Das erste
Mehr-Speicher-Modell: Primärgedächtnis und Sekundargedächtnis
Schon im Jahr 1890
hat der US-amerikanische Psychologe und Philosoph »William
James (1842-1910) den Vorschlag gemacht, zwischen einem
Gedächtnis für kurzfristiges Behalten, dem Primärgedächtnis, und
einem Gedächtnis für das langfristige Behalten, dem
Sekundärgedächtnis zu unterscheiden.
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Was im
Primärgedächtnis (primary
memory) gespeichert wird, hat, so
James
(1890, S.646f.) nur eine Haltbarkeit von wenigen Sekunden
und stellt eine kognitive Verarbeitung von Ereignissen, die
nicht aus unserer Erinnerung an Vergangenes stammen, sondern sie
stellen Reaktionen auf Reize in unserer Umgebung dar, die uns
für eine bestimmte Zeit lang bewusst sind.
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Im
Sekundärgedächtnis (secondary
memory) enthält hingegen alles, was erinnert wird. Es sind
langlebige Erinnerungen, die auf unbestimmte Zeit
aufbewahrt werden. Gewöhnlich sind sie uns nicht bewusst, sie
können aber, wenn man will, wieder ins Bewusstsein gelangen.
Die Auffassung von
unterschiedlichen Speichersystemen für das kurzzeitige und das
längerfristige Behalten ist bis heute eine der Grundannahmen der ▪
strukturorientierten Betrachtung
des ▪ Gedächtnisses. Dabei ist das
Konzept von James im Laufe der Zeit erheblich modifiziert worden.
Und trotzdem passt
die Vorstellung von zwei Speichersystemen für das kurzfristige und
längerfristige Behalten von Informationen zu dem, wie wir uns
gewöhnlich das Gedächtnis in unseren Alltagsvorstellungen ausmalen:
Manches vergessen wir eben noch kurzer Zeit für immer und an
anderes, an Begriffe und Ereignisse können wir uns nach lange Zeit
danach erinnern. Und so passt die Vorstellung von Containern für
Kurz- und Langlebiges in unserem Gehirn zu dem, was wir tagtäglich
erfahren.
Die wissenschaftliche
Mehr-Speicher-Theorien
Auch die
Wissenschaften haben sich bei ihrer ▪
strukturorientierten Betrachtung
des ▪ Gedächtnisses haben
Modelle entwickelt, die von verschiedenen Speichersystemen in
unserem Gedächtnis ausgehen.
Das ▪
Mehr-Speicher-Modell,
das »Richard
C. Atkinson (geb. 1929) und »Richard
M. Shiffrin (geb. 1942) (1968)
entwickelt haben, ist dabei der Prototyp dafür und wird
dementsprechend auch als die klassische Mehr-Speicher-Theorie
angesehen.
In diesem Modell,
das von drei Gedächtnissystemen ausgeht, haben das sensorische
Gedächtnis (sensorisches Register mit dem visuellen sensorischen
(ikonischen) und dem auditorischen sensorischen Gedächtnis), das
Kurzeitgedächtnis und das Langzeitgedächtnis unterschiedliche
Funktionen bei den Behaltensprozessen in unserem Gedächtnis. Sie
sind bei der Speicherung von Gedächtnisinhalten aufeinander
angewiesen. Dabei geht die klassische Mehr-Speicher-Theorie in einer
inzwischen als überholt geltenden Auffassung davon aus, dass
Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis zwei Gedächtnissysteme
sind, die, auch wenn sie zusammenwirken, bei der Verarbeitung
unanhängig voneinander arbeiten. Zugleich weist die klassische
Theorie dem Kurzzeitgedächtnis die wohl wichtigste Rolle in unserem
Gedächtnis zu und entsprechende (empirische) Forschungen haben ihre
Aufmerksamkeit lange vor allem auf seine Arbeits- und Funktionsweise
sowie seine Leistungen gerichtet.
Die klassischen
Annahmen über das Kurzzeitgedächtnis
Grundsätzlich
geht die ▪ klassische
Mehr-Speicher-Theorie (Atkinson/Schiffrin) davon aus, dass
Informationen, die bei ihrer Wahrnehmung Aufmerksamkeit erhalten
haben, in einen zwischengelagerten kapazitätsbegrenzten Speicher
(Kurzzeitgedächtnis) überführt werden, wo sie für eine bestimmte
Zeit verweilen, ehe sie wieder unwiederbringlich verloren gehen, von
neu eingehenden Informationen überschrieben oder in das
Langzeitgedächtnis überführt werden.
Ohne Verarbeitung
auf der Grundlage von
Rehearsal-Prozessen
des inneren Memorierens, so der fundamentale Irrtum der klassischen
Auffassung, können Informationen nicht in das Langzeitgedächtnis
gelangen. Dabei hat die solche Überlegungen stützende empirische
Forschung vor allem mit sinnarmem sprachlichen Material
experimentiert, bei dem z. B. bestimmte "sinnlose" Zahlen-,
Buchstaben- oder Wortfolgen in verschiedenen Nachsprechverfahren
darauf analysiert werden, unter welchen Bedingungen und wie lange
sich die Versuchspersonen daran erinnern konnten. Zahlen-,
Buchstaben- oder Wortfolgen, die ganz im semantischen Speicher des
Langzeitgedächtnisses vorhanden sind und den Nachsprecherfolg
deutlich erhöhen (z. B. BMW statt MWB, oder 007 statt 070) blieben
dabei außen vor. Neben anderen Kritikpunkten am klassischen Konzept
spielt dabei auch sein Postulat, "dass das Ausmaß des Memorierens
die Menge an Informationen bestimmt, die ins Langzeitgedächtnis
überführt werden" (Anderson
72013, S.120) eine zentrale Rolle. Denn wie
Craik und Lockhart (1972) zeigen konnten, ist die Dauer des
Memorierens offenbar keineswegs so wichtig. Vielmehr kommt es auf
die sogenannte
Verarbeitungstiefe (levels of processing) an, mit der
Informationen verarbeitet werden. Danach werden Informationen desto
nachhaltiger behalten, je mehr wir sie mit relevanten Bedeutungen
versehen können. Rein passives Memorieren jedenfalls führt danach zu
keiner nennenswert größeren Verarbeitungsleistung.
Das Modell des
Arbeitsgedächtnisses (Baddeley 1986)
Baddeley
(1986
widmet sich in der seiner ▪ Theorie
des Arbeitsgedächtnis vor allem jenen Prozessen mit denen
Informationen aufrechterhalten werden, ohne dass sie in den
Langzeitspeicher gelangen.
Im Gegensatz zur klassischen
▪ Mehr-Speicher-Theorie sieht er im Kurzzeitspeichersystem kein
einheitliches System. Stattdessen geht er davon aus, dass im
sogenannten Arbeitsgedächtnis, der Begriff, der in seiner Theorie
den des Kurzzeitgedächtnisses ersetzt, aus zwei Speichersystemen
besteht.
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Im verbalen
Speicher, von Baddeley als
phonologische Schleife
(phonological loop) bezeichnet,
der aus "multiplen Komponenten besteht" (Anderson
72013, S.122), darunter der sogenannten artikulatorischen
Schleife (articulatory loop),
mit der die "innere Stimme" Informationen wiederholt, und dem
phonologischen Speicher (phonological
store)
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im
visuell-räumlichen Speicher, den Baddeley
räumlich-visuellen
Notizblock (visuo-spatial
sketchpad) nennt. In diesem werden mit einem dafür
geeigneten Wiederholungsmechanismus visuell-räumliche
Informationen in analoger Weise aufrechterhalten.
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Ob der eine oder
der andere Speicher zum Einsatz kommt, regelt eine
zentrale Exekutive (central
executive), die Informationen in jeden der beiden Speicher
einbringen und auch Informationen von einem Speicher in den
anderen "übersetzen" kann. Dabei verfügt die zentrale Exekutive
selbst über einen eigenen flüchtigen Speicher, um ihre
Kontrollaufgaben ausüben zu können.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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