Das Lamm und der
Wolf (Fabel von Äsop)
Ein Lämmchen löschte an einem Bache seinen Durst. Fern von ihm, aber
näher der Quelle, tat ein Wolf das gleiche. Kaum erblickte er das
Lämmchen, so schrie er: Warum trübst du mir das Wasser, das ich
trinken will?
Wie wäre das möglich erwiderte schüchtern das Lämmchen ich stehe
hier unten und du so weit oben; das Wasser fließt ja von dir zu mir;
glaube mir, es kam mir nie in den Sinn, dir etwas Böses zu tun
Ei, sieh doch! Du machst es gerade, wie dein Vater vor sechs
Monaten; ich erinnere mich noch sehr wohl, dass auch du dabei warst,
aber glücklich entkamst, als ich ihm für sein Schmähen das Fell
abzog
Ach, Herr flehte das zitternde Lämmchen ich bin ja erst vier Wochen
alt und kannte meinen Vater gar nicht, so lange ist er schon tot;
wie soll ich denn für ihn büßen
Du Unverschämter so endigt der Wolf mit erheuchelter Wut, indem er
die Zähne fletschte Tot oder nicht tot, weiß ich doch, dass euer
ganzes Geschlecht mich hasset, und dafür muss ich mich rächen
Ohne weitere Umstände zu machen, zerriss er das Lämmchen und
verschlang es.
Das Gewissen regt sich selbst bei dem größten Bösewichte; er sucht
doch nach Vorwand, um dasselbe damit bei Begehung seiner
Schlechtigkeiten zu beschwichtigen.