Immer
wieder wird betont, dass ein Essay einen roten Faden haben muss. Die
Redewendung
bedeutet ganz allgemein, dass es sich um einen leitenden und
verbindenden Grundgedanken bzw. ein Grundmotiv
handelt.
Dabei ist der rote Faden nicht unbedingt gleichbedeutend mit dem, was
man gemeinhin als Thema bezeichnet. Eher trifft wohl die Vorstellung zu,
dass der rote Faden das Thema umkreist oder sich an ihm entlang oder
durch es hindurchwindet und dabei einer leitenden Idee dazu folgt.
Dies spiegelt sich auch in anderen Redewendungen, in denen der Faden
eine große Rolle spielt.
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So drückt "Der Faden
ist gerissen" aus, "dass der bisher fließende Ablauf eines Tuns,
Geschehens plötzlich unterbrochen ist" (Duden - Das große Buch der
Zitate und Redewendungen 2002, S.219).
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Und wer "den Faden
verliert, der weiß oft beim Reden ganz plötzlich nicht mehr weiter
oder verliert den Zusammenhang.
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Wer dagegen "alle
Fäden in der Hand hat", der kann eine Situation oder ein Geschehen
vollkommen kontrollieren. (vgl. ebd.)
Warum man das mit dem roten Faden im Zusammenhang mit dem Essay
besonders wichtig ist, liegt daran, dass der Essay eine offene
Schreibform darstellt, in der man gewollt unsystematisch (allerdings
nicht planlos) seinen Gedanken zu einem bestimmten Thema folgen und dem
potentiellen Leser vor Augen führen soll, wie man eine Sache sieht,
unter welchen, auch völlig ungewöhnlichen Blickwinkeln man sie
betrachten und mit vielfältigen Dingen in Verbindung bringen kann, wenn
man nur will.
Damit das Ganze aber nicht nur im in Form und Inhalt beliebigen
Ausdrücken eigener Gedanken und Gefühle darstellt, sondern eben auch
einen dialogischen Charakter haben muss, also von einem immer in der
Vorstellung existierenden Leser auch nachvollzogen werden kann, was auf
dem Gedankenspaziergang Essay passiert, muss in das Ganze also ein roter
Faden "eingenäht" werden, der gut sichtbar den Leser oder die Leserin
durch den Essay geleitet.
Die "Sichtbarkeit" des roten Fadens muss indessen auch nicht heißen,
dass er dem Leser oder der Leserin immer und überall unmittelbar ins
Auge fallen muss. Nicht zuletzt verlangen ja auch die
sprachlich-stilistischen Mittel, die beim Essay eingesetzt werden, z. B.
▪ rhetorische Mittel
wie z. B. wie etwa
Pointen,
Metaphern,
Klimax,
Wortspiele
und Ironie dem Leser
einiges ab, um sie im Zusammenhang richtig zu verstehen.
Ebenso ist dies auch mit Textpassagen, die nicht immer sofort
erkennen lassen müssen, dass sie entlang des roten Fadens, des
leitenden und verbindenden Grundgedankens, strukturiert sind. Sie dürfen
allerdings auch nicht ohne nachvollziehbaren Bezug dazu sein.
Kontrastbezüge z. B. müssen ja nicht unbedingt explizit als solche
kenntlich gemacht werden, sondern sprechen, zumindest bei einigermaßen
kompetenten Leser*innen ja für sich.
Und schließlich gibt es ja auch noch Überraschendes, Mehrdeutiges und
Sperriges, was einfach nicht so recht zum roten Faden zu passen scheint,
aber eben für den Schreiber doch dazugehört, auch wenn es nur für einen
Moment einen Ausblick aus einem ganz anderen Fenster gewährt.
Am Ende ist das mit dem roten Faden ein Balanceakt, der beim
Verfassen eines Essays zu bewältigen ist: Auf seinem Gedankenspaziergang
darf es, so könnte man sagen, unsystematisch und assoziativ zugehen aber
eben nicht wirr. Der Essay darf dabei seinen Leser durch "Irrungen und
Wirrungen" eines Themas führen, ihn am Ende aber nicht gänzlich verwirrt
zurücklassen. Der rote Faden liegt insofern immer auch im Auge des
Betrachters, vor dessen Augen sich die ganze Entfaltung des
Gedankenexperiments Essay abspielen soll.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
30.12.2023