In der Memoirenliteratur und in der Geschichtswissenschaft - besonders in
der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vor 1990 - werden die Chancen
eines Generalstreikes gegen die
Machtübernahme
Hitlers sehr unterschiedlich beurteilt (vgl. auch
Winkler).
1)
Ossip K. Flechtheim (1969):
"Am 30. Januar forderte das ZK die SPD-Führung wieder einmal auf,
gemeinsam einen Generalstreik auszurufen - natürlich ohne Erfolg. Die
'Sozialfaschisten' hatten schon längst aufgehört, die Verlautbarungen
der 'Kozis' ernsthaft zu prüfen. Der jahrzehntelange Kampf hatte die
beiden Parteien mit solchem Hass erfüllt, dass selbst die Errichtung der
faschistischen Diktatur sie nicht zusammenbringen konnte."
(aus:
Ossip
K. Flechtheim (1969), S.287)
2)
Julius Braunthal (1978 )
"Die Kommunisten konnten [...] nicht erwarten, die
sozialdemokratische Parteileitung würde sich einem von der
kommunistischen Parteileitung ausgerufenen Generalstreik anschließen, der
ohne vorheriges Einvernehmen über ihre Köpfe hinweg beschlossen worden
war."
(G. Braunthal, Bd.2, S.399.)
3)
Erich Matthias (1960)
"Die sozialdemokratischen Führer standen am 30. Januar vor einer
viel schwereren Entscheidung als am 20. Juli des Vorjahres. Sie konnten
kaum hoffen, dass sich durch eine offene Auflehnung der isolierten partei-
und gewerkschaftstreuen Arbeitermassen die nationalsozialistische
Regierungsübernahme rückgängig machen lassen würde; und wenn sie davor
zurückscheuten, ihre Anhänger in einen aussichtslosen Kampf zu treiben,
wird man ihren humanitären Motiven die Achtung nicht versagen dürfen.
[...]
So verbarg sich hinter der scheinbaren Entschlossenheit von Anfang an die
Theorie der Untätigkeit, die es der unelastischen, ebenso ratlosen wie
skrupelhaften sozialdemokratischen Parteiführung erlaubte, der
nationalsozialistischen Machtergreifung nicht anders als einer
Dutzendkrise zu begegnen."
(aus:
Matthias/Morsey
(1960), S.158, 162)
4)
Heinrich Potthoff (1974)
"Gerade ihr (der SPD, d. Verf.) Glaube an die Grundsätze der
Vernunft und Humanität, der Demokratie und der Rechtstaatlichkeit
hinderte sie daran, das Wesen der nationalsozialistischen Bewegung
wirklich zu begreifen. Trotz leidenschaftlicher Verurteilung des
Nationalsozialismus erkannten nur einige in ihren Reihen den totalitären
Charakter des deutschen Faschismus".
(aus: Potthoff 1974, S.124)
5)
Paul Löbe (1949)
(1875-1967, Mitglied des SPD-Parteivorstandes in der
Weimarer Republik, MdR)
"Die Frage, ob die Machterschleichung der Nazis durch gewaltsamen
Widerstand abgewendet werden könne, war umstritten. Das Gros unserer
Anhänger hat diesen aktiven Widerstand erwartet, die Führer aber waren
von der Nutzlosigkeit des damit sicher verbundenen Blutbades
überzeugt."
(aus:
Löbe 1949,
S.147)
6)
Wilhelm Keil (1948)
(ehem. SPD-Funktionär in der Weimarer Republik)
"Generalstreik? Aussichtslos, da sich die Kommunisten oder
Nationalsozialisten sofort seiner bemächtigen würden."
(aus:
Keil 1948,
Bd.2, S.491)
7)
Helga Grebing (1959)
"Es war vor allem auf den erzieherischen Einfluss der
Sozialdemokratie zurückzuführen, dass die die Arbeiterschaft ihren
politischen Überzeugungen treu blieb, sich in den inneren und äußeren
Stürmen der Republik diszipliniert verhielt und die auch sie bedrohende
soziale Entwicklung als das Ende des von ihr bekämpften Kapitalismus
begriff, dem ein neuer Anfang mit dem Sieg der Arbeiterklasse folgen
würde. Eine solche Haltung war im Grunde aber eine Überkompensation des
Gefühls tiefster Resignation und des schwindenden Glaubens an ihre
Führer und an den Wert der politischen Aktionen. So wird verständlich,
warum die deutsche Arbeiterschaft und ihre politischen Organisationen 1933
gegenüber dem nationalsozialistischen Gewalteinbruch in Passivität
verharrten."
(aus:
Grebing
(1959), S.32)
8)
Lewis J. Edinger (1960)
Die SPD-Führer " befürchteten, dass entweder die Kommunisten
oder die Nationalsozialisten die Kontrolle über die sozialdemokratischen
Arbeiter in die Hand bekämen, sobald der Generalstreik einmal erklärt
war."
(aus:
Edinger
(1960 ), S.80)
9)
Horst Duhnke (1972)
"Als Hindenburg am 30. Januar 1933 Hitler zum Reichskanzler
ernannte, bot die KPD in letzter Stunde einen gemeinsamen Generalstreik
an. Diesmal kam man nicht umhin, das Angebot an die SPD, den
Gewerkschaftsbund (ADGB), die Christlichen Gewerkschaften und den
Angestelltenbund (AfA) als organisatorische Einheiten 'von oben' zu
richten. Da aber auch dieser Aufruf wieder mit der Aufforderung verbunden
war, gemeinsam die 'Arbeiter- und Bauernrepublik' (ein Euphemismus für
'Diktatur des Proletariats') zu errichten, konnte die SPD-Führung ihn
kaum guten Glaubens akzeptieren. Zudem hatte die Sozialdemokratie sich zu
sehr mit der Demokratie identifiziert, um noch durch
außerparlamentarische Aktionen und mögliches Blutvergießen den Gang der
Dinge abzuwenden. Solange die Sozialdemokraten sich nicht fähig glaubten,
die Massen im Alleingang gegen eine anscheinend 'legitime'
Machtübertragung zur Revolte anzustacheln, konnten sie auf keinen Fall
ihre sozialistisches Programm in einem Bündnis mit der KPD
kompromittieren."
(aus:
Duhnke
1972, S.42f.)
10)
Siegfried Bahne (1976)
"Schon vor der endgültigen Bildung des 'Hitlerschen
Herrenklub-Kabinetts' forderte die KPD die Arbeiterschaft, die SPD, den
ADGB und AfA-Bund am 30. Januar zum Generalstreik auf, eine Parole, der
nur an einigen Orten (so in Lübeck) Folge geleistet wurde. Dass sie nicht
häufiger befolgt wurde, ist wohl nichtzuletzt auf die sozialdemokratische
Stillhaltetaktik und das Fehlen der notwendigen Voraussetzungen für eine
sofortige gemeinsame Aktion nach einer langen heftigen Feindschaft
zurückzuführen."
(aus:
Bahne
1976, S.37)
11)
Karl-Dietrich Bracher (1960)
"Nicht nur die Furcht vor einem vergeblichen Blutbad, sondern vor
allem ein noch immer ungebrochener legalistischer Optimismus und eine
Verkennung des wahren machtpolitischen Charakters der 'nationalen
Erhebung' haben die SPD-Führung dazu bestimmt, eine Politik des legalen
Abwartens, des Vertrauens auf Gerichts- und Wahlentscheidungen
beizubehalten. Dazu kam eine Reihe von Argumenten, die auch in den
nachträglichen Apologien der Beteiligten wiederzufinden sind. Man
beklagte besonders das Versagen der Reichswehrführung und die fatale
'Legalität' der nationalsozialistischen Machtübernahme, die jeden
Aufstand verfassungsrechtlich ins Unrecht gesetzt und Hitler den
erwünschten Vorwand zur Vernichtung der SPD gegeben hätte, und
verweist auf den seit langem friedlich-evolutionären Charakter dieser
Partei; auch deshalb lehnte ihre Führung eine revolutionäre
Aktionseinheit mit den Kommunisten ab und schob den Entschluss zum
Generalstreik immer wieder auf, um ihn als letztes Mittel für den
äußersten Fall der Verfassungsverletzung durch die Regierung zur
Verfügung zu haben und jede vorschnelle Aktion zu vermeiden."
(aus:
Bracher
1960, 1974, S.106f.)
12)
Kurt Klotzbach (1969)
"Die Haltung besonders der SPD und der Gewerkschaften in diesen
Monaten war vielmehr einerseits das Resultat der ebenso gutwilligen wie im
Ansatz verfehlten sozialdemokratischen Politik zur Sicherung der Republik
nach dem Ausgang der Septemberwahlen 1930. Andererseits wurde sie von
bestimmten Elementen der Selbsteinschätzung und Selbstdarstellung
gefördert, die seit der Kaiserzeit sowie vor allem seit Begründung der
parlamentarischen Demokratie und dem Beginn staatsverantwortlicher
Führungsarbeit der SPD in der sozialistischen Bewegung wirkten."
(aus:
Klotzbach
1969, S.125)
13)
Klaus Mammach (DDR, 1974)
"Sie standen auf dem Boden des bürgerlich-kapitalistischen
Staates und hielten am militanten Antikommunismus fest. [...] Die tiefere
Ursache für ihr Verhalten lag im Zusammenhang von Imperialismus und
Opportunismus. So erwiesen sich die rechten sozialdemokratischen Führer
der SPD auf Grund ihrer Klassenposition als unfähig, auch nur den Kampf
für die Verteidigung demokratischer Rechte, geschweige denn für eine
echte Alternative zum faschistischen Regime des staatsmonopolistischen
Kapitalismus zu organisieren und zu führen. Sie bremsten die
kampfbereiten Mitglieder und Anhänger ihrer Partei und verhinderten die
Aktionseinheit der Arbeiterklasse und den Generalstreik."
(aus:
Mammach
1974a, S.19)
14)
Siegfried Bahne (1960)
Bahne betont, die Einheitsfrontangebote der KPD vom 30.1. und 27.2.1933
seien "vor allem ein Mittel, um die SPD in den Augen ihrer eigenen
Gefolgschaft zu diskreditieren." (S.169)
Darüber hinaus werde die Einheitsfronttaktik der KPD "zum Kernstück
einer kommunistischen Geschichtslegende gemacht, die besagt, dass die
kommunistische Partei grundsätzlich immer, in verstärktem Maße aber
sofort nach dem 30. Januar 1933 für eine Einheitsfront der beiden großen
deutschen Arbeiterparteien gegen den Nationalsozialismus eingetreten sei.
Dies trifft jedoch weder für die Zeit vor noch [...] für die ersten
eineinhalb Jahre nach Hitlers Regierungsantritt zu." (S.177f.)
(aus:
Bahne
(1960a), Zur Vorgeschichte ...)
15)
Timothy W. Mason (1977):
"Gewiss gab es im Verlauf der Wahlkämpfe zwischen 1930 und 1932
Fluktuationen zwischen den Arbeiterparteien und den bürgerlichen Parteien
[...]. Doch gewinnt man aus den Wahl- und Mitgliederstatistiken dieser
Zeit insgesamt den Eindruck, dass SPD und KPD zusammen ein politisches
Ghetto bildeten, ein Ghetto von beträchtlicher Ausdehnung allerdings, das
trotz der erbitterten Kämpfe im Innern und nach außen hin mit
Entschlossenheit verteidigt wurde. Es blieb trotz allem ein Ghetto, konnte
doch nach 1930 keine der beiden Parteien mehr einen überzeugenden
hegemonialen Anspruch in der deutschen Politik erheben. Das lag einmal an
ihrer Unfähigkeit, nach der Proklamation der 'sozial-faschistischen
Linie' durch die III. Internationale bzw. nach dem Zusammenbruch der
Großen Koalition noch wirksame parteipolitische Bündnisse einzugehen.
Wichtiger noch [...] ist freilich der Umstand, dass Millionen deutscher
Lohnarbeiter für die politischen Forderungen von SPD und KPD überhaupt
nicht empfänglich waren. Sie blieben immun gegenüber jedem Versuch
politischer Mobilisierung durch die Arbeiterparteien."
(aus:
Mason,
2. Aufl. 1978, S.56)
16)
Hans Mommsen (1974) "Gerade
das Festhalten an der überkommenen Tradition und ihrem geschichtlichen
Selbstverständnis setzte die Partei [die SPD, d. Verf.] instand, die
Massen gegen die irrationalen Zeitströmungen und die faschistischen
Tendenzen zu immunisieren; dieses aber geschah um den Preis relativer
politischer Inflexibilität."
(aus:
Mommsen
1974b, S.133) 17)
Jürg Wegmüller (1972): Die
Versuche zur Herstellung der Aktionseinheit scheiterten "an der
mangelnden Konsequenz und Kompromissbereitschaft der Kommunisten" und
"an der wohlbegründeten Furcht der Sozialdemokratie ihre Legalität
durch Zusammenarbeit mit der KPD zu gefährden."
(aus:
Wegmüller
1972, S.24) 18)
Bärbel Kunze (1971) "Die
Ursache für diese Fehleinschätzung der politischen Entwicklung ist
sicherlich in erster Linie darin zu sehen, dass die Sozialdemokraten eine
tatsächliche Faschismusanalyse nicht zu leisten vermochten, die an den
für die Weimarer Republik in dieser Zeit spezifischen Bedingungen der
ökonomischen Reproduktion der Gesellschaft und den konkreten
Klassenverhältnissen zwischen den verschiedenen Klassen orientiert war.
Denn die sich aus der reformistischen Konzeption der Partei ergebende
Identifikation mit dem kapitalistischen Staat musste es der
Sozialdemokratie unmöglich machen, die Bedingungen für die Entstehung
der faschistischen Bewegung in Deutschland und für die mögliche
Etablierung eines faschistischen Herrschaftssystems in den
kapitalistischen Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft zu sehen. Die
Ergebnisse der von sozialdemokratischer Seite verschiedentlich
unternommenen Ansätze, einen Faschismusbegriff zu formulieren, sind Indiz
für die Unfähigkeit der Sozialdemokraten, die den Faschismus bedingenden
sozialen Prozesse zu erfassen."
(aus:
Bärbel Kunze 1971, S.68f.) |