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Bausteine

Eine Interpretation analysieren

Pär Lagerkvist (1891-1974): Der Tod eines Helden

 
FAChbereich Deutsch
Glossar Literatur  • Autorinnen und Autoren Pär Lagerkvist (1891-1974) [ Der Tod eines Helden Bausteine ] • Das machte nichts ...   Schreibformen
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Otto Seilnacht
Interpretationsskizze zu Pär Lagerkvists "Der Tod eines Helden"

Der kurze parabelhafte Prosatext "Der Tod eines Helden" von Pär Lagerkvist - 1992 in deutscher Übersetzung von Erich Gloßmann in einem Band mit dem Titel "Schlimme Geschichten" veröffentlicht - schildert exemplarisch das Verhalten einer Stadtbevölkerung, die in ihrer Sensationsgier nicht davor zurückschreckt, dem für eine hohe Summe vereinbarten Todessturz eines jungen Mannes von einem Kirchturm entgegenzufiebern, die jedoch danach von ihrer Sensationslüsternheit nichts mehr wissen will.

In einer nicht näher benannten Stadt unserer Zeit engagiert ein Konsortium einen Mann, der sich für eine hohe Summe nach einem Kopfstand auf der Kirchturmspitze in den Tod stürzen will. Voller Begeisterung richtet sich die Bevölkerung auf die avisierte Sensation ein und stellt alle Bedenken über die Verwerflichkeit eines solchen Angebots angesichts der dafür gebotenen beträchtlichen Summe zurück. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gilt - intensiviert durch Interviews und bebilderte Artikel mit und über den jungen Mann - nur noch dem Betreffenden, in dem man trotz fehlender Bemerkenswertigkeit einen "typische(n) Repräsentant(en) der besten Jugend der Zeit" mit allerlei positiven Attributen sehen will. Bedenken zielen allenfalls auf das vom Konsortium eingegangene Risiko. Das sensationslüstern erwartete Schauspiel ist schnell zu Ende, und unmittelbar nach dem Todessturz des Mannes setzen bei der Bevölkerung Ernüchterung und Enttäuschung ein. Der Prozess der Distanzierung von dem Geschehenen endet schließlich in der Verurteilung und der Empörung, dass so etwas überhaupt passieren konnte.

Der Text hat den Charakter einer Parabel und zeigt die Bevölkerung in ihrer skrupellosen Sensationsgier als die treibende Kraft des Geschehens, die sich ihre Großartigkeit dadurch attestiert, dass eine solche "Idee" und deren Umsetzung nur in dieser "denkwürdigen Zeit mit ihrer Hektik und Intensität und ihrer Fähigkeit, alles aufs Spiel zu setzen, möglich" sei. Wie vor dem tödlichen Spektakel alle Bedenken angesichts des ausgesetzten Geldbetrags zurückgestellt werden, macht sich nach dem Todessturz jähe Enttäuschung breit, die sich zuerst für die teuren Eintrittskarten nicht hinreichend entschädigt fühlt, danach aber das eigene maßgebliche Verhalten in seiner Konsequenz nicht wahrhaben will und alle Schuld daran im Zuge der Distanzierung und Empörung von sich weist.

Ohne, wo immer das Massenverhalten Gegenstand eines Textes ist, den allfälligen Bezug zum Nationalsozialismus zu strapazieren, darf zumindest auf die Parallele der Verdrängungsleistung nach der Ernüchterung hingewiesen werden, wie überhaupt die Faszination der Masse beim Zustandekommen eines suggestivkräftigen Ereignisses immer auf dem Umstand hochgradiger Simplifizierung zu beruhen scheint, was in beispielhafter Weise zuletzt die massenwirksame Inszenierung der "Big Brother"-Nichtigkeit vor Augen geführt hat, die nur das einstige Andy Warhol-Wort, ein jeder könne im Medienzeitalter für fünfzehn Minuten ein Star werden, verdeutlicht.

Die im Titel erfolgte Charakterisierung des in das Angebot einwilligenden jungen Mannes als eines Helden ist zutiefst ironisch, da die Absurdität seines Handelns - nämlich für viel Geld sich zu Tode zu stürzen - offensichtlich ist. Über die bloße Dummheit überschreitende mögliche Beweggründe des jungen Mannes kann nur spekuliert werden.

Wenn man die Kurzgeschichte soziologisch-philosophisch ausreizen möchte, bieten sich folgende Aspekte an:

Man mag in der erklecklichen Summe von 500 00, für die sich der junge Mann in den Tod stürzt, symbolhaft den absoluten Relativismus erkennen, den das Geld insbesondere seit Beginn der Moderne verkörpert: Es wird zur reinen Funktion einer Wertsymbolisierung, wie der Soziologe Georg Simmel in seiner "Philosophie des Geldes" am Ende des 19. Jahrhunderts formuliert hat, der eine Analogie von Gott und Geld konstatiert, die schließlich in eine Sakralisierung des Geldes zu einer Art absoluten Heilsgutes mündet: "Indem das Geld immer mehr zum absolut zureichenden Ausdruck und Äquivalent aller Werte wird, erhebt es sich in abstrakter Höhe über die ganze weite Mannigfaltigkeit der Objekte, es wird zum Zentrum, in dem die entgegengesetztesten, fremdesten, fernsten Dinge ihr Gemeinsames finden und sich berühren." Es entsteht nach Simmel die "Vorstellung, dass alles Glück und alle definitive Befriedigung des Lebens mit dem Besitze einer gewissen Summe Geldes solidarisch verbunden wäre". "Daher die Unruhe, Fieberhaftigkeit, Pausenlosigkeit des modernen Lebens, dem im Gelde das unabstellbare Rad gegeben ist, das die Maschine zum Perpetuum mobile macht."

Hier lässt sich unschwer die theoretische Entsprechung zu dem erkennen, was in Lagerkvists Text den Konsens des sensationslüsternen Publikums ausmacht: "... in einem stimmten sie alle überein: wie bemerkenswert und phantastisch diese Idee war und dass so etwas nur in unserer denkwürdigen Zeit mit ihrer Hektik und Intensität und ihrer Fähigkeit, alles aufs Spiel zu setzen, möglich wäre.“ (Z. 32 ff.) Wenn der Todessturz ausgerechnet vom Kirchturm erfolgt, mag das damit zusammenhängen, dass die Kirche in dem besagten Ort vielleicht noch immer (wie im allgemeinen über viele Jahrhunderte hindurch) das höchste Bauwerk darstellt, er kann aber auch durchaus symbolisch verstanden werden, zumal nach dem artistischen Akt eines Kopfstandes auf der Kirchturmspitze, drückt er doch die völlige Profanierung eines sakralen Ortes und damit auch die Negierung des tradierten christlichen Heilsversprechens auf ein Weiterleben nach dem Tode, ja, wenn man so will, der Existenz Gottes aus. Dann könnte man gar in dem Lagerkvistschen "Helden" Nietzsches "tollen Menschen" erkennen, seinerseits wieder eine symbolhafte Figur für den modernen Menschen, der in einer Art hysterischen Gesangs den Tod (des moralischen) Gottes parodiert, wobei Nietzsches Bildfigur metaphysisch den Sturz der Metaphysik bezeugt.

Erzähltechnische und sprachliche Besonderheiten

Auktorialer Erzähler. Weitgehend dem Alltagsgebrauch entsprechende Sprache in nacherzählender Vergangenheitsform. Zumeist einfacher Satzbau, nicht selten auf einen Hauptsatz beschränkt.

In fünf Abschnitte gegliedert. Ansteigender Spannungsbogen bis zum Beginn des letzten Abschnitts.

Das eigentliche Ereignis, der Todessprung, wird lakonisch in zwei kurzen, asyndetisch gereihten Hauptsätzen benannt.

Der erste Absatz zeigt die sensationslüsterne Masse verkörpert in dem fünfmaligen "man" und einem zweimaligen "alle(n)". Affirmativ eingesetzte Adverbien ("sicher", "zugegebenermaßen", "wirklich") unterstreichen ironisch die sich selbst bestätigende vox populi: ein Zweifel an der moralischen Berechtigung des Ereignisses wird von der allgemeinen Stimmung nicht zugelassen. Auch die im folgenden benannten Personen sind typisiert, anonym. Mögliche Einwände werden scheinbar logisch relativiert ("Man durfte dabei nicht vergessen, dass ja auch der Preis danach war."; Z. 6).


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Im zweiten Abschnitt kommt es im Interview des Mannes durch Zeitungsleute zur wörtlichen Wechselrede, wobei der Mann auf die Fragen nach seiner Einschätzung des tödlichen Sturzes sich auf die rhetorische Formel der verallgemeinernden Feststellung beschränkt: "Aber was tut man nicht alles für Geld." (Z. 21 f.) - schlechthin die Entwertung einer persönlichen Motivation und damit Spiegelbild eines gänzlich entindividualisierten Phänomens, erzeugt allein durch Medienhype.
Der Kopfstand auf der Kirchturmspitze mit anschließendem Todessturz wird in der sensationslüsternen Erwartung der Masse als "dieses Unternehmen" (Z. 5), "die Sache" (Z. 12), "das Ereignis" (Z. 13), "das Ganze" (Z. 16), "die Sensation, die kommen sollte“ (Z. 30), "diese Idee" (Z. 33), "so etwas" (Z. 33/ 36), "ein solches Schauspiel" (Z. 37) apostrophiert, dann aber aus der Enttäuschung der Masse heraus als "es" (Z. 43 / 45), "etwas" (Z. 46), "solche Scheußlichkeiten“ (Z. 49), „das Ganze“ (Z. 51) abgewehrt. Der allgemein umgeschlagenen Stimmung entsprechend werden wiederum verstärkend verwendete Adverbien ("ja", "dennoch nur", "eigentlich", "gewiss", "nein", "eigentlich", "ja geradezu") eingesetzt, um die Selbstverständlichkeit der inneren Distanzierung zu unterstreichen.
Das Crescendo der Erwartungen wie das Decrescendo der Enttäuschung funktionieren dabei nach dem gleichen Muster: die fehlende inhaltliche Benennung erhöht die Suggestivkraft in dem Maße, wie der Anspruch auf Allgemeingültigkeit evoziert wird.

(unveröffentlichtes Manuskript, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors)

* Die Zeilenangaben beziehen sich auf das hier nicht zugängliche gemachte textplus-Dokument (pdf-Format)

Strukturskizze (pdf-Download)

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 29.03.2024

    
   Arbeitsanregungen:

   Untersuchen Sie die Interpretation von Otto Seilnacht.

  1. Arbeiten Sie die zentralen Interpretationshypothesen heraus.

  2. Zeigen Sie, wie der Autor den Funktionszusammenhang von Inhalt und Form in seiner Interpretation herstellt.

 
 
 

 
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