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Eine einheitliche, verbindliche Balladenbestimmung haben
Goethe und
Schiller nicht erarbeitet. [...]
Auf Wirkung freilich sind die
Balladen deutlich abgestellt, wobei an eine moralische ebenso wie an
eine ästhetische Wirkung gedacht wird. Die dramatischen Situationen, die
lebhaften Wechselreden, die Ausrufe und bündigen
Sentenzen wollen sich dem Gehör ebenso einprägen wie dem Herzen. Die
Balladen sind eine rhetorische Gattung: zum Vortrag bestimmt, auf
Überzeugung aus, sich dem Gedächtnis empfehlend.
Schiller bevorzugt theatralische Situationen: Personengruppen, Zuschauer
und Akteure, stehen einander gegenüber. So in den
Kranichen des Ibykus, in der
Bürgschaft, im
Taucher, im
Handschuh. Die Handlung, die die Ballade zum »erzählenden Gedicht«
macht [...], steht einerseits unter der Aufsicht und Weisheit höherer
Mächte (die sich im Mythos oder in den Naturgewalten zu erkennen geben),
andererseits dient sie zur Darstellung von Bewusstseinsveränderungen, die
sich bei den Akteuren vollziehen: So springt der zunächst nur tollkühne,
unerfahrene Jüngling als gereifter, von seinen Erfahrungen entscheidend
geprägter und in seinem Bewusstsein grundlegend veränderter
Taucher ein zweites Mal in die Tiefe - mit den entsprechenden
Konsequenzen. Ohne einen machvoll verändernden Einfluss auf das
Bewusstsein der Mörder des Ibykus bliebe das Verbrechen an ihm ungesühnt.
Den
Kranichen des Ibykus liegt ein detektivisches Schema zugrunde;
denn die Ballade beschreibt die Geschichte der Aufklärung eines Mordes,
und die Täter werden am Ende ihres Verbrechens überführt. Die Rolle des
Detektivs übernimmt im Medium des Theaters der griechische Mythos: Die
Schuldigen werden von den Erynnien, den Rachegöttinnen, ereilt. Die
Ballade gibt also im Sinne Schillers ein weiteres Beispiel für die
Macht des Gesanges: Die Poesie, hier vertreten vom griechischen Drama,
vollzieht die Gerechtigkeit, die zu vollziehen andere Institutionen nicht
in der Lage sind. Allerdings ist es nicht die Wirkung des griechischen
Dramas allein, die das Schuldbekenntnis der Mörder auslöst. Vielmehr
kommen die Kraniche noch hinzu: Das Naturphänomen der Kraniche und der
Mythos müssen zusammenwirken, wenn das klassische Ziel, die Durchsetzung
wahrer Humanität, erreicht werden soll. [...]
Ein auffälliges Stilmerkmal der Balladen Schillers ist die insistierend
ausführliche, häufig Einzelheiten summierende Beschreibung der jeweils
äußeren Umstände, gleichsam der Kulissen, vor denen sich die Handlungen
abspielen. Da werden mit geradezu zoologischer Präzision die bedrohlichen
Tiere der Meerestiefe aufgezählt (Der Taucher), da treten in
sorgfältiger Reihung »der Griechen Stämme« namentlich auf (Die Kraniche
des Ibykus), und da werden gleich mehrere Strophen darauf verwandt,
die Folgen des Unwetters zu beschreiben, mit denen Damon zu kämpfen hat (Die
Bürgschaft). Hier werden aber auch wirkende Kräfte sichtbar: Schon die
Kulisse der »froh vereinten« Griechen isoliert die Mörder, die unter ihnen
sind; die Gegenwart der Meeresungeheuer macht das ganze Ausmaß der
Gefährdung sichtbar, dessen Erfahrung den jungen Edelknaben eigentlich
neuen Versuchungen gegenüber hätte immun machen müssen; und vor dem
Hintergrund der in Auflösung befindlichen Natur erst erscheint die
unwandelbare Treue des Damon in ihrer ganzen Größe. Schillers Balladen
sind Werke von hoher und durchschaubarer Künstlichkeit; ihr Kunstcharakter
wird dem Leser geradezu demonstrativ und effektvoll vorgeführt.
(aus:
Wulf Segebrecht 1983, S.217f., gekürzt; )
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