedeutet wird. Als er dann spürt, dass sich Hanna ebenfalls auszogen hat und sie ihm zugleich unterstellt, dass der Wunsch nach Sex mit ihr ja schließlich das Motiv seines Besuches sei, ist er völlig konsterniert und sprachlos. So bleibt er von der Situation und dem Anblick der nackten Frau, nachdem er sich umgedreht hat, so überwältigt, dass er lediglich eine Äußerung über ihre Schönheit herausbringt, die von Hanna mit der Bemerkung: "Ach, Jungchen, was redest du." abgetan wird. Stattdessen beginnt sie mit Liebkosungen des Jungen, die bei Michael zunächst Angst auslösen, eine Angst, die in der Vorstellung gipfelt, dass er "ihr nicht gefallen und nicht genügen würde." (S.27) Damit bricht sich auch die Angst Bahn, den Ansprüchen Hannas im Allgemeinen und im Sexuellen im Besonderen als unerfahrener Jugendlicher nicht entsprechen zu können, die Angst davor, als Versager dazustehen, wie er dies später einmal, in einem allerdings anderen Kontext, selbst formuliert ("Oder wollte sie keinen Versager als Geliebten?", S. 37)
Die erste sexuelle Begegnung zwischen den beiden ist damit von Hanna bewusst herbeigeführt worden. Sie hat, wie das erzählende Ich später für einen Moment zu sehen scheint, das Ganze bewusst arrangiert (vgl. S. 49) und nach ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen gestaltet. Für etwas anderes als Sex, das ist schon hier klar, ist in der Beziehung der beiden kein Raum. Das zeigt auch Hannas Verwendung des Diminutivs "Jungchen", das Michael die Gleichberechtigung abspricht und seine erwachsene Potenz abwertet. Das "Jungchen" wird damit der erwachsenen Sexualität Hannas unterworfen, wird zu deren bloßem Objekt degradiert und damit auch Opfer sexualisierter Gewalt, auch wenn weder das erlebende, noch das erzählende Ich dies in seiner Tragweite wirklich wahrhaben wollen.

In der Nacht nach dem ersten Geschlechtsverkehr mit Hanna hat sich Michael, wie er nüchtern berichtet, "in sie verliebt." (S.28) Das scheinen ihm die Gefühle und Regungen zu signalisieren, die ihn in dieser Nacht überwältigen: "Ich schlief nicht tief, sehnte mich nach ihr, träumte von ihr, meinte, sie zu spüren, bis ich merkte, daß ich das Kissen oder die Decke hielt. Vom Küssen tat mir der Mund weh. Immer wieder regte sich mein Geschlecht, aber ich wollte mich nicht selbst befriedigen. Ich wollte mich nie mehr selbst befriedigen. Ich wollte mit ihr sein." Hin und hergerissen von seinen sexuellen Phantasien bietet er seine ganze Selbstbeherrschung auf, um sexuelle Befriedigung durch Onanie zu vermeiden. Angesichts dessen erscheint die Erklärung, er habe sich in Hanna verliebt, kaum mehr als ein Deutungsmuster darzustellen, die diese Empfindungen des pubertierenden Jugendlichen legitimieren sollen.
So ähnlich scheint auch der 50-jährige Michael Berg das Ganze zu sehen, auch wenn er auf die Frage, ob er sich nur in Hanna verliebt habe als Preis dafür, dass sie mit ihm geschlafen habe, eigentlich keine direkte Antwort weiß.
Immerhin kommt ihm in Erinnerung, dass er bis hin zur Erzählergegenwart als 50-Jähriger nach dem Sexualverkehr mit einer Frau stets das Gefühl habe, er sei "verwöhnt" worden und müsse es auf zweierlei Weise "abgelten". Zum einen dieser Frau gegenüber, die er - auch bei gegenteiligen Empfindungen - geradezu zwanghaft zu lieben versuche, zum anderen gegenüber der Welt, deren Anforderungen er dann besonders penibel erfüllen wolle. ("Bis heute stellt sich nach einer Nacht mit einer Frau das Gefühl ein, ich sei verwöhnt worden und müsse es abgelten - ihr gegenüber, indem ich sie zu lieben immerhin versuche, und auch gegenüber der Welt, der ich mich stelle.", S. 28) Sexuelle Kontakte mit Frauen hinterlassen in der Zeit nach Hanna, daran lassen diese Ausführungen keinen Zweifel, Schuldgefühle bei Michael Berg, und zwar ein Leben lang. Psychische Spätfolgen eines Mannes, der als Jugendlicher selbst Opfer sexuellen Missbrauchs geworden ist?
Die "Antwort", die sich das erzählende Ich auf seine selbst gestellte Frage zu geben versucht, rekurriert auf ein Kindheitserlebnis. Als kleiner Junge im Alter von vier Jahren, so berichtet das erzählende Ich, sei er an kalten Wintertagen in der geheizten Küche von seiner Mutter gewaschen und angezogen worden. Dabei habe er stets ein "wohliges Gefühl der Wärme" empfunden (S.29). Dieses Geschehen ist ihm aber keineswegs so ungebrochen positiv in Erinnerung geblieben. Und dies ist auch der Grund, weshalb er in seinem Leben offenbar häufiger daran denken muss: "Ich erinnere mich auch, daß wann immer mir die Situation in Erinnerung kam, ich mich fragte, warum meine Mutter mich so verwöhnt hat. War ich krank? Hatten die Geschwister etwas bekommen, was ich nicht bekommen hatte? Stand für den weiteren Verlauf des Tages Unangenehmes, Schwieriges an, das ich bestehen mußte?" (S.29) Von Kindheit an, so scheint es, hat sich damit ein Schema ausgebildet, das körperliche Zuwendung als nicht verdiente Verwöhnung interpretiert und den Genuss an der Verwöhnung mit Schuldgefühlen und Selbstzweifeln bestraft, die mit bestimmten Verhaltensweisen abgegolten bzw. gemildert werden können. In dieses Muster fällt auch das Verhalten Michaels nach seinem ersten sexuellen Verkehr mit Hanna. Als er nämlich am nächsten Tag wieder zur Schule geht, tut er es auch "für die Frau", die ihn "so verwöhnt hatte". (S.29)

Die ersten sexuellen Erfahrungen, die Michael mit Hanna macht, sind einseitig von Hanna und ihren Bedürfnissen bestimmt und hinterlassen bei Michael ein Gefühl der Verunsicherung. Er kann nämlich nicht recht einschätzen, welche Bedeutung das Ganze für die 21 Jahre ältere Frau überhaupt gehabt hat. Noch nach sechs oder sieben Tagen, an denen sie schon Geschlechtsverkehr miteinander hatten, quälen das erlebende Ich die zwei Fragen: "Aber war ich ihr Geliebter? Was war ich für Sie?" (S.36) Fragen, die zeigen, dass der junge Michael sich eigentlich über die Gründe, die zur Aufnahme sexueller Beziehungen geführt haben, und die Motive für deren Beibehaltung völlig im Unklaren ist. Noch ist er aber auch noch nicht bereit, seine Gefühle für Hanna mit einem Liebesbekenntnis auszudrücken ("Zuerst wollte ich sagen: Ich liebe dich. Doch dann mochte ich nicht.", ebd.) Zwischen beiden ist, das spürt der Fünfzehnjährige heraus, bis dahin, aller sexueller Begegnungen zum Trotz, keine Nähe und auch kein Vertrauen entstanden. Sie kennen nicht einmal ihre Namen und als Michael "die Frau" - so nennt er sie noch am Anfang des 8. Kapitels!-  danach fragt, gibt Hanna diesen erst nach einem misstrauischem Zögern preis.

Etwa eine Woche nach der ersten sexuellen Begegnung reflektiert Michael Berg in der Rolle des erlebenden Ichs m 8. Kapitel des 1. Teils über seine bis dahin gemachten sexuellen Erfahrungen mit Hanna:

"Ich hätte das Duschen lieber gelassen. Sie war von peinlicher Sauberkeit, hatte morgens geduscht, und ich mochte den Geruch nach Parfum, frischem Schweiß und Straßenbahn, den sie von der Arbeit mitbrachte. Aber ich mochte auch ihren nassen, seifigen Körper; ich ließ mich gerne von ihr einseifen und seifte sie gerne ein, und sie lehrte mich, das nicht verschämt zu tun, sondern mit selbstverständlicher, besitzergreifender Gründlichkeit. Auch wenn wir uns liebten, nahm sie selbstverständlich von mir Besitz. Ihr Mund nahm meinen, ihre Zunge spielte mit meiner, sie sagte mir, wo und wie ich sie anfassen sollte, und wenn sie mich ritt, bis es ihr kam, war ich für sie nur da, weil sie sich mit mir, an mir Lust machte. Nicht dass sie nicht zärtlich gewesen wäre und mir nicht Lust gemacht hätte. Aber sie tat es zu ihrem spielerischen Vergnügen, bis ich lernte, auch von ihr Besitz zu ergreifen.
Das war später. Ganz lernte ich es nie. Lange fehlte es mir auch nicht. Ich war jung, und es kam mir schnell, und wenn ich danach langsam wieder lebendig wurde, ließ ich sie gerne von mir Besitz nehmen. Ich sah sie an, wenn sie über mir war, ihren Bauch, der über dem Nabel eine tiefe Falte warf, ihre Brüste, die rechte ein winziges bißchen größer als die linke, ihr Gesicht mit dem geöffneten Mund. Sie stützte ihre Hände auf meine Brust und riß sie im letzten Moment hoch, hielt ihren Kopf und stieß einen tonlos schluchzenden, gurgelnden Schrei aus, der mich beim ersten Mal erschreckte und den ich später begierig erwartete.
Danach waren wir erschöpft. Oft schlief sie auf mir ein." (S.33f.)

Michael kann mit dem von Hanna ständig wiederholten Duschen und der peniblen Körperreinigung wenig anfangen. Mehr noch: Ginge es nach ihm, dann wäre ihm der Alltagsgeruch Hannas viel lieber. Auch wenn sich Michael darüber an dieser Stelle keine weiteren Gedanken macht, scheint er doch zu spüren, dass die "echte", in den Gerüchen und den Handlungen der Erwachsenwelt agierende Hanna damit, sobald sie sich begegnen, in eine neue Rolle schlüpft, ohne diese für Michael verständlich zu definieren. Andererseits überlagern die in diesem Reinigungsritual vorgenommenen Handlungen, die für Michael stets auch ein Erkunden des weiblichen Körpers unter sexueller Erregung bedeuten, solche Widerstände gegen das Duschritual. Michael betont, dass er selbst gerne von Hanna eingeseift worden sei und er diese gerne eingeseift habe.

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