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Bausteine zur Biographie

Otto Harnack: Die Räuber (1898)

Friedrich Schiller (1759-1805)

 
FAChbereich Deutsch
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Die Räuber
Schauerlich stand das Ungetüm da;
gespannt war der Bogen,
Und der Pfeil auf der Senn'
traf noch beständig das Herz.
Schiller.

Mit gewaltiger Energie tritt Schiller auf den dramatischen Schauplatz. Er ergreift einen Stoff, den ein anderer württembergischer Dichter, Christian Schubart, in novellistischer Form dargeboten hatte; aber er steigert die dort spannende und rührende Handlung zum Erschütternden und Niederschmetternden, und er leitete in sie eine Flut wilder, an alle Grenzen des Menschlichen anbrandender Leidenschaft.
Im »schwäbischen Magazin« hatte Schubart jene Erzählung von Kurland Wilhelm, den beiden Söhnen eines Landedelmanns, erscheinen lassen und sie einem jungen »Genie« zur dramatischen Behandlung empfohlen. Der Gegensatz zwischen einem liebenswürdig-genialen und einem egoistisch-korrekten Bruder ist hier schon das Grundmotiv; Karls leichtsinniges Treiben gibt Wilhelm die Handhabe, ihn mit der Familie zu entzweien; aber als nun Wilhelm seine tückischen Intrigen auch gegen den Vater richtet, da ist es der verkannte Sohn, welcher den Vater rettet, den verbrecherischen Bruder aber allzu gutmütig der zweifelhaften Strafe seines Gewissens überläßt. Das Ganze ist nach Auffassung und Darstellung mittelmäßig; der Stoff aber wohl geeignet, von einem kräftigen Bearbeiter zu großer Wirkung gebracht zu werden. Instinktiv ahnte Schiller das; welche tragische Gewalt konnte nicht den Konflikten zwischen Bruder und Bruder, zwischen Sohn und Vater gegeben werden! welche rücksichtslosere Verkündigung des Freiheitsdranges ließ sich denken, als den Feind des Gesetzes zum Helden zu erheben, den äußerlich Korrekten als Verbrecher zu brandmarken. Und Schiller wandte maßlos vorwärtsstürmend alle denkbaren Steigerungen an: der Leichtsinnige muhte zum Haupt einer Räuberbande, zum mehrfachen Mörder werden! Der Korrekte zum Scheusal, das den Vater, welchen der Schreck nicht tötet, dem Hungertode preisgibt. Aber freilich dieser Leichtsinnige mordet nicht aus Leichtsinn, sondern er wird zum erhabenen Richter, der über allem Gesetze steht und urteilt, – und der Korrekte beschönigt seine Taten nicht durch die Selbsttäuschung des Egoismus, sondern er ist der abgefeimteste Heuchler, der zuerst in Selbstgesprächen mit diabolischem Spott vernichtet, was er äußerlich zu achten vorgibt, und dann jede Maske abwirft, als er kraft des Gesetzes Despot sein darf. Menschlich sind diese Erscheinungen nicht mehr, obgleich sie aus irdischen Stoff geformt sind; sie erheben sich in das Gebiet der souveränen Phantasie. Wenn sie uns doch menschlich erscheinen, so ist es die Frucht der hinreißenden dramatischen Kraft und Kunst des Dichters.
Aber eben durch diese grandiose Phantastik erhebt sich Schiller weit über die Sturm- und Drang-Dichter, die ihm vorausgingen, über die Lenz und Klinger und Müller. Trotz allem Kraftaufwand bleiben deren Gestalten doch gewöhnliche Menschenkinder, die nur ein unwahrscheinliches Register von Kraftworten und eine unwahrscheinliche Leistungsfähigkeit der Lunge besitzen. Die Gewöhnlichkeit wäre an sich noch kein Unheil, aber der überflüssige Aufwand wird zum Unheil. Bei Schiller aber ist er nicht überflüssig; seine Flügel schleifen nicht am Boden hin, sondern sie heben ihn wirklich in die Lüfte.
Aber freilich spüren wir zugleich deutlich die enge und drückende Umgebung, die erstickende Atmosphäre, in welcher das Stück entstanden ist. Etwas Gewaltsames hat diese Erhebung, etwas Überreiztes diese Leidenschaft; sie ist nicht der Ausdruck des wahren Innenlebens des Dichters, sondern sie ist durch eine krampfhafte Anspannung seiner Nerven hervorgebracht, in der er sich für die sonst ihm aufgezwungene bleierne Ruhe und künstliche Gleichförmigkeit entschädigt. In wie kümmerlich zusammengegeizten Stunden wurden die »Räuber« gedichtet. Nicht nur der Arbeit wurden diese Stunden abgerungen, sondern noch mehr der Wachsamkeit der Aufsichtsbeamten, von der ja auch der angehende Medicus immer noch abhängig gewesen war. So vergingen denn auch mehrere Jahre, in denen das Stück Schillern innerlich gewiß unausgesetzt beschäftigte, ohne daß es große äußere Fortschritte machte, und erst im letzten akademischen Jahr wuchs es und entfaltete es sich, von nicht mehr zu bändigendem Schaffensdrang hervorgetrieben.
Denn ein wahrhafter poetischer Trieb ist hier wirksam, nicht etwa nur der gewaltsame Wunsch des Unterdrückten nach freiem Ausströmen seines Denkens und Empfindens. So oft auch der Dichter in seinem Karl Moor die eigene Seele reden, in seinem Franz Moor sein eigenes Widerspiel sich entfalten läßt, die Gestalten haben doch ihr eigenes Leben, und sie interessieren den Dichter um ihrer selbst willen. Sie rangen in ihm lange nach Gestaltung und mußten sie endlich gewinnen. Und so auch eine Anzahl scharf geschauter Personen zweiten Ranges: ein Spiegelberg und Schweizer, Daniel und Pastor Moser. Am wenigsten möchte man es von der einzigen weiblichen Gestalt des Stückes glauben, von Amalia; sie hat am wenigsten persönliches Leben, erscheint künstlich geschaffen, um die feindlichen Brüder auch in der Liebesleidenschaft feindlich aufeinander treffen zu lassen. Schiller, der Karlsschüler, war ganz ohne Kenntnis des weiblichen Geschlechts aufgewachsen, und so hat er es auch in seinem Erstlingswerk mit der einzigen, für den Plan des Ganzen unumgänglichen Frauengestalt genug sein lassen.
Historisches Kostüm erhielt das Stück nur spärlich. Dem jungen Dichter fehlte die Kenntnis der Vergangenheit ebenso wie die der Außenwelt. Wir sollen in die Zeit des siebenjährigen Krieges versetzt werden; aber wir bleiben ungläubig, wenn wir von der Schlacht bei Prag hören. So gesättigt »Minna von Barnhelm« im Großen und Einzelnen mit dem Geist und Duft des »Fritzischen Zeitalters« ist, so leer davon sind »Die Räuber«. Nebelhaft wie die »böhmischen Wälder« bleiben die tatsächlichen Zustände, in welchen die Personen sich bewegen. Ohne große Schwierigkeit konnte das Stück nach dem Wunsch Dalbergs auf der Mannheimer Bühne in die Zeit Maximilians I. zurückverlegt werden.
Um die dramatische Form hatte Schiller nicht viel zu sorgen. Man hatte sich ja seit einem Jahrzehnt in der Pose des Originalgenies gefallen und alle dramatischen »Regeln«, als ob sie bloß erkünstelte Machwerke wären, mit Hohn beiseite geworfen. Je mehr die bloße Laune des Dichters tollte und sich austobte, um so besser! Auf diese Weise waren Dramen natürlich nicht zustande gekommen, sondern Capricen in dialogischer Form; »Därme mit Sand gefüllt«, die für »Stricke« verkauft wurden. Es ist das beste Zeichen für Schillers angeborenes dramatisches Talent, daß er trotz dieser schrankenlosen Freiheit, die er sich gewähren durfte, dennoch ein Werk erschuf, das allen wesentlichen dramatischen Forderungen entsprach und eine glänzende dramatische Wirkung übte. Ohne es selbst zu wissen und zu wollen, gab er den »Räubern« eine trefflich sich aufbauende und vollendende dramatische Handlung.
Mit großer Geschicklichkeit und Sicherheit werden wir sogleich in medias res versetzt. Hier kann man nicht schulmäßig »Exposition«, »erregendes Moment«, »Anfang der Handlung« scheiden; die erste Szene gibt nun alles zugleich. Ohne jede Einleitung hebt sie mit Franz' verleumderischem Betrug an. Was ihn dazu gerade in diesem Augenblick veranlaßt, erfahren wir freilich nicht, obgleich es dem Dichter leicht gewesen wäre, Franz es erwähnen zu lassen, daß eben ein reuiger, die Versöhnung in Aussicht stellender Brief des Bruders angekommen ist. Aber wir fragen auch nicht nach Franz' Motiven: der schleichende, giftmischende Schurke hat offenbar seinen Plan lange mit sich herumgetragen, ihn sorglich gehegt und ausreifen lassen, er führt ihn aus, sobald er mit sich selber ins Reine gekommen ist, ohne daß es eines äußeren Anlasses bedarf. Und dieselbe Szene zeigt uns auch schon den entscheidenden Erfolg des tückischen Anschlags; die Erlaubnis, an den Bruder in des Vaters Namen zu schreiben, daß er seine Hand von ihm abziehe. Wie trefflich wird aber zugleich dafür gesorgt, uns mit der ganzen Luft und Beleuchtung dieses häuslichen Lebens, mit der ganzen Vorgeschichte der beiden Brüder bekannt zu machen! Wir sehen das ungleiche Paar von Kindesbeinen an in unversöhnlichem Gegensatz. Franz, schon von der Natur vernachlässigt, häßlich gebildet, fühlt sich als der Jüngere noch mehr benachteiligt. Aber er lernt seine Empfindung, seinen Ingrimm, seine Hoffnungen hinter einer festen Maske still verbergen. Man nennt ihn trocken, kalt und hölzern, einen Alltagsmenschen; gern erträgt er das; denn es schützt ihn vor jedem Argwohn, daß er hochfliegende, gar verbrecherische Gedanken hegen könnte. Mit dem Neid der Impotenz schaut er auf den glänzend begabten, alles hinreißenden Bruder; aber er fühlt in sich zugleich eine Fähigkeit des Verstandes, die diesen Bruder zwar nicht begreifen, aber trotzdem überlisten kann. Dagegen Der! Niemals hat er aus seinem Herzen eine Mördergrube gemacht. Kirchen und Predigtbücher hat er geflohen, mit den Dorfkindern umhergetollt, den Mädchen nachgestellt; aber alles hat man ihm verziehen; denn er hatte ein gutes Herz, das sich immer wieder einzuschmeicheln wußte und das dem Vater ein paar Pfennige abquälte, nur um sie einem Bettler zu schenken. Er hatte zugleich einen feurig lodernden Geist, der bald in verzückter Schwärmerei, bald in kühnen Gedanken und Entwürfen sich kund tat, der einen »großen Mann« zu verheißen schien. Er war der Stolz, zugleich die Stärke und Schwäche seines Vaters. Eigene Stärke besaß der früh gealterte Graf nicht, und seine Schwäche wurde durch die törichte Verliebtheit in seinen Sohn noch schwächlicher. Dieser regierende Graf, Maximilian von Moor, ist eine äußerst jammervolle und nicht recht überzeugende Figur. Wie es in seiner Grafschaft aussehen mag, erfahren wir glücklicherweise nicht; aber bedauerlicherweise auch nicht, wodurch er vor der Zeit zu einem so kläglichen Schwachkopf geworden ist; ebensowenig hören mir etwas von seiner verstorbenen Gattin, und die Bedeutung, welche sie für die Erziehung der heranwachsenden Söhne gehabt. Aber sicherlich werden die wenigsten Leser nach alledem fragen; das Bild des Greises, das die erste Szene uns zeichnet, packt unmittelbar und genügt uns für den Augenblick; erst eine spätere Reflexion läßt uns bemerken, daß dieser alte Herr doch eine unwahrscheinliche Hilflosigkeit gegenüber der frechen und plumpen Lüge seines Sohnes an den Tag legt. Für den dramatischen Fortgang des Ganzen aber war diese sorglose Unbekümmertheit des Dichters ein Vorteil. Hätte er einen kräftigen und umsichtigen Vater gezeichnet, so wäre eine viel kompliziertere, kunstvolle Intrige nötig geworden, um ihn zu umgarnen. Und sie darzustellen hätte unser Interesse nur störend abgezogen von dem, was doch die Hauptsache ist: dem Verhältnis der beiden Brüder zueinander und der tragischen Steigerung von Karls Schicksal, die daraus hervorgeht. Die Betörung des Vaters kann noch als eine Voraussetzung betrachtet werden, die man dem Dichter zugeben muß. Es zeigt sich hier schon im Anfang von Schillers dramatischem Schaffen, was Goethe treffend als ein Hauptkennzeichen desselben erkannt hat: die Gleichgültigkeit gegen eine ins Einzelne gehende Motivierung; er stellte seine Anforderungen an das Publikum und verlangte, daß es ihm ohne weiteres folgte. –
Auch in dem Monolog, den Franz dem davonwankenden Vater nachspricht, hat sich der Dichter mit Motivierung nicht viel abgegeben; Franz redet hier als ein geübter Virtuose des Verbrechens. »Da müßt ich ein erbärmlicher Stümper sein, wenn ich's nicht einmal so weit gebracht hätte, einen Sohn vom Herzen des Vaters loszulösen.« Wir erfahren nicht, worin die Übungen bestanden, die ihn so herrlich weit gebracht haben. Aber wir können uns leicht denken, welche Minir- und Intrigir-Arbeit er seit Jahren vollbracht haben mag, um langsam sich an die Stelle des früher so bevorzugten Bruders zu bringen. Und im ganzen betrachtet ist Franz' konsequente Bosheit mehr motiviert als die eines Jago; der Besitz der Grafschaft, der für ihn schlechtweg das Herrschertum bedeutet, ist schon ein lockendes und anspornendes Ziel. Weniger begründet scheint, daß die Reflexionen, mit denen Franz alle Einwände – Gewissensbedenken dürfen wir nicht sagen – abzuwehren sucht, von einer cynischen, naturwissenschaftlichen Betrachtung eingegeben sind. In diesen Sarkasmen über die Zufälligkeit der Vaterschaft und Verwandtschaft redet mehr der angehende Mediziner als der herrschsüchtige Junker. Aber diese Ausführungen kann man auch beiseite lassen, ohne daß die Sicherheit und Klarheit des Charakters und seiner Entschlüsse etwas verlöre. »Jeder hat gleiches Recht zum Größten und Kleinsten, Anspruch wird an Anspruch, Trieb an Trieb und Kraft an Kraft gerichtet. Das Recht wohnt beim Überwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze.« Dieser brutale Egoismus, diese Herrenmoral braucht überhaupt keine verlogene philosophische Begründung; sie erklärt sich von selbst aus den Tiefen der niederen Triebe der menschlichen Natur, welche durch keine ideale Erhebung geläutert worden ist. Und nun werden wir im höchsten Kontrast zu dem anderen Bruder geführt, der wahren, geborenen Herrschernatur, »jeder Zoll ein König«, die aber nichts anderes denkt, als diese Kraft im Dienst ihrer Ideale zu verwenden, freilich in wilder Verzweiflung und nur mit Feuer und Schwert. Aber als sein Verhängnis erblicken wir auch neben ihm den Gefährten, der niedrig und kleinlich in seinem kümmerlichen Ehrgeiz auch den großen Genossen, der ihn verachtet, unbemerkt herabzuziehen weiß. Und wir erkennen darin das tragische Los des Helden, der statt hohe Ziele zu erfliegen, zuletzt im Ekel vor seiner eigenen Existenz enden wird,' der Idealgesinnte findet in der realen Welt nur Ausgestoßene als Gefährten. – Auch ehe der vom Bruder entsandte Giftpfeil ihn trifft, steht Karl Moor vor der Notwendigkeit eines schweren Entschlusses. Er muß sich entscheiden, ob er sein bisheriges wildes, aller Sitte spottendes Leben aufgeben oder ob er sich den Forderungen der Außenwelt fügen will. Die Gedanken jagen sich ruhlos in ihm. Bald beteuert er, er könne seinen Willen nicht in Gesetze schnüren (»Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gemacht; aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus.«), bald erklärt er, daß alles Glück ihn in der Zurückgezogenheit des väterlichen Heimes erwarte. Hier wird auch zum erstenmal der Name »Amalia« genannt, völlig überraschend für den Leser, der in der langen Szene im Moorschen Schloß von dem Mündel des alten Grafen, von der Geliebten Karls noch nichts erfahren hat. In ihre Arme will der Verirrte zurückkehren, und damit wird auch seine Rückkehr in die Hürde der Gesetzlichkeit unbedingt entschieden sein. Und nun trifft die Antwort auf seinen reuigen Brief ein! Wie ist es möglich, fragen wir, daß er die niederträchtige, von Franz' Hand geschriebene Epistel für die Willensäußerung des Vaters halten kann, er, der doch Vater und Bruder genugsam kennen muß! Es erklärt sich das nur aus seiner vorhergehenden Stimmung. Trotz einer sehnsüchtigen Anwandlung, »den verlorenen Sohn zu spielen«, ist er im Grunde doch schon überzeugt, daß von der Seite der Gesetzlichkeit her nur Bosheit und Grausamkeit ausgehen könne. Wohl hat er von seinem Vater anderes erwartet; aber nun, da er die verhängnisvollen Worte gelesen, bestätigen sie ihm doch nur sein allgemeines Urteil über die Menschen, »die heuchlerische Krokodilbrut«, »die Küsse auf den Lippen und Schwerter im Busen« tragen! Er wirft den Vater zu den übrigen; »auf sich selber stellt er sich ganz allein«, und nur die nimmt er als Mithelfer an, die gleich ihm der Welt Krieg ansagen. Und das Verhängnis umstrickt ihn immer fester. Jene Leute, die ihn als Räuber mit sich reißen, die ihm zugleich als ihrem Hauptmann zujauchzen, sie meiden nicht sengen und morden, nur um einen heiligen Zorn wider die Niedertracht auszutoben, sie werden allen ihren Lüsten fröhnen und ihn schließlich auch herabziehen oder vernichten. Noch fühlen sie die Kluft nicht; nur der eine, der ihn von Anfang an umschmeichelt und sich selbst mit der Hoffnung der Hauptmannschaft geschmeichelt hat, Spiegelberg weiß, woran er mit Karl Moor ist, und will bald »ihm hinhelfen«, – wenn er nur den Mut dazu findet. Die übrigen Räuber sind paarweise charakterisiert; zu Spiegelberg passen Razmann und Schufteile; Moors treueste Gefährten, wenn sie auch seinen Geist nicht fassen, sind Schweizer und Roller; in der Mitte stehen die indifferenten Grimm und Schwarz; sie repräsentieren, wie man richtig gesagt hat, die Masse. Mit dem feurigen Aufruf Moors an die ihm so ungleichen Gefährten, mit dem Schwur auf Leben und Tod, den er ihnen abfordert, sind mir auf die Höhe der dramatischen Wirkung emporgerissen; gerne würden mir hier in einer Ruhepause aufatmen; aber der Dichter, statt den Akt nun zu schließen, führt uns noch einmal in das Grafenschloß zurück, um eine Szene vorzuführen, die er leicht mit dem Anfang des zweiten Aktes hätte zusammenziehen können, und die in der Tat stark abfällt. Ist ohnehin schon Amalia die wenigst gelungene Figur des Dramas, so ist besonders ihr Verhältnis zu Franz, das sich ohne jede Entscheidung durch Jahre hinzieht, dramatisch völlig uninteressant. Vermutlich wünschte Schiller Amalia noch im ersten Akt auftreten zu lassen; das wäre aber besser im Anschluß an die erste Szene geschehen. Franz' Versuch um Amalia zu werben aber würden wir gerne hier noch missen; es ist – zum mindesten – gar zu verfrüht, als daß der schlaue Menschenkenner selbst schon auf einen Erfolg rechnen dürfte. Auch die Mittel, die er anwendet, sind so wenig verlockend, bald leicht durchschaubar, bald wahrhaft ekelerregend, daß man sie einem Franz und seiner abgefeimten List nicht zutrauen kann. Die ganze Szene scheint das Produkt einer sehr unglücklichen Stunde zu sein, wie sie Schiller in seiner gewaltsamen Produktion zwar mit Heftigkeit zu überwinden wußte, ohne doch den so entstandenen Szenen wirkliches Leben einhauchen zu können. Daß Amalia in ihren Stimmungen während des Auftritts mit Franz unglaubwürdig schnell wechselt, ja von einem Extrem ins andere hinüberstürzt – sie umarmt sogar Franz – das erscheint weniger überraschend; denn diese ganze Gestalt ist überhaupt nur durch eine Folge leidenschaftlicher Effekte charakterisiert und gelangt im ganzen Verlauf des Stückes nicht zu klarem und festem Handeln. Wohl lebt in ihrem Herzen unerschütterliche Treue für Karl; aber sie weiß sich nicht so zu äußern, wie sie das Recht gegenüber der Welt hätte. Elf Monate liegt sie dem Alten hart an mit Vorwürfen und Klagen wegen Karls Verbannung, ohne doch etwas erreichen zu können.
Wir bleiben nun im Moorschen Schlosse, um im zweiten Akt Franz' Vernichtungswerk in einer Reihe meisterhafter Auftritte zu verfolgen. Sein erster Monolog ist wieder stark medizinisch, sonst aber von einer hinreißenden dramatischen Bewegung des forschenden, endlich zum Ziel dringenden Selbstgesprächs, seine Unterhaltung mit dem halbbürtigen Junker Hermann zeigt ihn uns in der überlegenen Menschenkenntnis und in der Kunst der Menschenbehandlung. Der unglückliche Hermann ist ein echter Halbmensch, der von vornherein nur bestimmt ist, einem so völlig ganzen Gewaltmenschen wie Franz kläglich als Spielball zu dienen. Er geht auf Franz' Pläne ein und durchkreuzt sie reumütig selber; Amalia wird ihm in Aussicht gestellt, aber eine »Stallmagd« ist das einzige, was der gestrenge Herr ihm gönnen wird. Etwas unwahrscheinlich ist die Art seines Auftretens in der folgenden Verkleidungsszene; man darf nicht fragen, wie er oder Franz (der ihm ein Paket überreicht hat) so schnell alles Notwendige beschafft haben; schlimmer ist es, daß der Degen, auf welchem in Karls Zügen eine blutige Schrift gemalt worden ist, Amalien als ein vollgültiges Zeugnis erscheint. Wie kann sie die Worte: »Franz, verlaß meine Amalia nicht«, und »Amalia! deinen Eid zerbrach der allgewaltige Tod« glaubwürdig finden! Wie kann sie ausrufen: »Er hat mich nie geliebt.« Auch hier ist ihr Charakter ungenügend gezeichnet. Erschütternd dargestellt aber ist die Wirkung, welche die Botschaft auf die Seele des Vaters hervorbringt! Wie er in wilde Selbstvorwürfe ausbricht, daß sein Fluch den Sohn in den Tod gejagt, wie der Schreck aber doch nicht ihm den von Franz ersehnten letzten Augenblick bereitet, wie dann Franz in seiner Enttäuschung sich zu schamloser Frechheit hinreißen läßt und dem Alten nun die Augen über seinen Henker aufgehen und er zürnend die kraftlose Hand gegen ihn erhebt, um von ihm brutal zurückgeschleudert zu werden, – das wirkt – gelesen wie geschaut – immer von neuem mit höchster dramatischer Kraft. Rührend ist, wie darauf Amalia friedebringend zu dem verzweifelten Greise herantritt, ihn sanft zu beruhigen weiß und endlich in der biblischen Erzählung von Josephs in Blut getauchtem Rock die schreckliche Gegenwart durch Anknüpfung an eine freudig abgeschlossene ehrwürdige Geschichte scheinbar zu mildern weiß. Wenn aber der Alte in dieser Stimmung sogleich bereit ist, seinen Sohn Franz um Verzeihung zu bitten, so erkennen wir darin die unselige Schwäche wieder, mit der er sich und sein Haus zugrunde richtet. Und furchtbar wird ihm diese Schwäche augenblicklich gelohnt. Als ei überwältigt in Ohnmacht sinkt, schlägt Franz über der vermeintlichen Leiche ein gellendes Triumphgelächter auf, und den Wiedererwachenden überliefert er dem Hungertode. Doch diese letzte Schandtat wird uns noch nicht vorgeführt; die Szene schließt mit Franz' unbändigem Freudenausbruch, der in dem Herrscherprogramm gipfelt: »Blässe der Armut und sklavische Furcht sind meine Leibfarbe; in diese Liverei will ich Euch kleiden!« Hier fehlt jedes Motiv des Ehrgeizes oder der Machtbegier für solche Vorsätze; die nackte Scheußlichkeit redet hier; aber darin liegt nichts Unnatürliches. Es ist vielmehr unausweichlich, daß eine Reihe von Freveln, wie dieser Verbrecher sie begangen hat und immer fortsetzt, jedes menschliche Gefühl in der eigenen Brust mit Stumpf und Stil ausrotten muß. Er will andere zugrunde richten; aber am allermeisten richtet er die eigene menschliche Persönlichkeit zugrunde; er verzehrt sich selber in seinen Untaten.
Unterdessen hat Karl sein Rachewerk an der Menschheit begonnen. Hier gestaltet der Dichter nicht mehr bloß aus der Empörung über die eigenen Lebenserfahrungen die dramatische Handlung; hier wirkt die ganze durch Rousseau ausgelöste« Verbitterung und Verzweiflung der Zeit an den geltenden politischen und gesellschaftlichen Gesetzen und Formen, die den freien Menschen ersticken und vergiften. Der Leser, der hier nicht von den realen Verhältnissen und ihrer Bedingtheit zu abstrahieren weiß, für den hat Schiller freilich nicht gedichtet. Aber der Dichter hat das Mögliche getan, um uns die Ziele und Wege des »großen Räubers« glaublich zu machen. Wir hören zunächst nicht ihn selbst sich vermessen und rühmen; sondern aus dem Munde eines der niedersten Genossen, Razmann, er» halten wir die Schilderung, die gerade dadurch überzeugend wird, daß der Erzähler sie selbst nicht recht faßt und sie unmöglich in seinem beschränkten Kopf ersonnen haben kann. Den ungerechten Bedrücker trifft Moors Stahl oder Kugel; die zertretene Unschuld befreit er. Sein Ruf hat schon brave Kerle angelockt, während Spiegelberg den Auswurf der Menschen um sich sammelt und ihm zuführt. Befriedigen kann ihn freilich das eigene Werk nicht; denn wie vermöchte er seine Bande von Freveln aller Art zurückzuhalten! Sie lebt ja von Raub und Mord, und auch er selbst muß es doch schließlich, wenn er auch das Drittel der Beute, das ihm zukommt, »an Waisenkinder verschenkt oder arme Jungen von Hoffnung damit studieren läßt«. Immerhin ist er bestrebt, zwecklose Grausamkeiten und niedrige Gemeinheit fern zu halten, und die Niederträchtigkeiten, die Spiegelberg auf seinem Werbezug begangen hat, müssen vor ihm verborgen gehalten werden. Als aber sein bester und liebster Genosse, Roller, gefangen wird und am Galgen sterben soll, da scheut er sich nicht, um ihn zu befreien, eine ganze Stadt in Brand zu stecken und achtzig Menschenleben zu opfern. Die Furchtbarkeit seines Grimms wird an diesem monströsen Beispiel offenbar, und der Eindruck wird kaum gemildert durch das nachträgliche ernste Wort: »Roller, du bist teuer bezahlt«, und durch die Verbannung eines tierisch-rohen Mordgesellen. Auf der ganzen Höhe seines stolzen und zugleich selbstlosen Charakters aber zeigt er sich uns, als er die Bande auffordert, ihn selber auszuliefern, um sich nach der Zusicherung des abgesandten Paters die Straflosigkeit zu erkaufen. Dieser Pater ist eine übertriebene, wenig motivierte Episodenfigur, die aber durch den humoristischen Kontrast zu Moors feierlichem Pathos eine dankbare Rolle hat. Schmählich wird er abgewiesen; des Hauptmanns großartige Bereitschaft zur Selbstaufopferung stachelt die Bande zu fanatischer Kampflust, und dreihundert der sie umzingelnden Feinde fallen unter ihrem Stahl und ihrem Blei. Roller findet dabei den Tod, dem er eben entflohen war. Für Moor ist dies ein entscheidendes Erlebnis; der Opfertod dieses einen, die Wunden der anderen, alle für ihn erlitten, um ihn zu retten, – binden seine stolze Dankbarkeit auf ewig an die Gefährten. In Erinnerung an diesen Tag leistet er drei Monate später an der Donau den Schwur: »Bei den Gebeinen meines Roller: ich will euch niemals verlassen.« Dieser Schwur ist der Höhepunkt des Stückes; die endgültige Besiegelung für die kolossale Selbsttäuschung des Helden, welche ihn nun endgültig ins Verderben ziehen muß.
Wir sind hiermit in den dritten Akt vorgerückt, dessen erste Szene einen leidenschaftlichen, aber dramatisch belanglosen Auftritt zwischen Franz und Amalia bringt. Ihren hier ausgesprochenen Entschluß, in ein Kloster zu flüchten, bringt Amalia nicht zur Ausführung, weil ihr unmittelbar darauf Hermann geheimnisvoll mitteilt, Karl lebe noch, und so von neuem ihre Hoffnungen anfacht. Von der folgenden in einer »Gegend an der Donau« spielenden Szene hat man wohl geglaubt, sie schlösse sich unmittelbar an die große Kampfszene des zweiten Aktes an, weil Moor sich hier an Rollers Tod erinnert und nach der Zahl der damals Getöteten fragt. Aber dieser Schluß ist unmöglich; Schweizers dort enthaltene Wunde ist schon vernarbt; von dem verbannten Schusterle ist acht Tage später schon Nachricht da, daß er in der Schweiz gehenkt worden ist. Die Erinnerung an jenen Tag erklärt sich vielmehr aus Moors elegischer, rückwärts gewandter Stimmung. Ermüdet von einem gehetzten Leben ist er am Ufer des Stromes hingesunken, den Sonnenuntergang zu betrachten, und in tiefer Rührung schweifen seine Gedanken nach den Tagen der unschuldsvollen Kindheit, nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne zuerst den Himmel vor ihm aufschloß, wo ein Abendgebet für ihn der Quell der Glückseligkeit war. Das tiefe Gefühl der Verlassenheit unter einer Mörderbande, des Verstoßenseins aus den Reihen der Gotteskinder überwältigt ihn. In diesen tief empfundenen Ergüssen glaubte Schiller sein Bestes gegeben zu haben; nach Jahren wußte er sich einem neu gewonnenen Freundeskreis nicht besser zu empfehlen als mit den Worten: »Für mich spreche Karl Moor an der Donau!« Nur der leiseste Anstoß ist in dieser Stimmung noch nötig, um den verlorenen Sohn reuig zurückkehren zu lassen; und schon naht sich der diesen Anstoß geben soll, aber es ist zu spät, und das unerbittliche Schicksal schiebt eine Zwischenhandlung ein, welche jeden solchen Gedanken zu nichte macht. Der getreue Schweizer kommt, um den Hauptmann mit einem Trunk Wassers zu erquicken; um es zu schöpfen, hat er sein Leben aufs Spiel gesetzt. Moor hört dies, er beschaut zugleich die Narbe auf Schweizers Stirn; er denkt an den Tod Rollers, an die Todesverachtung, mit der alle für ihn gekämpft... Feierlich ruft er aus: »Jeder von euch hat Anspruch auf diesen Scheitel«, und leistet den Schwur, der ihn ewig bindet. Und unmittelbar darauf tritt der in den Kreis, der die Erinnerung an das verlassene Glück unwiderstehlich in ihm entfachen soll.
Kosinskys Schicksal ist ähnlich wie Moors, aber noch erschütternder. Was ihn zum Feinde der herrschenden »Gesellschaft« macht, ist hundertmal schlimmer, als was Moor erfahren hat. Und das entsetzliche Los seiner ehemaligen Braut richtet auch des Räubers Gedanken auf die seinige, die seinem verruchten Bruder schutzlos preisgegeben ist. Man Hat wohl den Vorwurf erhoben, daß er nur durch die zufällige Gleichheit des Namens an sie erinnert und zum Entschluß sie aufzusuchen getrieben wird. Schiller hat allerdings diesen Vorwurf sich selbst dadurch zugezogen, daß er sich den oberflächlichen Effekt dieser Namensgleichheit gestattet hat. Aber die Motivierung ist auch ohne diesen Effekt lückenlos. Die elegische Versunkenheit in das vergangene Glück, der sich Moor hingegeben hatte, legte ihm den Wunsch, einmal noch in die Heimat zurückzukehren, schon so nahe, daß es nur eines geringen Anlasses bedurfte, um ihn zur Tat werden zu lassen. Und der Anlaß ist kein geringer! In Kosinskys Erzählung kommt das Bewußtsein überwältigend über ihn, welchen Schändlichkeiten in der von ihm so verabscheuten Welt seine Geliebte ausgesetzt ist, die er unbekümmert sich aus dem Sinn geschlagen hatte, als er sich an sein pathetisches Richterhandwerk machte. Nicht eine flüchtige Regung der Sentimentalität, sondern ein Erwachen bitteren Selbstbewußtseins ist es, wenn er ausruft: »Sie weint. Sie vertrauert ihr Leben. Auf! hurtig alle! nach Franken! In acht Tagen müssen wir dort sein.« Was er für Amalia dort tun kann, ist ihm natürlich selber nicht klar,' aber er will ihr wieder einmal nahe sein, und wenn nötig, seinen überall gefürchteten Degen für sie zücken.
Im vierten Akt finden wir Moor tatsächlich in der Heimat. Hierdurch meiden die beiden getrennten Gruppen der Hauptpersonen zum erstenmal zusammengeführt. Daß dies nicht früher geschehen, wäre ein Mangel, wenn der tragische Inhalt des Stückes in dem Konflikt zwischen den beiden Brüdern läge, die mir dann auch in persönlichem Gegensatz vor uns sehen wollten. Aber dem ist nicht so; das Tragische liegt in Moors innerem Konflikt, in seinen vernichtenden Seelenkämpfen; Franz ist nur ein Intrigant, der seine Netze auch aus der Ferne auswerfen konnte. Offenbar absichtlich vermeidet der Dichter auch jetzt, das Zusammentreffen der Brüder, das wirklich stattfindet, uns zu zeigen, so daß wir im ganzen Verlauf des Stückes beide niemals zusammensehen.
Dagegen werden Karl und Amalia zusammengeführt. Überraschenderweise sehen wir hier den sonst so leidenschaftlich vorwärtsstürmenden Dichter an Spitzfindigkeiten Gefallen finden. Während der alte Diener Daniel den ehemaligen Herrn erkennt, bleibt Amalia im unklaren über die rätselhafte Gewalt, die sie zu dem fremden Grafen hinzieht. Der Kampf zwischen der Treue gegen den Abwesenden und der Neigung zu dem Gegenwärtigen kann unser Mitgefühl nicht erwecken, weil er auf unnatürlichen Voraussetzungen ruht; die erste Szene der beiden Liebenden in der Ahnengalerie hat noch ergreifende Züge, die zweite im Garten ist unwahr und zusammenhanglos. Desto packender und überzeugender ist die Schilderung von der Wirkung, welche auf Franz die Zusammenkunft mit dem Bruder geübt hat. Ahnungen steigen ihm auf, sie verdichten sich, und plötzlich steht das Bild dessen vor ihm, den er längst für verdorben, hoffentlich gestorben angesehen hat. Sein Entschluß, den physischen Brudermord dem moralischen hinzuzufügen, ist schnell gefaßt. Daß er sich gerade an den alten Daniel wendet, kein geeignetes Werkzeug, – erklärt sich leicht daraus, daß er glaubt, diesen Alten am leichtesten einschüchtern zu können. Er irrt sich insofern, als Daniel lieber aus dem Hause in aller Stille flüchten will, als sich zu einem Verbrechen hergeben. Doch als er diesen Entschluß ausführen will, hat der Bedrohte schon längst das Schloß heimlich verlassen und ist in den Wald zu seiner Bande zurückgekehrt. Eine Unterredung mit Daniel hat ihm die Gewißheit gegeben, daß sein Bruder ihn tückisch mit dem Vater und der Welt entzweit habe; aber er denkt nicht an Rache; was sollte es auch dem Räuber und Mörder helfen, wenn er einen Brudermord auf sich lüde; das Schloß seiner Väter, die Braut kann er doch nicht wiedergewinnen. Aber der Glaube an sein Schicksal, an seine Bestimmung kommt in ihm ins Wanken. Hatte er bisher sich für ein Werkzeug in den Händen der Vorsehung gehalten, so sieht er sich jetzt als Spielball eines Schurken; das Gefühl der Machtlosigkeit menschlicher Pläne gegenüber den Verwickelungen der Schicksale überwältigt ihn. Das Geständnis des getreuen Schweizer, daß er eben den niederträchtigen Spiegelberg, der den Hauptmann hinterrücks ermorden wollte, ums Leben gebracht, erschüttert ihn noch mehr; vergeblich will er seine Stärke aus dem gigantischen Römerliede von Brutus und Cäsar zurückgewinnen. Dieser majestätische Dialog ist der Gipfel von Schillers Jugenddichtung und überhaupt ein Gipfel seiner dramatischen Lyrik. Der ganze Idealismus des jugendlichen Dichters spricht sich darin aus, wenn die politische Grütze Cäsars von der Charaktergröße des Brutus überboten wird. Aber mit wie sinnlich-kräftigen Mitteln ist der ideale Gedanke dargestellt! Das Heranschreiten des Besiegten, der sich noch durch den »Schritt des Niebesiegten« ankündigt, das Erkennen des Ermordeten an seiner zwanzigfachen Wunde, die plötzliche blitzartige Verkündigung der Vater und Sohnschaft, und die stolze Zurückweisung, mit der der unerschütterliche, unbeugsame Mörder und Märtyrer jede Gemeinschaft abbricht und dem großen Cäsar gebieterisch seinen Pfad vorschreibt, – alles das prägt sich unauslöschlich dem inneren Auge ein. Den Sturm in Moors Seele kann auch dieser Heldengesang nicht übertäuben, aber er wirkte doch unbewußt kräftigend und erhebend auf ihn ein: als der tiefe Überdruß eines verfehlten Lebens ihn schon niederwerfen will, als er die Hamletischen Schauer der Ewigkeit schon von sich gewiesen hat und sich den Tod geben will, da bricht die unversiegliche Kraft seines Ich doch siegreich hervor; »die Qual erlahme an meinem Stolz; ich will's vollenden«, mit diesem Ruf nimmt er die Bürde des Lebens wieder auf sich und geht dem schwersten Augenblick, dem einzigen, da er wirklich zum Rächer und Richter berufen ist und zugleich sich selber lichtet, entgegen. Hermanns mildtätiger Besuch, den er dem alten Moor schenkt, um ihm das Leben zu fristen, wird für Karl der Anlaß, bei dem er das Schicksal seines Hauses, die verheerenden Verbrechen seines Bruders erfährt. Seinem getreuen Schweizer gibt er als höchste Ehre den Rachebefehl, den Bruder vor ihn zu schleifen, wie er ihn finde, aber sein Leben zu bewahren; in demselben Turm, in den er den Vater gestoßen, soll er selbst zugrunde gehen.
Ist es nun gerechtfertigt, wenn mir im fünften Akt Franz, wie in einer Ahnung seines Endes, unter furchtbaren Gewissensqualen leiden sehen, die er bisher immer nur verlacht hatte? Ein schreckensvoller Traum hat ihm alle Fassung geraubt. Als Ursache können wir das unvermutete Erscheinen des Bruders und den Mordbefehl gegen ihn anführen, aber die gewaltige Vision des Endgerichts, welche diesen Traum ausfüllt, kann doch nicht daraus allein sich herleiten. Offenbar hat der Dichter hier ein unmittelbares, übernatürliches Eingreifen der sittlichen Weltordnung, die sich Franz als Rächerin kundgibt, darstellen wollen, – wir können ihn aber deshalb nicht tadeln; denn wenn man dies auch undramatisch nennen darf, so ist es auch von ihm nicht als notwendige Voraussetzung der ferneren dramatischen Entwicklung gedacht; es ist ein eingeschobenes Bild von höchster, erschütterndster Wirkung. Weder das Gespräch mit dem alten Daniel, der im Begriff das Haus zu verlassen von Franz aufgehalten wird, noch das folgende mit dem herbeigerufenen Pastor Moser führen die Handlung weiter; sie sollen nur die Überzeugung des Dichters erhärten, daß der Frevel sich selbst an dem Urheber rächt. Und die Rache von außen läßt nun auch nicht länger auf sich warten. »Feurige Reiter« jagen mit wildem Geschrei die Straßen herauf, sie umzingeln das Schloß, sie stürmen und brechen durch die Ringmauer, sie werfen Feuerbrände, sie schießen durch die Fenster, sie dringen herauf, sie belagern die Tür seines Gemachs; er weiß, daß sie niemand anders suchen als ihn, er ahnt, daß sie die Boten eines unentrinnbaren Gerichts sind; er weiß, daß er niemand hat, der für ihn einen Finger regt, er ahnt, daß sein Ende gekommen. Beten kann er nicht; sich zu durchbohren, dazu reicht sein Mut nicht; die Türe kracht – – und Verzweiflung gibt ihm Kraft, sich zu erdrosseln. Schweizer findet ihn tot, und da er seinen Auftrag nicht mehr erfüllen kann, erschießt er sich selbst; nächst Roller der beste der Genossen, geht er seinem Hauptmann im Tode voran.
Gerichtet ist Franz dennoch durch den Willen des Bruders; Schweizers Gefährten bringen Karl die Kunde. Nur als Vollstrecker der Gerechtigkeit hat dieser gehandelt; sein eigenes Schicksal kann durch Franz' Tod nicht gewandelt werden. Schon seinem Vater kann er nicht wagen sich zu entdecken; der Alte schwärmt in Gedanken an seinen herrlichen, von ihm verstoßenen Sohn; er ahnt nicht, daß er als Räuberhauptmann neben ihm steht. Und nun stürzt, um Karl in die letzte unentrinnbare Katastrophe zu treiben, Amalia auf die Szene; sie hat es vernommen, daß ihr Oheim noch lebt, daß Karl in der Nähe weilt; aus dem Grauen des verbrennenden Schlosses flüchtet sie sich zu dem Geliebten, den sie seit Jahren betrauert hat. Das letzte Geständnis bleibt Karl nicht erspart. Hier ist kein Ausweichen mehr möglich; »Räuber und Mörder«, mit diesen Worten schneidet er alle Gemeinschaft mit den Seinen durch. Der alte Moor gibt den Geist auf; Amalia kann sich freilich auch jetzt nicht von dem »Bräutigam« trennen; damit aber besiegelt sie nur ihr Todesgeschick zugleich mit dem seinen. Für Moor hat das Leben keinen Raum mehr; es ist kaum nötig, daß d« Räuber ihn an seinen Schwur »bei den Gebeinen Rollers« mahnen, daß sie den scheußlichen Ruf ausstoßen »Amalia für die Bande!« Die kurze Wallung, die Karl noch ein glückliches Leben an Amalias Seite träumen läßt, muß von selber in wenigen Augenblicken verfliegen. Aber sein Verbrecherleben fortzusetzen ist ihm ebenso unmöglich. Die plötzliche Einsicht, daß er frevelhaft sich angemaßt habe, die Gesetze durch Gesetzlosigkeit aufrecht zu halten, daß er der Vorsehung ins Amt gefallen sei, ist uns nicht ganz überzeugend; aber ihr zugrunde liegt tatsächlich auch nur die Empfindung des eigenen grenzenlosen Elends neben dem Glück, das er für immer verscherzt hat. Neben der Reinheit der Geliebten verfliegen alle Sophismen, mit denen er seine Taten beschönigt hat; ein anderes Ideal als das, an dem er sich lange berauscht hat, ist ihm aufgegangen. An der selbst für den Mörder bittenden Liebe des Vaters, an der unüberwindlichen Treue der Geliebten hat er erkannt, daß der Adel der Menschheit, den er im Taumel der Erbitterung für null und nichtig erklärt hat, dennoch besteht und ihn selber verdammt. Wenn er sich nun freiwillig dem Gericht überliefert und dies sogar durch einen armen Mittelsmann tut, um ihm den auf seinen Kopf gesetzten Preis zuzuwenden, so spricht sich darin freilich etwas zu deutlich die Absicht aus, dem gewagten Räuberstück einen moralisch untadelhaften Abschluß zu geben: der Selbstmord wäre für Karl das Natürlichere gewesen, und die theologische Deduktion, eine Todsünde könne nicht das »Äquivalent für eine Todsünde sein«, ist zu kühl für die drangvolle Leidenschaft des Augenblicks. Aber der tragische Ausgang an sich ist mit zwingender Notwendigkeit herbeigeführt.
Und wenn wir das Ganze nochmals überblicken, so ist es diese Fähigkeit tragischer Auffassung und Verwickelung, welche den jungen Dichter schon als zum Höchsten berufen erscheinen läßt. Hier ist keine Zufallstragödie, keine Schicksalstragödie, keine Intrigentragödie, obgleich man im einzelnen glauben könnte, dies alles zu finden; hier ist in die innerste Anlage, in die tiefste Willensrichtung der Person das Tragische verlegt, und darum ist es wahrhaftig, und ist unentrinnbar. Das Wort: »In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne« hat Schiller schon hier in seinem Erstlingsdrama meisterhaft bekräftigt. Wohl ist an Karl Moor empörend gefrevelt worden, aber unter Hunderten würde kein zweiter durch diese Frevel zu den gleichen Taten und Untaten kommen wie er. Und wiederum – wenn das große Unrecht gegen ihn nicht verübt worden wäre, – auch dann könnten wir ihn nicht als ruhigen und nützlichen Staatsbürger uns denken. Eine gewaltige Kraft, der das Malz fehlt; ein idealer Wille, aber mit äußerster Selbstüberschätzung verbunden, – aus solchen Wurzeln kann kein gesunder Baum erwachsen. Es sind die alten Vorbedingungen der Tragik, wie sie schon das griechische Drama ausgebildet hatte: der Mangel der Besonnenheit, die Überhebung, die zur Verblendung führt. "

(aus: Harnack 1898, Bd. 1, zit. nach Projekt Gutenberg)

 Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 16.12.2023

   
 

 
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