Die Räuber
Schauerlich stand das Ungetüm da;
gespannt war der Bogen,
Und der Pfeil auf der Senn'
traf noch beständig das Herz.
Schiller.
Mit gewaltiger Energie tritt Schiller auf den dramatischen Schauplatz. Er
ergreift einen Stoff, den ein anderer württembergischer Dichter, Christian
Schubart, in novellistischer Form dargeboten hatte; aber er steigert die
dort spannende und rührende Handlung zum Erschütternden und
Niederschmetternden, und er leitete in sie eine Flut wilder, an alle Grenzen
des Menschlichen anbrandender Leidenschaft.
Im »schwäbischen Magazin« hatte Schubart jene Erzählung von Kurland Wilhelm,
den beiden Söhnen eines Landedelmanns, erscheinen lassen und sie einem
jungen »Genie« zur dramatischen Behandlung empfohlen. Der Gegensatz zwischen
einem liebenswürdig-genialen und einem egoistisch-korrekten Bruder ist hier
schon das Grundmotiv; Karls leichtsinniges Treiben gibt Wilhelm die
Handhabe, ihn mit der Familie zu entzweien; aber als nun Wilhelm seine
tückischen Intrigen auch gegen den Vater richtet, da ist es der verkannte
Sohn, welcher den Vater rettet, den verbrecherischen Bruder aber allzu
gutmütig der zweifelhaften Strafe seines Gewissens überläßt. Das Ganze ist
nach Auffassung und Darstellung mittelmäßig; der Stoff aber wohl geeignet,
von einem kräftigen Bearbeiter zu großer Wirkung gebracht zu werden.
Instinktiv ahnte Schiller das; welche tragische Gewalt konnte nicht den
Konflikten zwischen Bruder und Bruder, zwischen Sohn und Vater gegeben
werden! welche rücksichtslosere Verkündigung des Freiheitsdranges ließ sich
denken, als den Feind des Gesetzes zum Helden zu erheben, den äußerlich
Korrekten als Verbrecher zu brandmarken. Und Schiller wandte maßlos
vorwärtsstürmend alle denkbaren Steigerungen an: der Leichtsinnige muhte zum
Haupt einer Räuberbande, zum mehrfachen Mörder werden! Der Korrekte zum
Scheusal, das den Vater, welchen der Schreck nicht tötet, dem Hungertode
preisgibt. Aber freilich dieser Leichtsinnige mordet nicht aus Leichtsinn,
sondern er wird zum erhabenen Richter, der über allem Gesetze steht und
urteilt, – und der Korrekte beschönigt seine Taten nicht durch die
Selbsttäuschung des Egoismus, sondern er ist der abgefeimteste Heuchler, der
zuerst in Selbstgesprächen mit diabolischem Spott vernichtet, was er
äußerlich zu achten vorgibt, und dann jede Maske abwirft, als er kraft des
Gesetzes Despot sein darf. Menschlich sind diese Erscheinungen nicht mehr,
obgleich sie aus irdischen Stoff geformt sind; sie erheben sich in das
Gebiet der souveränen Phantasie. Wenn sie uns doch menschlich erscheinen, so
ist es die Frucht der hinreißenden dramatischen Kraft und Kunst des
Dichters.
Aber eben durch diese grandiose Phantastik erhebt sich Schiller weit über
die Sturm- und Drang-Dichter, die ihm vorausgingen, über die Lenz und
Klinger und Müller. Trotz allem Kraftaufwand bleiben deren Gestalten doch
gewöhnliche Menschenkinder, die nur ein unwahrscheinliches Register von
Kraftworten und eine unwahrscheinliche Leistungsfähigkeit der Lunge
besitzen. Die Gewöhnlichkeit wäre an sich noch kein Unheil, aber der
überflüssige Aufwand wird zum Unheil. Bei Schiller aber ist er nicht
überflüssig; seine Flügel schleifen nicht am Boden hin, sondern sie heben
ihn wirklich in die Lüfte.
Aber freilich spüren wir zugleich deutlich die enge und drückende Umgebung,
die erstickende Atmosphäre, in welcher das Stück entstanden ist. Etwas
Gewaltsames hat diese Erhebung, etwas Überreiztes diese Leidenschaft; sie
ist nicht der Ausdruck des wahren Innenlebens des Dichters, sondern sie ist
durch eine krampfhafte Anspannung seiner Nerven hervorgebracht, in der er
sich für die sonst ihm aufgezwungene bleierne Ruhe und künstliche
Gleichförmigkeit entschädigt. In wie kümmerlich zusammengegeizten Stunden
wurden die »Räuber« gedichtet. Nicht nur der Arbeit wurden diese Stunden
abgerungen, sondern noch mehr der Wachsamkeit der Aufsichtsbeamten, von der
ja auch der angehende Medicus immer noch abhängig gewesen war. So vergingen
denn auch mehrere Jahre, in denen das Stück Schillern innerlich gewiß
unausgesetzt beschäftigte, ohne daß es große äußere Fortschritte machte, und
erst im letzten akademischen Jahr wuchs es und entfaltete es sich, von nicht
mehr zu bändigendem Schaffensdrang hervorgetrieben.
Denn ein wahrhafter poetischer Trieb ist hier wirksam, nicht etwa nur der
gewaltsame Wunsch des Unterdrückten nach freiem Ausströmen seines Denkens
und Empfindens. So oft auch der Dichter in seinem Karl Moor die eigene Seele
reden, in seinem Franz Moor sein eigenes Widerspiel sich entfalten läßt, die
Gestalten haben doch ihr eigenes Leben, und sie interessieren den Dichter um
ihrer selbst willen. Sie rangen in ihm lange nach Gestaltung und mußten sie
endlich gewinnen. Und so auch eine Anzahl scharf geschauter Personen zweiten
Ranges: ein Spiegelberg und Schweizer, Daniel und Pastor Moser. Am wenigsten
möchte man es von der einzigen weiblichen Gestalt des Stückes glauben, von
Amalia; sie hat am wenigsten persönliches Leben, erscheint künstlich
geschaffen, um die feindlichen Brüder auch in der Liebesleidenschaft
feindlich aufeinander treffen zu lassen. Schiller, der Karlsschüler, war
ganz ohne Kenntnis des weiblichen Geschlechts aufgewachsen, und so hat er es
auch in seinem Erstlingswerk mit der einzigen, für den Plan des Ganzen
unumgänglichen Frauengestalt genug sein lassen.
Historisches Kostüm erhielt das Stück nur spärlich. Dem jungen Dichter
fehlte die Kenntnis der Vergangenheit ebenso wie die der Außenwelt. Wir
sollen in die Zeit des siebenjährigen Krieges versetzt werden; aber wir
bleiben ungläubig, wenn wir von der Schlacht bei Prag hören. So gesättigt
»Minna von Barnhelm« im Großen und Einzelnen mit dem Geist und Duft des
»Fritzischen Zeitalters« ist, so leer davon sind »Die Räuber«. Nebelhaft wie
die »böhmischen Wälder« bleiben die tatsächlichen Zustände, in welchen die
Personen sich bewegen. Ohne große Schwierigkeit konnte das Stück nach dem
Wunsch Dalbergs auf der Mannheimer Bühne in die Zeit Maximilians I.
zurückverlegt werden.
Um die dramatische Form hatte Schiller nicht viel zu sorgen. Man hatte sich
ja seit einem Jahrzehnt in der Pose des Originalgenies gefallen und alle
dramatischen »Regeln«, als ob sie bloß erkünstelte Machwerke wären, mit Hohn
beiseite geworfen. Je mehr die bloße Laune des Dichters tollte und sich
austobte, um so besser! Auf diese Weise waren Dramen natürlich nicht
zustande gekommen, sondern Capricen in dialogischer Form; »Därme mit Sand
gefüllt«, die für »Stricke« verkauft wurden. Es ist das beste Zeichen für
Schillers angeborenes dramatisches Talent, daß er trotz dieser
schrankenlosen Freiheit, die er sich gewähren durfte, dennoch ein Werk
erschuf, das allen wesentlichen dramatischen Forderungen entsprach und eine
glänzende dramatische Wirkung übte. Ohne es selbst zu wissen und zu wollen,
gab er den »Räubern« eine trefflich sich aufbauende und vollendende
dramatische Handlung.
Mit großer Geschicklichkeit und Sicherheit werden wir sogleich in medias res
versetzt. Hier kann man nicht schulmäßig »Exposition«, »erregendes Moment«,
»Anfang der Handlung« scheiden; die erste Szene gibt nun alles zugleich.
Ohne jede Einleitung hebt sie mit Franz' verleumderischem Betrug an. Was ihn
dazu gerade in diesem Augenblick veranlaßt, erfahren wir freilich nicht,
obgleich es dem Dichter leicht gewesen wäre, Franz es erwähnen zu lassen,
daß eben ein reuiger, die Versöhnung in Aussicht stellender Brief des
Bruders angekommen ist. Aber wir fragen auch nicht nach Franz' Motiven: der
schleichende, giftmischende Schurke hat offenbar seinen Plan lange mit sich
herumgetragen, ihn sorglich gehegt und ausreifen lassen, er führt ihn aus,
sobald er mit sich selber ins Reine gekommen ist, ohne daß es eines äußeren
Anlasses bedarf. Und dieselbe Szene zeigt uns auch schon den entscheidenden
Erfolg des tückischen Anschlags; die Erlaubnis, an den Bruder in des Vaters
Namen zu schreiben, daß er seine Hand von ihm abziehe. Wie trefflich wird
aber zugleich dafür gesorgt, uns mit der ganzen Luft und Beleuchtung dieses
häuslichen Lebens, mit der ganzen Vorgeschichte der beiden Brüder bekannt zu
machen! Wir sehen das ungleiche Paar von Kindesbeinen an in unversöhnlichem
Gegensatz. Franz, schon von der Natur vernachlässigt, häßlich gebildet,
fühlt sich als der Jüngere noch mehr benachteiligt. Aber er lernt seine
Empfindung, seinen Ingrimm, seine Hoffnungen hinter einer festen Maske still
verbergen. Man nennt ihn trocken, kalt und hölzern, einen Alltagsmenschen;
gern erträgt er das; denn es schützt ihn vor jedem Argwohn, daß er
hochfliegende, gar verbrecherische Gedanken hegen könnte. Mit dem Neid der
Impotenz schaut er auf den glänzend begabten, alles hinreißenden Bruder;
aber er fühlt in sich zugleich eine Fähigkeit des Verstandes, die diesen
Bruder zwar nicht begreifen, aber trotzdem überlisten kann. Dagegen Der!
Niemals hat er aus seinem Herzen eine Mördergrube gemacht. Kirchen und
Predigtbücher hat er geflohen, mit den Dorfkindern umhergetollt, den Mädchen
nachgestellt; aber alles hat man ihm verziehen; denn er hatte ein gutes
Herz, das sich immer wieder einzuschmeicheln wußte und das dem Vater ein
paar Pfennige abquälte, nur um sie einem Bettler zu schenken. Er hatte
zugleich einen feurig lodernden Geist, der bald in verzückter Schwärmerei,
bald in kühnen Gedanken und Entwürfen sich kund tat, der einen »großen Mann«
zu verheißen schien. Er war der Stolz, zugleich die Stärke und Schwäche
seines Vaters. Eigene Stärke besaß der früh gealterte Graf nicht, und seine
Schwäche wurde durch die törichte Verliebtheit in seinen Sohn noch
schwächlicher. Dieser regierende Graf, Maximilian von Moor, ist eine äußerst
jammervolle und nicht recht überzeugende Figur. Wie es in seiner Grafschaft
aussehen mag, erfahren wir glücklicherweise nicht; aber bedauerlicherweise
auch nicht, wodurch er vor der Zeit zu einem so kläglichen Schwachkopf
geworden ist; ebensowenig hören mir etwas von seiner verstorbenen Gattin,
und die Bedeutung, welche sie für die Erziehung der heranwachsenden Söhne
gehabt. Aber sicherlich werden die wenigsten Leser nach alledem fragen; das
Bild des Greises, das die erste Szene uns zeichnet, packt unmittelbar und
genügt uns für den Augenblick; erst eine spätere Reflexion läßt uns
bemerken, daß dieser alte Herr doch eine unwahrscheinliche Hilflosigkeit
gegenüber der frechen und plumpen Lüge seines Sohnes an den Tag legt. Für
den dramatischen Fortgang des Ganzen aber war diese sorglose Unbekümmertheit
des Dichters ein Vorteil. Hätte er einen kräftigen und umsichtigen Vater
gezeichnet, so wäre eine viel kompliziertere, kunstvolle Intrige nötig
geworden, um ihn zu umgarnen. Und sie darzustellen hätte unser Interesse nur
störend abgezogen von dem, was doch die Hauptsache ist: dem Verhältnis der
beiden Brüder zueinander und der tragischen Steigerung von Karls Schicksal,
die daraus hervorgeht. Die Betörung des Vaters kann noch als eine
Voraussetzung betrachtet werden, die man dem Dichter zugeben muß. Es zeigt
sich hier schon im Anfang von Schillers dramatischem Schaffen, was Goethe
treffend als ein Hauptkennzeichen desselben erkannt hat: die
Gleichgültigkeit gegen eine ins Einzelne gehende Motivierung; er stellte
seine Anforderungen an das Publikum und verlangte, daß es ihm ohne weiteres
folgte. –
Auch in dem Monolog, den Franz dem davonwankenden Vater nachspricht, hat
sich der Dichter mit Motivierung nicht viel abgegeben; Franz redet hier als
ein geübter Virtuose des Verbrechens. »Da müßt ich ein erbärmlicher Stümper
sein, wenn ich's nicht einmal so weit gebracht hätte, einen Sohn vom Herzen
des Vaters loszulösen.« Wir erfahren nicht, worin die Übungen bestanden, die
ihn so herrlich weit gebracht haben. Aber wir können uns leicht denken,
welche Minir- und Intrigir-Arbeit er seit Jahren vollbracht haben mag, um
langsam sich an die Stelle des früher so bevorzugten Bruders zu bringen. Und
im ganzen betrachtet ist Franz' konsequente Bosheit mehr motiviert als die
eines Jago; der Besitz der Grafschaft, der für ihn schlechtweg das
Herrschertum bedeutet, ist schon ein lockendes und anspornendes Ziel.
Weniger begründet scheint, daß die Reflexionen, mit denen Franz alle
Einwände – Gewissensbedenken dürfen wir nicht sagen – abzuwehren sucht, von
einer cynischen, naturwissenschaftlichen Betrachtung eingegeben sind. In
diesen Sarkasmen über die Zufälligkeit der Vaterschaft und Verwandtschaft
redet mehr der angehende Mediziner als der herrschsüchtige Junker. Aber
diese Ausführungen kann man auch beiseite lassen, ohne daß die Sicherheit
und Klarheit des Charakters und seiner Entschlüsse etwas verlöre. »Jeder hat
gleiches Recht zum Größten und Kleinsten, Anspruch wird an Anspruch, Trieb
an Trieb und Kraft an Kraft gerichtet. Das Recht wohnt beim Überwältiger,
und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze.« Dieser brutale
Egoismus, diese Herrenmoral braucht überhaupt keine verlogene philosophische
Begründung; sie erklärt sich von selbst aus den Tiefen der niederen Triebe
der menschlichen Natur, welche durch keine ideale Erhebung geläutert worden
ist. Und nun werden wir im höchsten Kontrast zu dem anderen Bruder geführt,
der wahren, geborenen Herrschernatur, »jeder Zoll ein König«, die aber
nichts anderes denkt, als diese Kraft im Dienst ihrer Ideale zu verwenden,
freilich in wilder Verzweiflung und nur mit Feuer und Schwert. Aber als sein
Verhängnis erblicken wir auch neben ihm den Gefährten, der niedrig und
kleinlich in seinem kümmerlichen Ehrgeiz auch den großen Genossen, der ihn
verachtet, unbemerkt herabzuziehen weiß. Und wir erkennen darin das
tragische Los des Helden, der statt hohe Ziele zu erfliegen, zuletzt im Ekel
vor seiner eigenen Existenz enden wird,' der Idealgesinnte findet in der
realen Welt nur Ausgestoßene als Gefährten. – Auch ehe der vom Bruder
entsandte Giftpfeil ihn trifft, steht Karl Moor vor der Notwendigkeit eines
schweren Entschlusses. Er muß sich entscheiden, ob er sein bisheriges
wildes, aller Sitte spottendes Leben aufgeben oder ob er sich den
Forderungen der Außenwelt fügen will. Die Gedanken jagen sich ruhlos in ihm.
Bald beteuert er, er könne seinen Willen nicht in Gesetze schnüren (»Das
Gesetz hat noch keinen großen Mann gemacht; aber die Freiheit brütet Kolosse
und Extremitäten aus.«), bald erklärt er, daß alles Glück ihn in der
Zurückgezogenheit des väterlichen Heimes erwarte. Hier wird auch zum
erstenmal der Name »Amalia« genannt, völlig überraschend für den Leser, der
in der langen Szene im Moorschen Schloß von dem Mündel des alten Grafen, von
der Geliebten Karls noch nichts erfahren hat. In ihre Arme will der Verirrte
zurückkehren, und damit wird auch seine Rückkehr in die Hürde der
Gesetzlichkeit unbedingt entschieden sein. Und nun trifft die Antwort auf
seinen reuigen Brief ein! Wie ist es möglich, fragen wir, daß er die
niederträchtige, von Franz' Hand geschriebene Epistel für die
Willensäußerung des Vaters halten kann, er, der doch Vater und Bruder
genugsam kennen muß! Es erklärt sich das nur aus seiner vorhergehenden
Stimmung. Trotz einer sehnsüchtigen Anwandlung, »den verlorenen Sohn zu
spielen«, ist er im Grunde doch schon überzeugt, daß von der Seite der
Gesetzlichkeit her nur Bosheit und Grausamkeit ausgehen könne. Wohl hat er
von seinem Vater anderes erwartet; aber nun, da er die verhängnisvollen
Worte gelesen, bestätigen sie ihm doch nur sein allgemeines Urteil über die
Menschen, »die heuchlerische Krokodilbrut«, »die Küsse auf den Lippen und
Schwerter im Busen« tragen! Er wirft den Vater zu den übrigen; »auf sich
selber stellt er sich ganz allein«, und nur die nimmt er als Mithelfer an,
die gleich ihm der Welt Krieg ansagen. Und das Verhängnis umstrickt ihn
immer fester. Jene Leute, die ihn als Räuber mit sich reißen, die ihm
zugleich als ihrem Hauptmann zujauchzen, sie meiden nicht sengen und morden,
nur um einen heiligen Zorn wider die Niedertracht auszutoben, sie werden
allen ihren Lüsten fröhnen und ihn schließlich auch herabziehen oder
vernichten. Noch fühlen sie die Kluft nicht; nur der eine, der ihn von
Anfang an umschmeichelt und sich selbst mit der Hoffnung der Hauptmannschaft
geschmeichelt hat, Spiegelberg weiß, woran er mit Karl Moor ist, und will
bald »ihm hinhelfen«, – wenn er nur den Mut dazu findet. Die übrigen Räuber
sind paarweise charakterisiert; zu Spiegelberg passen Razmann und
Schufteile; Moors treueste Gefährten, wenn sie auch seinen Geist nicht
fassen, sind Schweizer und Roller; in der Mitte stehen die indifferenten
Grimm und Schwarz; sie repräsentieren, wie man richtig gesagt hat, die
Masse. Mit dem feurigen Aufruf Moors an die ihm so ungleichen Gefährten, mit
dem Schwur auf Leben und Tod, den er ihnen abfordert, sind mir auf die Höhe
der dramatischen Wirkung emporgerissen; gerne würden mir hier in einer
Ruhepause aufatmen; aber der Dichter, statt den Akt nun zu schließen, führt
uns noch einmal in das Grafenschloß zurück, um eine Szene vorzuführen, die
er leicht mit dem Anfang des zweiten Aktes hätte zusammenziehen können, und
die in der Tat stark abfällt. Ist ohnehin schon Amalia die wenigst gelungene
Figur des Dramas, so ist besonders ihr Verhältnis zu Franz, das sich ohne
jede Entscheidung durch Jahre hinzieht, dramatisch völlig uninteressant.
Vermutlich wünschte Schiller Amalia noch im ersten Akt auftreten zu lassen;
das wäre aber besser im Anschluß an die erste Szene geschehen. Franz'
Versuch um Amalia zu werben aber würden wir gerne hier noch missen; es ist –
zum mindesten – gar zu verfrüht, als daß der schlaue Menschenkenner selbst
schon auf einen Erfolg rechnen dürfte. Auch die Mittel, die er anwendet,
sind so wenig verlockend, bald leicht durchschaubar, bald wahrhaft
ekelerregend, daß man sie einem Franz und seiner abgefeimten List nicht
zutrauen kann. Die ganze Szene scheint das Produkt einer sehr unglücklichen
Stunde zu sein, wie sie Schiller in seiner gewaltsamen Produktion zwar mit
Heftigkeit zu überwinden wußte, ohne doch den so entstandenen Szenen
wirkliches Leben einhauchen zu können. Daß Amalia in ihren Stimmungen
während des Auftritts mit Franz unglaubwürdig schnell wechselt, ja von einem
Extrem ins andere hinüberstürzt – sie umarmt sogar Franz – das erscheint
weniger überraschend; denn diese ganze Gestalt ist überhaupt nur durch eine
Folge leidenschaftlicher Effekte charakterisiert und gelangt im ganzen
Verlauf des Stückes nicht zu klarem und festem Handeln. Wohl lebt in ihrem
Herzen unerschütterliche Treue für Karl; aber sie weiß sich nicht so zu
äußern, wie sie das Recht gegenüber der Welt hätte. Elf Monate liegt sie dem
Alten hart an mit Vorwürfen und Klagen wegen Karls Verbannung, ohne doch
etwas erreichen zu können.
Wir bleiben nun im Moorschen Schlosse, um im zweiten Akt Franz'
Vernichtungswerk in einer Reihe meisterhafter Auftritte zu verfolgen. Sein
erster Monolog ist wieder stark medizinisch, sonst aber von einer
hinreißenden dramatischen Bewegung des forschenden, endlich zum Ziel
dringenden Selbstgesprächs, seine Unterhaltung mit dem halbbürtigen Junker
Hermann zeigt ihn uns in der überlegenen Menschenkenntnis und in der Kunst
der Menschenbehandlung. Der unglückliche Hermann ist ein echter Halbmensch,
der von vornherein nur bestimmt ist, einem so völlig ganzen Gewaltmenschen
wie Franz kläglich als Spielball zu dienen. Er geht auf Franz' Pläne ein und
durchkreuzt sie reumütig selber; Amalia wird ihm in Aussicht gestellt, aber
eine »Stallmagd« ist das einzige, was der gestrenge Herr ihm gönnen wird.
Etwas unwahrscheinlich ist die Art seines Auftretens in der folgenden
Verkleidungsszene; man darf nicht fragen, wie er oder Franz (der ihm ein
Paket überreicht hat) so schnell alles Notwendige beschafft haben; schlimmer
ist es, daß der Degen, auf welchem in Karls Zügen eine blutige Schrift
gemalt worden ist, Amalien als ein vollgültiges Zeugnis erscheint. Wie kann
sie die Worte: »Franz, verlaß meine Amalia nicht«, und »Amalia! deinen Eid
zerbrach der allgewaltige Tod« glaubwürdig finden! Wie kann sie ausrufen:
»Er hat mich nie geliebt.« Auch hier ist ihr Charakter ungenügend
gezeichnet. Erschütternd dargestellt aber ist die Wirkung, welche die
Botschaft auf die Seele des Vaters hervorbringt! Wie er in wilde
Selbstvorwürfe ausbricht, daß sein Fluch den Sohn in den Tod gejagt, wie der
Schreck aber doch nicht ihm den von Franz ersehnten letzten Augenblick
bereitet, wie dann Franz in seiner Enttäuschung sich zu schamloser Frechheit
hinreißen läßt und dem Alten nun die Augen über seinen Henker aufgehen und
er zürnend die kraftlose Hand gegen ihn erhebt, um von ihm brutal
zurückgeschleudert zu werden, – das wirkt – gelesen wie geschaut – immer von
neuem mit höchster dramatischer Kraft. Rührend ist, wie darauf Amalia
friedebringend zu dem verzweifelten Greise herantritt, ihn sanft zu
beruhigen weiß und endlich in der biblischen Erzählung von Josephs in Blut
getauchtem Rock die schreckliche Gegenwart durch Anknüpfung an eine freudig
abgeschlossene ehrwürdige Geschichte scheinbar zu mildern weiß. Wenn aber
der Alte in dieser Stimmung sogleich bereit ist, seinen Sohn Franz um
Verzeihung zu bitten, so erkennen wir darin die unselige Schwäche wieder,
mit der er sich und sein Haus zugrunde richtet. Und furchtbar wird ihm diese
Schwäche augenblicklich gelohnt. Als ei überwältigt in Ohnmacht sinkt,
schlägt Franz über der vermeintlichen Leiche ein gellendes Triumphgelächter
auf, und den Wiedererwachenden überliefert er dem Hungertode. Doch diese
letzte Schandtat wird uns noch nicht vorgeführt; die Szene schließt mit
Franz' unbändigem Freudenausbruch, der in dem Herrscherprogramm gipfelt:
»Blässe der Armut und sklavische Furcht sind meine Leibfarbe; in diese
Liverei will ich Euch kleiden!« Hier fehlt jedes Motiv des Ehrgeizes oder
der Machtbegier für solche Vorsätze; die nackte Scheußlichkeit redet hier;
aber darin liegt nichts Unnatürliches. Es ist vielmehr unausweichlich, daß
eine Reihe von Freveln, wie dieser Verbrecher sie begangen hat und immer
fortsetzt, jedes menschliche Gefühl in der eigenen Brust mit Stumpf und Stil
ausrotten muß. Er will andere zugrunde richten; aber am allermeisten richtet
er die eigene menschliche Persönlichkeit zugrunde; er verzehrt sich selber
in seinen Untaten.
Unterdessen hat Karl sein Rachewerk an der Menschheit begonnen. Hier
gestaltet der Dichter nicht mehr bloß aus der Empörung über die eigenen
Lebenserfahrungen die dramatische Handlung; hier wirkt die ganze durch
Rousseau ausgelöste« Verbitterung und Verzweiflung der Zeit an den geltenden
politischen und gesellschaftlichen Gesetzen und Formen, die den freien
Menschen ersticken und vergiften. Der Leser, der hier nicht von den realen
Verhältnissen und ihrer Bedingtheit zu abstrahieren weiß, für den hat
Schiller freilich nicht gedichtet. Aber der Dichter hat das Mögliche getan,
um uns die Ziele und Wege des »großen Räubers« glaublich zu machen. Wir
hören zunächst nicht ihn selbst sich vermessen und rühmen; sondern aus dem
Munde eines der niedersten Genossen, Razmann, er» halten wir die
Schilderung, die gerade dadurch überzeugend wird, daß der Erzähler sie
selbst nicht recht faßt und sie unmöglich in seinem beschränkten Kopf
ersonnen haben kann. Den ungerechten Bedrücker trifft Moors Stahl oder
Kugel; die zertretene Unschuld befreit er. Sein Ruf hat schon brave Kerle
angelockt, während Spiegelberg den Auswurf der Menschen um sich sammelt und
ihm zuführt. Befriedigen kann ihn freilich das eigene Werk nicht; denn wie
vermöchte er seine Bande von Freveln aller Art zurückzuhalten! Sie lebt ja
von Raub und Mord, und auch er selbst muß es doch schließlich, wenn er auch
das Drittel der Beute, das ihm zukommt, »an Waisenkinder verschenkt oder
arme Jungen von Hoffnung damit studieren läßt«. Immerhin ist er bestrebt,
zwecklose Grausamkeiten und niedrige Gemeinheit fern zu halten, und die
Niederträchtigkeiten, die Spiegelberg auf seinem Werbezug begangen hat,
müssen vor ihm verborgen gehalten werden. Als aber sein bester und liebster
Genosse, Roller, gefangen wird und am Galgen sterben soll, da scheut er sich
nicht, um ihn zu befreien, eine ganze Stadt in Brand zu stecken und achtzig
Menschenleben zu opfern. Die Furchtbarkeit seines Grimms wird an diesem
monströsen Beispiel offenbar, und der Eindruck wird kaum gemildert durch das
nachträgliche ernste Wort: »Roller, du bist teuer bezahlt«, und durch die
Verbannung eines tierisch-rohen Mordgesellen. Auf der ganzen Höhe seines
stolzen und zugleich selbstlosen Charakters aber zeigt er sich uns, als er
die Bande auffordert, ihn selber auszuliefern, um sich nach der Zusicherung
des abgesandten Paters die Straflosigkeit zu erkaufen. Dieser Pater ist eine
übertriebene, wenig motivierte Episodenfigur, die aber durch den
humoristischen Kontrast zu Moors feierlichem Pathos eine dankbare Rolle hat.
Schmählich wird er abgewiesen; des Hauptmanns großartige Bereitschaft zur
Selbstaufopferung stachelt die Bande zu fanatischer Kampflust, und
dreihundert der sie umzingelnden Feinde fallen unter ihrem Stahl und ihrem
Blei. Roller findet dabei den Tod, dem er eben entflohen war. Für Moor ist
dies ein entscheidendes Erlebnis; der Opfertod dieses einen, die Wunden der
anderen, alle für ihn erlitten, um ihn zu retten, – binden seine stolze
Dankbarkeit auf ewig an die Gefährten. In Erinnerung an diesen Tag leistet
er drei Monate später an der Donau den Schwur: »Bei den Gebeinen meines
Roller: ich will euch niemals verlassen.« Dieser Schwur ist der Höhepunkt
des Stückes; die endgültige Besiegelung für die kolossale Selbsttäuschung
des Helden, welche ihn nun endgültig ins Verderben ziehen muß.
Wir sind hiermit in den dritten Akt vorgerückt, dessen erste Szene einen
leidenschaftlichen, aber dramatisch belanglosen Auftritt zwischen Franz und
Amalia bringt. Ihren hier ausgesprochenen Entschluß, in ein Kloster zu
flüchten, bringt Amalia nicht zur Ausführung, weil ihr unmittelbar darauf
Hermann geheimnisvoll mitteilt, Karl lebe noch, und so von neuem ihre
Hoffnungen anfacht. Von der folgenden in einer »Gegend an der Donau«
spielenden Szene hat man wohl geglaubt, sie schlösse sich unmittelbar an die
große Kampfszene des zweiten Aktes an, weil Moor sich hier an Rollers Tod
erinnert und nach der Zahl der damals Getöteten fragt. Aber dieser Schluß
ist unmöglich; Schweizers dort enthaltene Wunde ist schon vernarbt; von dem
verbannten Schusterle ist acht Tage später schon Nachricht da, daß er in der
Schweiz gehenkt worden ist. Die Erinnerung an jenen Tag erklärt sich
vielmehr aus Moors elegischer, rückwärts gewandter Stimmung. Ermüdet von
einem gehetzten Leben ist er am Ufer des Stromes hingesunken, den
Sonnenuntergang zu betrachten, und in tiefer Rührung schweifen seine
Gedanken nach den Tagen der unschuldsvollen Kindheit, nach seines Vaters
Hallen, wo die Sonne zuerst den Himmel vor ihm aufschloß, wo ein Abendgebet
für ihn der Quell der Glückseligkeit war. Das tiefe Gefühl der Verlassenheit
unter einer Mörderbande, des Verstoßenseins aus den Reihen der Gotteskinder
überwältigt ihn. In diesen tief empfundenen Ergüssen glaubte Schiller sein
Bestes gegeben zu haben; nach Jahren wußte er sich einem neu gewonnenen
Freundeskreis nicht besser zu empfehlen als mit den Worten: »Für mich
spreche Karl Moor an der Donau!« Nur der leiseste Anstoß ist in dieser
Stimmung noch nötig, um den verlorenen Sohn reuig zurückkehren zu lassen;
und schon naht sich der diesen Anstoß geben soll, aber es ist zu spät, und
das unerbittliche Schicksal schiebt eine Zwischenhandlung ein, welche jeden
solchen Gedanken zu nichte macht. Der getreue Schweizer kommt, um den
Hauptmann mit einem Trunk Wassers zu erquicken; um es zu schöpfen, hat er
sein Leben aufs Spiel gesetzt. Moor hört dies, er beschaut zugleich die
Narbe auf Schweizers Stirn; er denkt an den Tod Rollers, an die
Todesverachtung, mit der alle für ihn gekämpft... Feierlich ruft er aus:
»Jeder von euch hat Anspruch auf diesen Scheitel«, und leistet den Schwur,
der ihn ewig bindet. Und unmittelbar darauf tritt der in den Kreis, der die
Erinnerung an das verlassene Glück unwiderstehlich in ihm entfachen soll.
Kosinskys Schicksal ist ähnlich wie Moors, aber noch erschütternder. Was ihn
zum Feinde der herrschenden »Gesellschaft« macht, ist hundertmal schlimmer,
als was Moor erfahren hat. Und das entsetzliche Los seiner ehemaligen Braut
richtet auch des Räubers Gedanken auf die seinige, die seinem verruchten
Bruder schutzlos preisgegeben ist. Man Hat wohl den Vorwurf erhoben, daß er
nur durch die zufällige Gleichheit des Namens an sie erinnert und zum
Entschluß sie aufzusuchen getrieben wird. Schiller hat allerdings diesen
Vorwurf sich selbst dadurch zugezogen, daß er sich den oberflächlichen
Effekt dieser Namensgleichheit gestattet hat. Aber die Motivierung ist auch
ohne diesen Effekt lückenlos. Die elegische Versunkenheit in das vergangene
Glück, der sich Moor hingegeben hatte, legte ihm den Wunsch, einmal noch in
die Heimat zurückzukehren, schon so nahe, daß es nur eines geringen Anlasses
bedurfte, um ihn zur Tat werden zu lassen. Und der Anlaß ist kein geringer!
In Kosinskys Erzählung kommt das Bewußtsein überwältigend über ihn, welchen
Schändlichkeiten in der von ihm so verabscheuten Welt seine Geliebte
ausgesetzt ist, die er unbekümmert sich aus dem Sinn geschlagen hatte, als
er sich an sein pathetisches Richterhandwerk machte. Nicht eine flüchtige
Regung der Sentimentalität, sondern ein Erwachen bitteren Selbstbewußtseins
ist es, wenn er ausruft: »Sie weint. Sie vertrauert ihr Leben. Auf! hurtig
alle! nach Franken! In acht Tagen müssen wir dort sein.« Was er für Amalia
dort tun kann, ist ihm natürlich selber nicht klar,' aber er will ihr wieder
einmal nahe sein, und wenn nötig, seinen überall gefürchteten Degen für sie
zücken.
Im vierten Akt finden wir Moor tatsächlich in der Heimat. Hierdurch meiden
die beiden getrennten Gruppen der Hauptpersonen zum erstenmal
zusammengeführt. Daß dies nicht früher geschehen, wäre ein Mangel, wenn der
tragische Inhalt des Stückes in dem Konflikt zwischen den beiden Brüdern
läge, die mir dann auch in persönlichem Gegensatz vor uns sehen wollten.
Aber dem ist nicht so; das Tragische liegt in Moors innerem Konflikt, in
seinen vernichtenden Seelenkämpfen; Franz ist nur ein Intrigant, der seine
Netze auch aus der Ferne auswerfen konnte. Offenbar absichtlich vermeidet
der Dichter auch jetzt, das Zusammentreffen der Brüder, das wirklich
stattfindet, uns zu zeigen, so daß wir im ganzen Verlauf des Stückes beide
niemals zusammensehen.
Dagegen werden Karl und Amalia zusammengeführt. Überraschenderweise sehen
wir hier den sonst so leidenschaftlich vorwärtsstürmenden Dichter an
Spitzfindigkeiten Gefallen finden. Während der alte Diener Daniel den
ehemaligen Herrn erkennt, bleibt Amalia im unklaren über die rätselhafte
Gewalt, die sie zu dem fremden Grafen hinzieht. Der Kampf zwischen der Treue
gegen den Abwesenden und der Neigung zu dem Gegenwärtigen kann unser
Mitgefühl nicht erwecken, weil er auf unnatürlichen Voraussetzungen ruht;
die erste Szene der beiden Liebenden in der Ahnengalerie hat noch
ergreifende Züge, die zweite im Garten ist unwahr und zusammenhanglos. Desto
packender und überzeugender ist die Schilderung von der Wirkung, welche auf
Franz die Zusammenkunft mit dem Bruder geübt hat. Ahnungen steigen ihm auf,
sie verdichten sich, und plötzlich steht das Bild dessen vor ihm, den er
längst für verdorben, hoffentlich gestorben angesehen hat. Sein Entschluß,
den physischen Brudermord dem moralischen hinzuzufügen, ist schnell gefaßt.
Daß er sich gerade an den alten Daniel wendet, kein geeignetes Werkzeug, –
erklärt sich leicht daraus, daß er glaubt, diesen Alten am leichtesten
einschüchtern zu können. Er irrt sich insofern, als Daniel lieber aus dem
Hause in aller Stille flüchten will, als sich zu einem Verbrechen hergeben.
Doch als er diesen Entschluß ausführen will, hat der Bedrohte schon längst
das Schloß heimlich verlassen und ist in den Wald zu seiner Bande
zurückgekehrt. Eine Unterredung mit Daniel hat ihm die Gewißheit gegeben,
daß sein Bruder ihn tückisch mit dem Vater und der Welt entzweit habe; aber
er denkt nicht an Rache; was sollte es auch dem Räuber und Mörder helfen,
wenn er einen Brudermord auf sich lüde; das Schloß seiner Väter, die Braut
kann er doch nicht wiedergewinnen. Aber der Glaube an sein Schicksal, an
seine Bestimmung kommt in ihm ins Wanken. Hatte er bisher sich für ein
Werkzeug in den Händen der Vorsehung gehalten, so sieht er sich jetzt als
Spielball eines Schurken; das Gefühl der Machtlosigkeit menschlicher Pläne
gegenüber den Verwickelungen der Schicksale überwältigt ihn. Das Geständnis
des getreuen Schweizer, daß er eben den niederträchtigen Spiegelberg, der
den Hauptmann hinterrücks ermorden wollte, ums Leben gebracht, erschüttert
ihn noch mehr; vergeblich will er seine Stärke aus dem gigantischen
Römerliede von Brutus und Cäsar zurückgewinnen. Dieser majestätische Dialog
ist der Gipfel von Schillers Jugenddichtung und überhaupt ein Gipfel seiner
dramatischen Lyrik. Der ganze Idealismus des jugendlichen Dichters spricht
sich darin aus, wenn die politische Grütze Cäsars von der Charaktergröße des
Brutus überboten wird. Aber mit wie sinnlich-kräftigen Mitteln ist der
ideale Gedanke dargestellt! Das Heranschreiten des Besiegten, der sich noch
durch den »Schritt des Niebesiegten« ankündigt, das Erkennen des Ermordeten
an seiner zwanzigfachen Wunde, die plötzliche blitzartige Verkündigung der
Vater und Sohnschaft, und die stolze Zurückweisung, mit der der
unerschütterliche, unbeugsame Mörder und Märtyrer jede Gemeinschaft abbricht
und dem großen Cäsar gebieterisch seinen Pfad vorschreibt, – alles das prägt
sich unauslöschlich dem inneren Auge ein. Den Sturm in Moors Seele kann auch
dieser Heldengesang nicht übertäuben, aber er wirkte doch unbewußt
kräftigend und erhebend auf ihn ein: als der tiefe Überdruß eines verfehlten
Lebens ihn schon niederwerfen will, als er die Hamletischen Schauer der
Ewigkeit schon von sich gewiesen hat und sich den Tod geben will, da bricht
die unversiegliche Kraft seines Ich doch siegreich hervor; »die Qual erlahme
an meinem Stolz; ich will's vollenden«, mit diesem Ruf nimmt er die Bürde
des Lebens wieder auf sich und geht dem schwersten Augenblick, dem einzigen,
da er wirklich zum Rächer und Richter berufen ist und zugleich sich selber
lichtet, entgegen. Hermanns mildtätiger Besuch, den er dem alten Moor
schenkt, um ihm das Leben zu fristen, wird für Karl der Anlaß, bei dem er
das Schicksal seines Hauses, die verheerenden Verbrechen seines Bruders
erfährt. Seinem getreuen Schweizer gibt er als höchste Ehre den Rachebefehl,
den Bruder vor ihn zu schleifen, wie er ihn finde, aber sein Leben zu
bewahren; in demselben Turm, in den er den Vater gestoßen, soll er selbst
zugrunde gehen.
Ist es nun gerechtfertigt, wenn mir im fünften Akt Franz, wie in einer
Ahnung seines Endes, unter furchtbaren Gewissensqualen leiden sehen, die er
bisher immer nur verlacht hatte? Ein schreckensvoller Traum hat ihm alle
Fassung geraubt. Als Ursache können wir das unvermutete Erscheinen des
Bruders und den Mordbefehl gegen ihn anführen, aber die gewaltige Vision des
Endgerichts, welche diesen Traum ausfüllt, kann doch nicht daraus allein
sich herleiten. Offenbar hat der Dichter hier ein unmittelbares,
übernatürliches Eingreifen der sittlichen Weltordnung, die sich Franz als
Rächerin kundgibt, darstellen wollen, – wir können ihn aber deshalb nicht
tadeln; denn wenn man dies auch undramatisch nennen darf, so ist es auch von
ihm nicht als notwendige Voraussetzung der ferneren dramatischen Entwicklung
gedacht; es ist ein eingeschobenes Bild von höchster, erschütterndster
Wirkung. Weder das Gespräch mit dem alten Daniel, der im Begriff das Haus zu
verlassen von Franz aufgehalten wird, noch das folgende mit dem
herbeigerufenen Pastor Moser führen die Handlung weiter; sie sollen nur die
Überzeugung des Dichters erhärten, daß der Frevel sich selbst an dem Urheber
rächt. Und die Rache von außen läßt nun auch nicht länger auf sich warten.
»Feurige Reiter« jagen mit wildem Geschrei die Straßen herauf, sie umzingeln
das Schloß, sie stürmen und brechen durch die Ringmauer, sie werfen
Feuerbrände, sie schießen durch die Fenster, sie dringen herauf, sie
belagern die Tür seines Gemachs; er weiß, daß sie niemand anders suchen als
ihn, er ahnt, daß sie die Boten eines unentrinnbaren Gerichts sind; er weiß,
daß er niemand hat, der für ihn einen Finger regt, er ahnt, daß sein Ende
gekommen. Beten kann er nicht; sich zu durchbohren, dazu reicht sein Mut
nicht; die Türe kracht – – und Verzweiflung gibt ihm Kraft, sich zu
erdrosseln. Schweizer findet ihn tot, und da er seinen Auftrag nicht mehr
erfüllen kann, erschießt er sich selbst; nächst Roller der beste der
Genossen, geht er seinem Hauptmann im Tode voran.
Gerichtet ist Franz dennoch durch den Willen des Bruders; Schweizers
Gefährten bringen Karl die Kunde. Nur als Vollstrecker der Gerechtigkeit hat
dieser gehandelt; sein eigenes Schicksal kann durch Franz' Tod nicht
gewandelt werden. Schon seinem Vater kann er nicht wagen sich zu entdecken;
der Alte schwärmt in Gedanken an seinen herrlichen, von ihm verstoßenen
Sohn; er ahnt nicht, daß er als Räuberhauptmann neben ihm steht. Und nun
stürzt, um Karl in die letzte unentrinnbare Katastrophe zu treiben, Amalia
auf die Szene; sie hat es vernommen, daß ihr Oheim noch lebt, daß Karl in
der Nähe weilt; aus dem Grauen des verbrennenden Schlosses flüchtet sie sich
zu dem Geliebten, den sie seit Jahren betrauert hat. Das letzte Geständnis
bleibt Karl nicht erspart. Hier ist kein Ausweichen mehr möglich; »Räuber
und Mörder«, mit diesen Worten schneidet er alle Gemeinschaft mit den Seinen
durch. Der alte Moor gibt den Geist auf; Amalia kann sich freilich auch
jetzt nicht von dem »Bräutigam« trennen; damit aber besiegelt sie nur ihr
Todesgeschick zugleich mit dem seinen. Für Moor hat das Leben keinen Raum
mehr; es ist kaum nötig, daß d« Räuber ihn an seinen Schwur »bei den
Gebeinen Rollers« mahnen, daß sie den scheußlichen Ruf ausstoßen »Amalia für
die Bande!« Die kurze Wallung, die Karl noch ein glückliches Leben an
Amalias Seite träumen läßt, muß von selber in wenigen Augenblicken
verfliegen. Aber sein Verbrecherleben fortzusetzen ist ihm ebenso unmöglich.
Die plötzliche Einsicht, daß er frevelhaft sich angemaßt habe, die Gesetze
durch Gesetzlosigkeit aufrecht zu halten, daß er der Vorsehung ins Amt
gefallen sei, ist uns nicht ganz überzeugend; aber ihr zugrunde liegt
tatsächlich auch nur die Empfindung des eigenen grenzenlosen Elends neben
dem Glück, das er für immer verscherzt hat. Neben der Reinheit der Geliebten
verfliegen alle Sophismen, mit denen er seine Taten beschönigt hat; ein
anderes Ideal als das, an dem er sich lange berauscht hat, ist ihm
aufgegangen. An der selbst für den Mörder bittenden Liebe des Vaters, an der
unüberwindlichen Treue der Geliebten hat er erkannt, daß der Adel der
Menschheit, den er im Taumel der Erbitterung für null und nichtig erklärt
hat, dennoch besteht und ihn selber verdammt. Wenn er sich nun freiwillig
dem Gericht überliefert und dies sogar durch einen armen Mittelsmann tut, um
ihm den auf seinen Kopf gesetzten Preis zuzuwenden, so spricht sich darin
freilich etwas zu deutlich die Absicht aus, dem gewagten Räuberstück einen
moralisch untadelhaften Abschluß zu geben: der Selbstmord wäre für Karl das
Natürlichere gewesen, und die theologische Deduktion, eine Todsünde könne
nicht das »Äquivalent für eine Todsünde sein«, ist zu kühl für die
drangvolle Leidenschaft des Augenblicks. Aber der tragische Ausgang an sich
ist mit zwingender Notwendigkeit herbeigeführt.
Und wenn wir das Ganze nochmals überblicken, so ist es diese Fähigkeit
tragischer Auffassung und Verwickelung, welche den jungen Dichter schon als
zum Höchsten berufen erscheinen läßt. Hier ist keine Zufallstragödie, keine
Schicksalstragödie, keine Intrigentragödie, obgleich man im einzelnen
glauben könnte, dies alles zu finden; hier ist in die innerste Anlage, in
die tiefste Willensrichtung der Person das Tragische verlegt, und darum ist
es wahrhaftig, und ist unentrinnbar. Das Wort: »In deiner Brust sind deines
Schicksals Sterne« hat Schiller schon hier in seinem Erstlingsdrama
meisterhaft bekräftigt. Wohl ist an Karl Moor empörend gefrevelt worden,
aber unter Hunderten würde kein zweiter durch diese Frevel zu den gleichen
Taten und Untaten kommen wie er. Und wiederum – wenn das große Unrecht gegen
ihn nicht verübt worden wäre, – auch dann könnten wir ihn nicht als ruhigen
und nützlichen Staatsbürger uns denken. Eine gewaltige Kraft, der das Malz
fehlt; ein idealer Wille, aber mit äußerster Selbstüberschätzung verbunden,
– aus solchen Wurzeln kann kein gesunder Baum erwachsen. Es sind die alten
Vorbedingungen der Tragik, wie sie schon das griechische Drama ausgebildet
hatte: der Mangel der Besonnenheit, die Überhebung, die zur Verblendung
führt. "
(aus:
Harnack 1898, Bd. 1, zit. nach
Projekt Gutenberg)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.12.2023