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Unfallgaffer

"Die Masse guckt, staunt, aber hilft nicht!"

Gaffer und kein Ende

 
 
  Die A3 nahe Würzburg, in der vergangenen Woche: Ein Lkw rast ungebremst in ein Stauende, schiebt einen Pkw in einen Bus. Die Insassen des Autos sind sofort tot. Wie so oft versammeln sich Schaulustige, die die Helfer bei jedem Handgriff beobachten. Die Bergung der entstellten Leichen muss hinter Decken geschehen, um die Toten den neugierigen Augen und den Videokameras der Gaffer zu entziehen.

(T 1) Prof. Wulf Dombrowsky, Katastrophenforscher
"Es kann jeden von uns in jedem Moment erwischen! Jedes Jahr 5 000, 6 000, manchmal sogar 9 000 Verkehrstote, die meisten Kinder - es kann jeden per Zufall erwischen! Und das macht: ´Oh Gott´ - und dann: ´Was ist los? Wie sieht´s aus? Schlimm? Und das sind genau die Zehntelsekunden, die schon reichen können, um: bumm!"

(T 2) Udo Spiegel, Autobahn-Polizei Biebelried
"Aus kleinen Unfällen, die vorne passieren, fahren die Leute dann vorbei an der Unfallstelle, schauen sich alles genau an, und am Stauende, das sich hinten dann bildet, passieren schwere Folge-unfälle mit Verletzten und Toten."

(T 3)Matthias Stürmer, Autobahn-Polizei Biebelried
"Als Polizist und auch als Mensch fehlt mir jedes Verständnis für dieses Gaffertum, das wir immer wieder an Unfallstellen erleben müssen. Dass die Leute bis zur Absperrung vorlaufen, um besser sehen zu können, dass sie sich auf den Böschungen versammeln, um sich am Leid ihrer Mitmenschen zu erfreuen. Es ist einmal sogar vorgekommen, dass ein Mann zu einer abgedeckten Leiche gegangen ist, hat die Decke hochgehoben, um sich den Toten anzuschauen!"

Hingucken, glotzen, sehen wollen - eine unglaubliche Neugier, die viele in ihren Bann schlägt. Aber: kaum einer denkt dann an die Risiken.
Die Folgen können so aussehen. Abgelenkt durch einen Unfall auf der Gegenfahrbahn rasten auf der A2 bei Magdeburg, 80 Autos ineinander. 27 Menschen wurden verletzt. Und immer wieder machen Rettungskräfte die Erfahrung, dass ihnen Menschenansammlungen das schnelle Erreichen der Unfallsstelle erschweren. Selbst die Hilfe aus der Luft ist davor nicht gefeit.

(T 4) Peter Fritz, Rettungsflieger
"Wenn dann am Notfallort sich eine größere Ansammlung von Bürgern befindet, die uns praktisch die Landung in der Nähe des Notfallorts erschweren, dann ist unser Zeitvorsprung - der also eigentlich das Positive an der Luftrettung ist -, zum großen Teil schon wieder aufgebraucht. Denn es geht ja dort nicht um Stunden, sondern um Minuten oder gar Sekunden!"

Was Rettungskräfte vor allem erschüttert: Schaulustige, die vor dem Notarzt am Unfallort sind, haben meistens nicht die simpelsten Hilfeleistungen durchgeführt. Und noch frustrierender: Je mehr Gaffer zusammenstehen, desto geringer die Neigung des Einzelnen, zu helfen.

( T 5)Peter Fritz, Rettungsflieger
"Die Masse hilft nicht! Nein, die Masse hilft nicht. Die Masse guckt, staunt, aber hilft nicht!"

(T 6) Bernd Rüdiger, Feuerwehr Kitzingen
"Wir erleben das sehr oft, dass Leute schauen, aber wenn man sagt: ´Geh´ mal her, fass´ mal mit an, hilf mal - dass sie dann zurückweichen und sich dann aus dem Staub machen, ohne zu helfen!"

Die A 61 bei Mönchengladbach. Hier verunglückte eine Familie mit sechs Kindern. Zwei Kinder lagen nach dem Unfall im Koma. Es war reines Glück, dass alle überlebten. Am Unfallort: viele Gaffer und wenig Hilfe. Die Mutter ist noch darüber noch immer schockiert.

(T 7) Gabriele Hudel, Unfallopfer
"Es war Film, es war wie in einem Horrorfilm! Man guckt sich sowas halt einfach an. Auf der Straße liegt ein schwer verletztes Kind - ich hab´ dann geschrien, ich hab´ sie angebrülllt: ´ihr Arschlöcher, helft doch mal! Bringt doch mal Wasser!´ Oder - die standen da, tranken ihre Cola oder ihre Wasserflasche, und das Kind lag auf der Straße, und - also das ist eine der schlimmsten Erfahrungen von so einem Unfall auch: dass Leute einfach - stehen da und die Hilfe einem verwehren! Da stirbt vielleicht ein Kind auf der Straße, oder da sterben Menschen auf der Straße, und andere stehen da und schauen dabei zu. Bei dem Tod mit zuschauen, das ist also eine ganz schlimme Erfahrung gewesen!"

Universitätsklinik Würzburg. Die Notärzte hier wissen, welcher Schaden entstehen kann, wenn die Hilfe nur eine Minute später als nötig zum Verletzten kommt. Ein Problem, das nicht nur gelegentlich auftritt.

(T 8) Prof. Peter Sefrin, Notarzt/Arbeitsgemeinschaft Notärzte Deutschlands
"Jeder fünfte Rettungseinsatz, zu dem wir als Notärzte gerufen werden, wird durch Gaffer behindert. Eine Behinderung, bei der cirka 60 000 Unfallopfer einen Schaden davontragen einfach deswegen, weil nicht zeitgerecht die Hilfe bei ihnen ankommen kann. Diese Zeit, die hier vertan wird durch Notfallzeugen, könnte überbrückt werden durch eine tatsächliche Hilfeleistung: eine erste Hilfe. Jeder zehnte, der am Unfallort verstirbt, könnte heute noch leben, wenn eine sachgerechte erste Hilfe durch Notfallzeugen geleistet würde, anstatt nur zuzuschauen!"

Manche Unfallzeugen schrecken aber auch schon deshalb vor Hilfeleistung zurück, weil sie sich unsicher fühlen. Zu lange ist der Erste-Hilfe-Kurs her, den man vor der Führerscheinprüfung absolviert hat, und dann nie wieder. Es ist auch nicht gesetzlich vorgeschrieben, diesen Kurs regelmäßig wieder aufzufrischen. Aber auch von Bestrafung wegen unterlassener Hilfeleistung halten die Notärzte in diesen Fällen wenig.

(T 9) Prof. Peter Sefrin, Notarzt/Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der in Bayern tätigen Notärzte, Stellv. Vors. der Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften Notärzte Deutschlands (BAND)
"Wir glauben als Notärzte, dass nicht vordergründig die Drohung mit einer Strafe hier notwendig ist, als vielmehr die Tatsache, darauf hinzuweisen dass, wenn die Möglichkeiten der Hilfeleistung durch den Rettungsdienst und den Notarzt rechtzeitig am Patienten eintreffen könnten - dass dann wirklich solche Opfer überleben und geringere Schäden davontragen!"

Also Aufklärung statt Strafe. Jedem muss klar sein oder eben erst werden, dass jährlich Tausende Unfallopfer vermeidbare Verletzungsfolgen davontragen oder gar zu Tode kommen, weil Gaffer nicht helfen oder die Rettungskräfte behindern.

(nach: Fakt, mdr-Magazin, http://www.mdr.de/fakt/135994.html , 15.9.029, verändert und gekürzt)
 

 
   
   Arbeitsanregungen:
  1. Arbeiten Sie die Argumente gegen das Gaffertum heraus.

  2. Diskutieren Sie: Welche Möglichkeiten sehen Sie, um dem Gaffertum entgegenzuwirken?
     

 
      
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