Strukturskizze
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Der kurze parabelhafte Prosatext "Der Tod eines Helden" von
Pär Lagerkvist - 1992 in deutscher Übersetzung von Erich Gloßmann in einem
Band mit dem Titel "Schlimme Geschichten" veröffentlicht - schildert
exemplarisch das Verhalten einer Stadtbevölkerung, die in ihrer
Sensationsgier nicht davor zurückschreckt, dem für eine hohe Summe
vereinbarten Todessturz eines jungen Mannes von einem Kirchturm
entgegenzufiebern, die jedoch danach von ihrer Sensationslüsternheit nichts
mehr wissen will.
In einer nicht näher benannten Stadt unserer Zeit engagiert ein Konsortium
einen Mann, der sich für eine hohe Summe nach einem Kopfstand auf der
Kirchturmspitze in den Tod stürzen will. Voller Begeisterung richtet sich
die Bevölkerung auf die avisierte Sensation ein und stellt alle Bedenken
über die Verwerflichkeit eines solchen Angebots angesichts der dafür
gebotenen beträchtlichen Summe zurück. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit
gilt - intensiviert durch Interviews und bebilderte Artikel mit und über den
jungen Mann - nur noch dem Betreffenden, in dem man trotz fehlender
Bemerkenswertigkeit einen "typische(n) Repräsentant(en) der besten Jugend
der Zeit" mit allerlei positiven Attributen sehen will. Bedenken zielen
allenfalls auf das vom Konsortium eingegangene Risiko. Das sensationslüstern
erwartete Schauspiel ist schnell zu Ende, und unmittelbar nach dem
Todessturz des Mannes setzen bei der Bevölkerung Ernüchterung und
Enttäuschung ein. Der Prozess der Distanzierung von dem Geschehenen endet
schließlich in der Verurteilung und der Empörung, dass so etwas überhaupt
passieren konnte.
Der Text hat den
Charakter einer
Parabel und zeigt die Bevölkerung in ihrer skrupellosen Sensationsgier
als die treibende Kraft des Geschehens, die sich ihre Großartigkeit dadurch
attestiert, dass eine solche "Idee" und deren Umsetzung nur in dieser
"denkwürdigen Zeit mit ihrer Hektik und Intensität und ihrer Fähigkeit,
alles aufs Spiel zu setzen, möglich" sei. Wie vor dem tödlichen Spektakel
alle Bedenken angesichts des ausgesetzten Geldbetrags zurückgestellt werden,
macht sich nach dem Todessturz jähe Enttäuschung breit, die sich zuerst für
die teuren Eintrittskarten nicht hinreichend entschädigt fühlt, danach aber
das eigene maßgebliche Verhalten in seiner Konsequenz nicht wahrhaben will
und alle Schuld daran im Zuge der Distanzierung und Empörung von sich weist.
Ohne, wo immer das Massenverhalten Gegenstand eines Textes ist, den
allfälligen Bezug zum Nationalsozialismus zu strapazieren, darf zumindest
auf die Parallele der Verdrängungsleistung nach der Ernüchterung hingewiesen
werden, wie überhaupt die Faszination der Masse beim Zustandekommen eines
suggestivkräftigen Ereignisses immer auf dem Umstand hochgradiger
Simplifizierung zu beruhen scheint, was in beispielhafter Weise zuletzt die
massenwirksame Inszenierung der "Big Brother"-Nichtigkeit vor Augen geführt
hat, die nur das einstige Andy Warhol-Wort, ein jeder könne im
Medienzeitalter für fünfzehn Minuten ein Star werden, verdeutlicht.
Die im Titel erfolgte Charakterisierung des in das Angebot einwilligenden
jungen Mannes als eines Helden ist zutiefst ironisch, da die Absurdität
seines Handelns - nämlich für viel Geld sich zu Tode zu stürzen -
offensichtlich ist. Über die bloße Dummheit überschreitende mögliche
Beweggründe des jungen Mannes kann nur spekuliert werden.
Wenn man die Kurzgeschichte soziologisch-philosophisch ausreizen möchte,
bieten sich folgende Aspekte an:
Man mag in der erklecklichen Summe von 500 00, für die sich der junge Mann
in den Tod stürzt, symbolhaft den absoluten Relativismus erkennen, den das
Geld insbesondere seit Beginn der Moderne verkörpert: Es wird zur reinen
Funktion einer Wertsymbolisierung, wie der Soziologe Georg Simmel in seiner
"Philosophie des Geldes" am Ende des 19. Jahrhunderts formuliert hat, der
eine
Analogie von Gott und Geld konstatiert, die schließlich in eine
Sakralisierung des Geldes zu einer Art absoluten Heilsgutes mündet: "Indem
das Geld immer mehr zum absolut zureichenden Ausdruck und Äquivalent aller
Werte wird, erhebt es sich in abstrakter Höhe über die ganze weite
Mannigfaltigkeit der Objekte, es wird zum Zentrum, in dem die
entgegengesetztesten, fremdesten, fernsten Dinge ihr Gemeinsames finden und
sich berühren." Es entsteht nach Simmel die "Vorstellung, dass alles Glück
und alle definitive Befriedigung des Lebens mit dem Besitze einer gewissen
Summe Geldes solidarisch verbunden wäre". "Daher die Unruhe,
Fieberhaftigkeit, Pausenlosigkeit des modernen Lebens, dem im Gelde das
unabstellbare Rad gegeben ist, das die Maschine zum Perpetuum mobile macht."
Hier lässt sich unschwer die theoretische Entsprechung zu dem erkennen, was
in Lagerkvists Text den Konsens des sensationslüsternen Publikums ausmacht:
"... in einem stimmten sie alle überein: wie bemerkenswert und phantastisch
diese Idee war und dass so etwas nur in unserer denkwürdigen Zeit mit ihrer
Hektik und Intensität und ihrer Fähigkeit, alles aufs Spiel zu setzen,
möglich wäre.“ (Z. 32 ff.) Wenn der Todessturz ausgerechnet vom Kirchturm
erfolgt, mag das damit zusammenhängen, dass die Kirche in dem besagten Ort
vielleicht noch immer (wie im allgemeinen über viele Jahrhunderte hindurch)
das höchste Bauwerk darstellt, er kann aber auch durchaus symbolisch
verstanden werden, zumal nach dem artistischen Akt eines Kopfstandes auf der
Kirchturmspitze, drückt er doch die völlige Profanierung eines sakralen
Ortes und damit auch die Negierung des tradierten christlichen
Heilsversprechens auf ein Weiterleben nach dem Tode, ja, wenn man so will,
der Existenz Gottes aus. Dann könnte man gar in dem Lagerkvistschen "Helden"
Nietzsches "tollen Menschen" erkennen, seinerseits wieder eine symbolhafte
Figur für den modernen Menschen, der in einer Art hysterischen Gesangs den
Tod (des moralischen) Gottes parodiert, wobei Nietzsches Bildfigur
metaphysisch den Sturz der Metaphysik bezeugt.
Erzähltechnische und
sprachliche Besonderheiten
Auktorialer Erzähler. Weitgehend dem Alltagsgebrauch entsprechende
Sprache in nacherzählender Vergangenheitsform. Zumeist einfacher Satzbau,
nicht selten auf einen Hauptsatz beschränkt.
In fünf Abschnitte gegliedert. Ansteigender Spannungsbogen bis zum Beginn
des letzten Abschnitts.
Das eigentliche Ereignis, der Todessprung, wird lakonisch in zwei kurzen,
asyndetisch gereihten Hauptsätzen benannt.
Der erste Absatz zeigt die sensationslüsterne Masse verkörpert in dem
fünfmaligen "man" und einem zweimaligen "alle(n)". Affirmativ eingesetzte
Adverbien ("sicher", "zugegebenermaßen", "wirklich") unterstreichen ironisch
die sich selbst bestätigende vox populi: ein Zweifel an der moralischen
Berechtigung des Ereignisses wird von der allgemeinen Stimmung nicht
zugelassen. Auch die im folgenden benannten Personen sind typisiert, anonym.
Mögliche Einwände werden scheinbar logisch relativiert ("Man durfte dabei
nicht vergessen, dass ja auch der Preis danach war."; Z. 6).
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Im zweiten Abschnitt kommt es im Interview des Mannes durch Zeitungsleute
zur wörtlichen Wechselrede, wobei der Mann auf die Fragen nach seiner
Einschätzung des tödlichen Sturzes sich auf die rhetorische Formel der
verallgemeinernden Feststellung beschränkt: "Aber was tut man nicht alles
für Geld." (Z. 21 f.) - schlechthin die Entwertung einer persönlichen
Motivation und damit Spiegelbild eines gänzlich entindividualisierten
Phänomens, erzeugt allein durch Medienhype.
Der Kopfstand auf der Kirchturmspitze mit anschließendem Todessturz wird in
der sensationslüsternen Erwartung der Masse als "dieses Unternehmen" (Z. 5),
"die Sache" (Z. 12), "das Ereignis" (Z. 13), "das Ganze" (Z. 16), "die
Sensation, die kommen sollte“ (Z. 30), "diese Idee" (Z. 33), "so etwas" (Z.
33/ 36), "ein solches Schauspiel" (Z. 37) apostrophiert, dann aber aus der
Enttäuschung der Masse heraus als "es" (Z. 43 / 45), "etwas" (Z. 46),
"solche Scheußlichkeiten“ (Z. 49), „das Ganze“ (Z. 51) abgewehrt. Der
allgemein umgeschlagenen Stimmung entsprechend werden wiederum verstärkend
verwendete Adverbien ("ja", "dennoch nur", "eigentlich", "gewiss", "nein",
"eigentlich", "ja geradezu") eingesetzt, um die Selbstverständlichkeit der
inneren Distanzierung zu unterstreichen.
Das Crescendo der Erwartungen wie das Decrescendo der Enttäuschung
funktionieren dabei nach dem gleichen Muster: die fehlende inhaltliche
Benennung erhöht die Suggestivkraft in dem Maße, wie der Anspruch auf
Allgemeingültigkeit evoziert wird.
(unveröffentlichtes Manuskript, veröffentlicht mit freundlicher
Genehmigung des Autors)
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