Die Kündigung
Theo Schmich"Im Zuge notwendiger Personaleinsparungen müssen wir leider auch Sie
entlassen", sagte der Personalchef zu dem Mann, den er in sein Büro
gerufen hatte, und der ihm nun gegenüber saß. Bekümmert hob er die Arme
und ließ sie wieder sinken, um darzutun, wie leid ihm diese Entscheidung
tat.
Der Mann antwortete nicht sofort. Es kam zu plötzlich. "Sie sind nicht der
Einzige", sagte der Personalchef nach einer Pause. "Wir mussten noch
achtzig andere entlassen." Der Mann nahm an, dass das ein Trost sein
sollte. Ungläubig schüttelte er den Kopf.
"Wieso bin gerade ich dabei?", fragte er schließlich. "Bin ich - habe ich
denn so schlecht gearbeitet?"
"Das weiß ich nicht!" antwortete der Personalchef. "Ich teile Ihnen Ihre
Entlassung nur mit. Sie brauchen es nicht persönlich zu nehmen. Unser
Elektronenrechner hat Sie und die achtzig anderen ausgesucht." "Wie das?",
fragte der Mann verwirrt.
"Wir haben dem Rechenautomaten die Daten aus den Akten sämtlicher
Belegschaftsmitglieder eingegeben" erklärte der Personalchef ungeduldig.
"Nun, und dabei hat der Automat eben entschieden, dass Sie am ehesten für
eine Entlassung in Frage kommen. So leid es uns natürlich tut, überhaupt
einen Mann entlassen zu müssen."
"Aber - ich verstehe nicht -", stotterte der Mann. "Mehr kann ich Ihnen
dazu nicht sagen", fiel der Personalchef ihm ins Wort. "Ich wünsche Ihnen
für die Zukunft alles Gute. Sie entschuldigen mich. Ich muss noch achtzig
weitere zu mir rufen. Kopf hoch! Sie sind noch nicht so alt, als dass Sie
nicht woanders etwas finden könnten." Dabei setzte er ein so
liebenswürdiges und optimistisches Lächeln auf, dass der Mann für einen
flüchtigen Augenblick glaubte, es sei etwas Schönes, entlassen zu werden.
Er blieb noch einen Moment sitzen. Das Ganze kam ihm so unwirklich vor.
Doch schließlich erhob er sich, murmelte "Danke" und ging hinaus.
Während er durch die vertrauten Flure des Bürogebäudes schritt,
wiederholte er sich ständig, was der Personalchef gesagt hatte. Und
allmählich wurde er sich der ganzen Tragweite seiner Entlassung bewusst.
Er war versucht, zurückzulaufen und den Personalchef um Gnade zu bitten.
Aber dann ließ er es. O ja, er glaubte schon, dass er nach Ablauf der
Kündigungsfrist eine andere Arbeit würde gefunden haben. Aber wer gab ihm
die Sicherheit, dass es so war?
Und noch etwas fraß in ihm. Wieso hatte man ihn entlassen? Man entließ
niemanden ohne Grund. Wieso ihn? Vielleicht fand er tatsächlich eine neue
Arbeit. Aber zu wissen, dass die Firma seine Arbeit während der
vergangenen Jahre so beurteilt hatte, dass sie gut und gerne darauf
verzichten konnte!
Wer hatte so über ihn geurteilt? Der Elektronenrechner? Das war eine tote
Maschine. Aber wer hatte die Daten zusammengestellt, die der Maschine
eingegeben worden waren? Er wandte sich an seinen Chef.
"Wieso bin ich entlassen worden?", fragte er.
"Richtig!", antwortete der Chef und griff an die Stirn. "Ich hatte mit
Ihnen darüber sprechen wollen. Tja, ich war selbst überrascht. Ich
verzichte ungern auf Sie. Aber die Maschine", - der Chef schien sich des
feinen Witzes durchaus bewusst zu sein, denn er lächelte an dieser Stelle
- "hat gegen Sie entschieden. Wir haben den Rechenautomaten mit den Daten
sämtlicher Mitarbeiter gefüttert. Und dabei sind eben auch Sie zur
Entlassung vorgeschlagen worden. Ein unerwartetes Ereignis, gewiss. Aber
wenn wir die Ergebnisse des Automaten im voraus wüssten, brauchten wir
keinen Automaten mehr, nicht?" Und wieder freute sich der Chef über den
kleinen Scherz, der ihm da gelungen war.
"Danke!" sagte der Mann und ging. Wie schnell man den Glauben an einen
Menschen verlieren konnte.
"Der Betriebsrat!", schoss es ihm durch den Kopf. Der würde ihm
weiterhelfen. Dort würde er die wahren Gründe für seine Entlassung
erfahren. Und vielleicht fand man dort sogar Wege, sie rückgängig zu
machen. Das war doch möglich! War nicht der Chef von seiner Entlassung
überrascht gewesen? Und auch der Personalchef hatte doch gesagt, dass man
nichts gegen ihn persönlich habe. Vielleicht war alles nur ein Irrtum. Der
Betriebsrat würde einen Ausweg wissen! Er ging zu ihm.
"Nein!", sagte der Betriebsrat. "Es hat schon alles seine Richtigkeit.
Wieso sollten wir die Entscheidung des teuren Elektronenrechners
anzweifeln? Wir haben ihn mit den Daten aller Belegschaftsmitglieder - ."
"Das weiß ich!", fiel der Mann ihm ins Wort. "Aber wieso. Wieso sehen
meine Daten so aus, dass der Rechner zu einer solchen Entscheidung kommen
konnte? Was ist der eigentliche Grund für meine Entlassung?"
Der Betriebsrat legte die Arme auf die Lehnen seines Sessels. Seine
Gestalt straffte sich wie die eines Redners, der eine wohl vorbereitete
Ansprache zum soundsovielten Male wiederholt.
"Im Zuge notwendiger Einsparungen mussten wir achtzig Mitarbeiter
entlassen, unter denen auch Sie sind", sagte er. "Das ist der Grund!" Der
Mann erhob sich, murmelte ein "Dankeschön" und ging. Natürlich bemühte er
sich nun um eine andere Arbeit. Aber die Kündigungsfrist schmolz immer
mehr zusammen. Sie saß ihm im Nacken, wie ein Verfolger, dem man zwar zu
entgehen hofft, von dem man aber auch weiß, dass es eine Katastrophe gibt,
wenn es nicht gelingt. Noch nie war ihm bewusst geworden, wie jetzt, wie
sehr er in Abhängigkeit lebte. Ihm kamen - gewiss nur, weil man ihn so
plötzlich entlassen hatte - ketzerische Gedanken. War er wirklich mehr als
ein Sklave? Zwar durfte er einmal im Jahr seinen Wohnort für einen
dreiwöchigen Urlaub verlassen. Und auch an den Wochenenden konnte er sich
ziemlich frei bewegen. Doch während der übrigen Zeit gehörte er seinem
Arbeitgeber. Und wenn es diesem gefiel, so kündigte er ihm. Und mit der
Arbeit blieb dann auch das Geld aus und ohne Geld -
Der Mann hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, als er
sich alle möglichen Folgen seiner Entlassung ausmalte. Und dabei hatte er
nicht einmal Grund, jemandem einen Vorwurf zu machen. Rechtlich war alles
einwandfrei. Den Vertrag, der besagte, dass der Arbeitgeber ihm genau so
gut kündigen konnte wie er ihm, hatte er selbst unterschrieben. Und auch
die Kündigungsfrist wurde eingehalten. Nein, nein, es war alles in
Ordnung! Und doch wäre ihm wohler gewesen, wenn er ein menschliches Wesen
hätte fassen können, wenn er jemandem die Schuld für seine Entlassung
hätte geben können.
Personalchef, Betriebsrat, sein Vorgesetzter - jeder wälzte die Schuld auf
den Elektronenrechner ab. Konnte man sich an einem Automaten rächen? Das
war lächerlich. Aber war es nicht feige, sich hinter einem Automaten zu
verstecken?
Ein paar Wochen später, an einem Sonntag, ertappte der Hausmeister der
Firma den Mann. Er war in den Raum eingedrungen, in dem der Rechner
aufgestellt war, und demolierte die Einrichtungen mit einem schweren
Hammer.
"Wie gut wir daran taten, ihn zu entlassen", meinte der Personalchef; als
er sich darüber mit dem früheren Vorgesetzten des Mannes unterhielt. "Sich
wegen einer Kündigung so aufzuregen."
(aus: Texte aus der Arbeitswelt seit 1961, hg. v. Theodor Karst, Stuttgart:
reclam 1974, S. 147-151ff.)
(aus: Texte aus der Arbeitswelt seit 1961, hg. v. Theodor Karst, Stuttgart:
reclam 1974, S. 81ff.) - Wir bedanken uns für das Recht, diesen Text
im Rahmen unseres Website-Angebots zu nutzen, bei Theo Schmich. – Alle
Rechte verbleiben bei dem Autor.)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.10.2020