Leicht torkelnd wankt der „Patient“ in den Salon. Minuten
später stöhnt er laut auf. Salonbesitzer Anton Heinemann hat ihm mit einem
kräftigen Ruck den eiternden Zahn gezogen. Während Heinemann die große Zange
im warmen Seifenwasser säubert, belohnt sich der betrunkene Kunde mit einer
ordentlichen Zigarre. Heinemann ist eigentlich Friseur, doch 1906 gibt es in
Bad Lippspringe noch keinen Zahnarzt. Also behandelt Heinemann nicht nur
Hühneraugen und massiert seine Kunden. Er zieht auch Zähne. Letzteres
geschieht natürlich ohne Betäubung. Wie gut, dass sich seine "Patienten"
gegenüber des Herrensalons im „Westfalenhof“ mit Wacholder versorgen können.
Der klare Schnaps benebelt die Sinne und vielleicht betäubt er auch die
frische Wunde
Dabei hätte der unbekannte Patient in anderen Städten schon etwas
fortschrittlicher behandelt werden können. Nachdem im 18. Jahrhundert die
Zahl der reisenden Zahnärzte abnahm, übernahmen Wundärzte deren Aufgabe und
besuchten ihre Patienten. Doch das 19. Jahrhundert sollte in Europa und den
USA noch einen gewaltigen Schub für die Zahnmedizin mit sich bringen. 1822
meldete der New Yorker Dentist Charles M. Graham das erste US-Patent für die
Verbesserung in der Konstruktion künstlicher Zähne an. 1834 plädierte der
Wiener Zahnarzt Gall dafür, Zahnoperationen beim Arzt durchzuführen, da dort
die notwendigen Instrumente zur Verfügung stünden. Zudem formierten sich im
19. Jahrhundert weltweit zahnärztliche Schulen – 1840 in Baltimore, 1855 in
Berlin, 1859 in London und 1879 in Paris die école dentaire.
Gleichzeitig wurden auch Instrumente entwickelt, die eine feinere Behandlung
ermöglichten. So präsentierte James Beall Morrison 1871 einen Tretbohrer,
mit dem Zähne schneller und schmerzloser von Karies befreit werden konnten.
Um die Jahrhundertwende standen Zahnarztstühle zur Verfügung, die heutigen
Exemplaren sehr nahe kommen.
Neben der Entwicklung von Instrumenten sorgte die Vorstellung von Kautschuk
durch Charles Goodyear 1851 auf der Weltausstellung in London für Aufsehen.
Schon 1855 steht es als Material für Prothesen zur Verfügung. Die Zahl der
Goldschmiede, Instrumentenmacher und Mechaniker, die nun Prothesen
herstellten und zugleich prothetische oder gar chirurgische Behandlungen
durchführten stieg schlagartig an. Kautschuk war preiswert. Hatten bis dahin
nur Wohlhabende sich künstliche Zähne aus Elfenbein oder Walrosszahn leisten
können, ließ Kautschuk die Nachfrage aus anderen Schichten der Bevölkerung
ansteigen.
Doch von alldem war in Bad Lippspringe noch nichts angekommen, obwohl in dem
Ort seit 1832 ein Kur- und Badebetrieb aufgenommen wurde. Hier – wie in
vielen anderen Gemeinden und Kreisen in Deutschlands – tummelten sich noch
bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts viele Heiler und Künstler, die
ohne eine staatliche Ausbildung und Prüfung behandelten, Zähne zogen und
Zahnersatz fertigten und einsetzten.
(Presseerklärung von proDente, Köln 30.März 2012)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
15.08.2023