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Ferdinand Avenarius (1856 - 1923)

Ein Wirrrsal niedriger, gebräunter Häuser

(1896)


 

Ein Wirrsal niedriger, gebräunter Häuser,
Schiefer und altersschwacher. Doch hinein
Fraß sich die Neuzeit, und berußte, lärmende
Fabriken pflanzten rauchumflorte Schlote
Als schwarze Fahnen ihres Sieges auf.
Das ist die Vorstadt.
                              Rings von ihr vergraben
Ein kleiner Platz. Ein paar bestaubte Bäume
Verkümmern drauf. Arbeiterkinder spielen
Um sie herum: die alten Hütten hier,
Sie geben Schlafquartier für ihre Eltern,
Die Tags bei den Maschinen stehn im neuen
Werkraum schrägüber. Vom baufälligsten
Der Häuser sieht zum Platz hin eine Kammer.
Da sitz ich heut. Im Bette neben mir
Liegt krank ein Kind und schwatzt und schreit im Fieber:
»Nur nicht ins Wasser, Grete, nicht ins Wasser.«
Mit Tüchern kühlt ein altes Nachbarsweib
Ihm seinen Kopf. Ach ja, ich darf mir was
Einbilden auf den ersten Patienten
in meiner Praxis.
...........................
...........................

Wie das so sein muß,
Wenn sie den Vater mit zerquetschter Brust
nach Hause bringen!
Nachbarn, Arzt, Polizist.
In den blutigen Lappen liegt er mitten auf der Diele.
Das verlumpte Weib kreischend neben ihm,
Eine blakende Küchenlampe in der Hand.
Im Winkel kauernd die Andern.
Er will reden, röchelt,
Aus den Mundwinkeln Blut,
Schaum, die Augen werden glasig -
So glotzt der Tod.
Schrein und Heulen ...
Und wie sie die Leiche der Alten finden,
An der Thürklinke hangend,
Kopf und Arme vornüber,
Die Zunge draußen -
Während die Bälger
Über eine Kartoffelschüssel herfallen ...
Und die Tochter, magre alte Jungfer schon,
Mit bunten Fetzen für die Straße geputzt,
Rotgeschminkt.
Ekelhaft kokettierend - sie muß was verdienen -
Von Laffen verhöhnt, vom Schutzmann weggejagt ...
Dann die junge Brut,
Patschend und zappelnd im Wasser,
Wie ein Wurf von Katzen, den man ersäuft,
Bis es still wird -
Den Kahn hab ich ja noch gesehn ...
Und warum das Alles?
Gemeiner Hunger, darum

(Quelle: Rohe (Hg.) 1973, S.56f.)

 

 
 
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