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Das Thema des
Analphabetismus zählt zu den wichtigsten Themen, die in
Bernhard Schlinks
Roman »Der Vorleser«
zur Sprache kommen, zumal es auch dem ebenso zentralen
Thema der Schuld
verknüpft ist. Der Analphabetismus der Figur Hanna verweist dabei auch auf
Ausmaß, Formen, gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit dem Problem.
(vgl.
Analphabetismus - ein Überblick)
Was sich dem Ich-Erzähler auf einem seiner Spaziergänge während des
Prozesses gegen Hanna im Frühsommer 1966 eröffnet, und vor allem, wie es
sich ihm eröffnet, lässt sich redensartlich am besten beschreiben: Michael
Berg fallen auf einmal die Schuppen von den Augen.
"Ich habe die Stelle im Wald wiedergefunden, wo sich mir Hannas
Geheimnis enthüllte. [...]
Hanna konnte nicht lesen und schreiben.
Deswegen hatte sie sich vorlesen lassen. Deswegen hatte sie mich auf
unserer Fahrradtour das Schreiben und Lesen übernehmen lassen und war am
Morgen im Hotel außer sich gewesen, als sie meinen Zettel gefunden, meine
Erwartung, sie kenne seinen Inhalt, geahnt und ihre Bloßstellung
gefürchtet hatte. Deswegen hatte sie sich der Beförderung bei der
Straßenbahn entzogen; ihre Schwäche, die sie als Schaffnerin verbergen
konnte, wäre bei der Ausbildung zur Fahrerin offenkundig geworden.
Deswegen hatte sie sich der Beförderung bei Siemens entzogen und war
Aufseherin geworden. Deswegen hatte sie, um der Konfrontation mit dem
Sachverständigen zu entgehen, zugegeben, den Bericht geschrieben zu haben.
Hatte sie sich deswegen im Prozeß um Kopf und Kragen geredet? Weil sie das
Buch der Tochter wie auch die Anklage nicht hatte lesen, die Chancen ihrer
Verteidigung nicht hatte sehen und sich nicht entsprechend hatte
vorbereiten können? Hatte sie deswegen ihre Schützlinge nach Auschwitz
geschickt? Um sie, falls sie was gemerkt haben sollten, stumm zu machen?
Und hatte sie deswegen die Schwachen zu ihren Schützlingen gemacht?
Deswegen? Daß sie sich schämte, nicht lesen und schreiben zu können, und
lieber mich befremdet als sich bloßgestellt hatte, verstand ich. Scham als
Grund für ausweichendes, abwehrendes, verbergendes und verstellendes, auch
verletzendes Verhalten kannte ich selbst. Aber Hannas Scham, nicht lesen
und schreiben zu können, als Grund für ihr Verhalten im Prozeß und im
Lager? Aus Angst vor der Bloßstellung als Analphabetin die Bloßstellung
als Verbrecherin? Aus Angst vor der Bloßstellung als Analphabetin das
Verbrechen?" (S.126f.)
Diese Fragen beschäftigen den Ich-Erzähler und lassen ihm keine Ruhe.
Alle Erklärungsversuche, die zu mangelnder Intelligenz oder bestimmten
negativen Charaktereigenschaften Hannas (eitel, böse) Zuflucht nehmen,
erteilt der Ich-Erzähler eine bewusste und klare Absage, die allerdings mehr
auf beschönigenden Spekulationen als Tatsachen beruht. (vgl. S.128) Und so
wirken die Gedanken, die der Erzähler zur Entlastung Hannas anbringt,
geradezu autosuggestiv: "Nein, habe ich mir gesagt, Hanna hatte sich nicht
für das Verbrechen entschieden. [...] Und nein, sie hatte die Zarten und
Schwachen nicht mit dem Transport nach Auschwitz geschickt, weil sie ihr
vorgelesen hatten [...] Und nein, im Prozeß wog Hanna nicht zwischen
Bloßstellung als Analphabetin und der Bloßstellung als Verbrecherin ab."
(S.128)
In den Augen des Erzählers wird die Schuld Hannas durch ihren
Analphabetismus in jedem Fall relativiert. Als er überlegt, ob er den
Vorsitzenden Richter über Hannas Analphabetismus informieren soll, will er
dies zwar nicht tun, um Hanna von Schuld reinzuwaschen. Für ihn steht jedoch
fest, dass Hanna "schuldig, aber nicht so schuldig war, wie es den Anschein
hatte." (S.132) Und später, als ihm im zwölften Haftjahr Hannas ein knapper,
handschriftlich von Hanna selbst abgefasster Brief von ihrer Überwindung des
Analphabetentums kündet, sieht der Ich-Erzähler darin "einen Schritt aus der
Unmündigkeit zur Mündigkeit [...], einen aufklärerischen Schritt." (S. 178)
Auch wenn der Stolz, den der Erzähler darüber empfindet, durch seine
Traurigkeit "über ihr verspätetes und verfehltes Leben" in gewisser Hinsicht
gebrochen wird, wird Hanna durch ihren Analphabetismus eigentlich entlastet,
und nicht wie während des Prozesses geschehen noch mehr belastet.
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