Jens Ludwig, Ab in die Zone
Das
haben Sie sich selbst zuzuschreiben, sagte der Schulleiter, als er ihm
ankündigte, die Sache jetzt nach Paragraph 90 zu behandeln. Dabei war er
doch nur mit seiner Zigarette in der Hand aus der Raucherzone
herausgegangen, jener 12 x 14, oder so, großen, mit dicken weißen Strichen
auf dem Schulhof umgrenzten Fläche, direkt vor den Augen der dort Wache
schiebenden Lehrkräfte. Dafür brauchen die schon drei, muss man sich mal
vorstellen.
Er hasste die Zone, wie er immer wieder sagte. Überhaupt hasste er alle
diese Zonen, denen er auf dem Schulweg begegnete, Fußgänger- genauso wie
Tempo-30-Zonen. Die Raucherzone, in die man auch musste, wenn es draußen in
Strömen regnete, aber am meisten. Immer hielt er sich dort im Zonenrandgebiet
auf, stellte mal diesen, mal jenen Fuß über die Zonengrenze am Boden, bis er
es einfach nicht mehr aushalten konnte in der Zone.
Über 25 Jahre, vielleicht auch ein bisschen mehr, war es jetzt schon her,
als seine Eltern, er selbst war noch gar nicht geboren, die Zone verließen.
Gleich nach der Wende kehrten sie der Zone, wie sie immer noch heimlich
gesagt hatten, den Rücken und stimmten mit den Füßen für ein besseres Leben
drüben im Westen ab. Frei sein wollten sie, und das machte ihnen damals
Beine. Zu richtigen Zonenflüchtlingen zu werden fehlte ihnen, das kann ihnen
doch keiner verdenken, der Mut. Jedes Mal, wenn sie sich bloß in Gedanken
der Zonengrenze näherten, glaubten sie sich wohl schon mittendrin in der
Todeszone.
War echt so, hielt er allen entgegen, die auch jetzt noch gerne von Ossies
und Wessies sprachen. Ist doch egal, ob das ernst gemeint ist oder nicht.
Jetzt, da er Paragraph-90-Fall geworden war, wusste er, dass er mit
Schulausschluss rechnen musste. Ein paar Tage vor dem 3. Oktober kam ihm das
gerade recht. Die Zonen-Gaby mit ihrer Gurkenbanane in der Hand1), wie oft
hatte er das Bild schon über sich ergehen lassen, wenn dieses Datum wieder
anstand. Immer ein Volltreffer, immer was zum Lachen für die Klasse. Heute
kam sie über den Beamer. Hey Alter, sieht aus wie deine Mutter, tönte einer.
Dieses Mal stand er, ohne ein Wort zu sagen, einfach auf, packte seine
Sachen und verließ das Klassenzimmer. Kommen Sie sofort zurück, hörte er
noch, als er immer auf der Linie der Zone bis an den äußersten Rand
balancierend das Schulgelände verließ.
BITTE ZURÜCKTRETEN, DER NÄCHSTE ZUG FÄHRT OHNE HALT DURCH.
Er zögerte nur einen Moment, bis er über die weiße Linie hinwegtrat und sich
ganz vorne am Bahnsteig postierte.
Paragraph 90, murmelte er, fast wie in der Zone.
1 Anspielung
auf ein »Titelblatt
des Satiremagazins Titanic vom November 1989, das eine junge Frau aus
der DDR mit einer halb, wie eine Banane geschälten Gurke, in der Hand
zeigte. Sie freute sich offenbar so, endlich im Westen an die in der DDR
immer wieder Mangelware darstellenden Südfrüchte zu gelangen, dass ihr die
Verwechselung einer Gurke mit einer Banane überhaupt nicht auffiel.
(aus: Jens Ludwig, Geschichten kommen immer zurück.
Erzählungen, erstveröffentlicht Konstanz: teachSam, 2012)
Ab in die Zone von Jens Ludwig ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.
Beruht auf dem Werk unter http://www.teachsam.de/deutsch/d_literatur/d_aut/jelu/jelu_txt_9.htm.