Noch weiter bei der Abkehr von traditionellen Vorstellungen zur
▪ Wissensrepräsentation als die ▪
Theorie der
perzeptuellen Symbolsysteme geht die
Theorie der
verkörperten Kognition (»embodied
cognition,= "leiblich verankerte Kognition" oder
"verkörperlichtes Denken" ), die den Anteil der motorischen Aktionen und ihre
Verknüpfung mit der Umwelt betont. Sie wird auch als »Embodiment-Theorie
bezeichnet, die hervorhebt, dass Repräsentationen in den
perzeptuellen und motorischen Systemen und nicht nur in davon
getrennten kognitiven Systemen stattfindet.
Die Theorie stellt dabei die traditionellen Ansätze, die dazu
tendierten, die Rolle des Gehirns auf einen abstrakten
Informationsprozessor zu beschränken und mithin den ganzen Köper
als Hardware zu verstehen, grundsätzlich in Frage. Was wir an
Objekten und Ereignissen repräsentieren, steht dieser Auffassung
nach in einem engen Zusammenhang mit unserem Handeln und unseren
Handlungsmöglichkeiten. Und damit hängen natürlich auch alle
Repräsentationen unserer äußeren und inneren Welt davon ab, was
wir selbst als handelnde Personen erfahren haben.
Für die Embodiment-Theorien ist Denken somit "mehr eine mentale Simulation
konkret erlebbarer Situationen einschließlich ihrer
wahrnehmungsnahen und motorischen Komponenten." (Wentura/Frings
2013, S.138) Wie das aussehen kann, lässt sich an einem
Fernsehzuschauer eines Fußballspiels veranschaulichen: Wer dem
Spiel zusieht und "versteht", was in einer bestimmten Situation
passiert, wird u. U. zu dem Schluss kommen "Der müsste jetzt
schießen!" - und spürt dabei nicht selten ein Zucken im eigenen
Bein. (vgl.
ebd.) Wer ein Wort wie "kicken" verstehen verstehen will,
zieht neben der Vorstellung eines Bildes, wie jemand einen Ball
wegschießt und der sprachlichen Beschreibung dieses Vorganges,
wird die motorischen Bewegungen, die mit dem solchen
Vorstellungen vom Kicken zusammenhängen, in eigenen Bewegungen
irgendwie imitieren. (vgl. Anderson
72013, S.103).
Und Ähnliches scheint auch der Fall zu
sein, wenn wir einen Begriff wie HUND erinnern, bei dem wohl
"stets konkrete Wahrnehmungs- und Handlungserfahrungen
mitschwingen" (Wentura/Frings
2013, S. 137), wenn wir mit dem Begriff gedanklich zu tun haben.
Es gibt sogar die Annahme, "dass unser Sprachverstehen oft vom
verdeckten Ausagieren dessen abhängt, was die Sprache
ausdrückt." (Anderson
72013, S.103), dort Verweis auf
Glenberg 2007)
Die Embodiment-Theorie geht davon aus, dass kognitive Prozesse mit den
Interaktionen des Körpers mit der Welt eng verbunden sind. Sie
postuliert eine Wechselwirkung zwischen Kognition, Wahrnehmung
und Motorik, "und dass sich das in der Repräsentation von
Denkprozessen widerspiegelt. Im Gegensatz zu den klassischen,
mentalen Repräsentationskonzepten, die von amodalen Konzepten
ausgehen und das Gehirn als die zentrale Instanz mentaler
Repräsentation und Kognition ansehen, postuliert dieses Konzept,
dass Denken nicht unabhängig vom Körper möglich ist und
multimodal verkörperlicht ist. ".(Stangl, W. (2021). Stichwort:
'Embodied Cognition'. Online Lexikon für Psychologie und
Pädagogik.
WWW:
https://lexikon.stangl.eu/14550/embodied-cognition
(2021-02-03)
So will man sich menschliches Denken, ohne zu
berücksichtigen, dass es in und mit einem
biologisch-physikalischen Köper passiert, nicht mehr vorstellen.
Geist, Körper und Umwelt sind, so der prinzipielle Ansatz des Embodiments, als Komponenten eines dynamischen Systems zu
verstehen, in dem komplexe Interaktionen zwischen diesen
Komponenten bei der kognitiven Verarbeitung unterschiedlicher
Modalitäten ablaufen. Wie der Abgleich zwischen den
verschiedenen Repräsentationen der unterschiedlichen
Sinnesmodalitäten ablaufen könnte, kann mit zwei verschiedenen
Ansätzen erklärt werden:
-
Die
sogenannte
Multimodalhypothese (multimodal
hypothesis) geht dabei von der Annahme aus, dass wir
über verschiedene Repräsentationssysteme für visuelle,
verbale, motorische und sonstige Modalitäten verfügen. Dazu
können wir mit verschiedenen Mitteln die verschiedenen
Repräsentationen direkt ineinander umwandeln
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-
Die
amodale Hypothese (amodal
hypothesis) glaubt nicht, dass die Umwandlung der
verschiedenen Repräsentationen direkt und ohne ein
vermittelndes System funktioniert. Für sie könnte dieses
Vermittelnde die Bedeutung sein (in etwa dem entsprechend,
was als die abstrakte ▪
propositionale Repräsentation angesehen wird)
Embodiment in
sechs, z. T. kontroversen Thesen
Die Embodiment-Theorie geht nach Margaret
Wilson
(2002) von sechs Behauptungen aus, die in unterschiedlichem
Maße als kontrovers angesehen werden:
-
Kognition ist situiert und an einen Kontext gebunden.
-
Kognitive Prozesse laufen in Echtzeit unter Zeitdruck ab und
müssen mit Hilfe besonderer Mechanismen auch dann zu
Anweisungen für das Handeln führen, wenn, weil sich die
Dinge schnell und kontinuierlich entwickeln zu schnell
entwickeln, keine Zeit bleibt, um ein vollständiges
mentales Modell der Umwelt zu konstruieren.
-
Wir laden kognitive Arbeit auf die Umwelt ab (we off-load
cognitive work onto the environment), weil unser kognitiver
Apparat bei Aufmerksamkeit und im Arbeitsgedächtnis
kapazitätsbeschränkt ist. Das machen wir z. B., wenn wir
bestimmte Informationen dadurch "aus dem Kopf" haben, aber
nicht vergessen wollen, dass wir sie in unserer Umwelt in
einem niedergeschriebenen Kalender notieren oder etwa Wissen
in Computerdateien "ablegen". Wir ziehen solche
Informationen dann bei Bedarf wieder heran, müssen sie aber
so nicht länger im Kopf behalten. Besonders deutlich wird
dieser Aspekt im Zusammenhang mit »Augmented
Reality (erweiterter Realität). Durch über
Computersysteme verfügbar gemachten Informationen, für die
wir keine Reize empfangen, können wir z. B. wenn wir eine
Smartphone-Kamera auf ein Gebäude richten, sämtliche dafür
"hinterlegten" Informationen abrufen.
-
Die Umwelt ist Teil des kognitiven Systems.
Dieses Postulat
geht davon aus, dass Kognition nicht ausschließlich auf
geistige Aktivität einer Person zurückgeht, sondern über die
gesamte soziokulturelle Situation verteilt ist. Die
Schlussfolgerung daraus: Situation und wahrnehmende Person
müssen zusammen als einheitliches System untersucht werde (distributed
cognition).
-
Kognition
ist zum Handeln da, hat also stets einen Bezug zum Handeln.
Dementsprechend müssen kognitive Prozesse auch stets
unter dem Aspekt ihrer Funktion betrachtet werden.
-
Offline-Kognition basiert auf dem Körper (off-line cognition
is body based).
Wilson
(2002) ist der Ansicht, dass die ersten drei Postulate
zutreffend sind und das fünfte zumindest teilweise wahr ist.
Bedenken äußert sie hinsichtlich der Gültigkeit des vierten
Postulats. Zugleich sieht sie in der sechsten Behauptung, auch
wenn sie in der Literatur bis dahin noch keine ihrer Bedeutung
entsprechenden Niederschlag gefunden hat, für die wichtigste
Erkenntnis an, zu der die Embodiment-Theorie beigetragen hat.
Im Prinzip geht es dabei darum, dass
Bewusstsein und Denkprozesse stets eine physikalische
Interaktion voraussetzen, die motorische Aktivitäten und
Wahrnehmungsfunktionen umfassen. Zugespitzt geht es dabei um die
Frage, ob Denkprozesse überhaupt ohne seine physikalische Basis,
den Körper, existieren können.
In der Embodiment-Theorie ist dabei klar:
Körper und Geist (Denken, kognitive Fähigkeiten, Gefühle,
Einstellungen, Bewusstsein) können nur miteinander und in
Interaktion unseren kognitiven Apparat am Laufen halten. Was
also zwischen Körper und Geist passiert, muss in einer Art
Wechselbeziehung betrachtet werden, bei der beide aufeinander
einwirken.
Eine Erkenntnis im Übrigen, die gar nicht
so fern von den Erfahrungen liegt, die wir im Alltag machen. So
schlägt uns eine bestimmte Erinnerung auf den Magen, die
Verarbeitung bestimmter Bilder kann uns in sexuelle Erregung
versetzen und wenn man tief in den Bauch atmet, kann man auf
andere Gedanken kommen.
Embodiment und Lesen
Dabei lassen neuere Arbeiten zur Embodied Cognition sogar
vermuten, dass die verkörperte Kognition sogar beim ▪
Lesen von Texten
eine Rolle spielt. Dabei macht es allerdings einen Unterschied,
ob man dabei analog oder digital liest.
Jedenfalls scheint es so zu sein, als ob der Körper
tatsächlich mitliest und mitdenkt, "d. h., er ist sogar ein
wesentlicher Teil des Verstehensprozesses. Man nimmt an, dass
die Haltung, die Menschen beim Lesen einnehmen, für die
Konzentration nicht unwesentlich ist. Wer etwa lesend einen
kleinen andybildschirm durch überfüllte U-Bahnen zu manövrieren
versucht, weiß aus Erfahrung, dass dabei vom Gelesenen nicht
viel übrig bleibt. Eine Meta-Studie zeigt, dass lange Texte in
gedruckter Form konzentrierter gelesen werden und besser im
Gedächtnis haften bleiben. Dafür heben digitale Texte den
Vorteil, dass sie besser auf die individuellen Bedürfnisse der
LeserInnen zugeschnitten werden können. Vor dem Bildschirm
überschätzen viele Menschen gerne ihre Verständnisfähigkeiten
und verarbeiten das dort Gesehene und Gelesene fragmentarischer,
d. h., sie überfliegen eher die Inhalte. (Stangl, 2021). Stangl,
W. (2021). Stichwort: 'Embodied Cognition'. Online Lexikon für
Psychologie und Pädagogik. WWW:
https://lexikon.stangl.eu/14550/embodied-cognition
(2021-02-03)
Alles scheint damit, auch im Zusammenhang mit Lesen, in einen
Gesamtzusammenhang eingebettet zu sein und in ihm auch situiert
zu werden. Das bedeutet, dass kognitive Aktivitäten auch nicht
in einem "luftleeren" Raum stattfinden, sondern stets im Kontext
einer realen Umgebung erfolgen. Wer z. B. Auto fährt, die dazu
erforderlichen motorische Aktivitäten ausführt, nehmen wir
ständig neue Informationen aus der Umgebung während des Fahrens
auf (wir spüren den Seitenwind, hören ein verdächtiges
Motorgeräusch etc.) und verarbeiten diese Informationen weiter
und setzten sie ggf. in entsprechendes (motorisches) Fahren,
also in das laufende Handeln um. (vgl. auch: Wkipedia:
Sechs Auffassungen über Embodiment)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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