Andreas Gryphius: Thränen in schwerer Krankheit (Anno 1640)

Interpretation

Barbara Bondy (1991)


In diesem großartigen Sonett, in der kunstvoll gebauten Sprache artikuliert sich die Erfahrung der Nichtigkeit, des Nichts. Keine Zuflucht wird angeboten in der Gewissheit des Glaubens, in der Geborgenheit Gottes. Das ist auffallend an einem Kunstwerk jener Zeit, denn das Barock wandte sich stets in einem tief bewegenden hoffnungsvollen Aufschwung aus tiefster Not Gott zu. Nicht tiefer kann man fallen, so glaubte jene Zeit, als in Gottes Hand. [...]
Indes, auch dieses Gedicht hat gezeigt: In der Freiheit, sprechen zu können, liegt schon die Möglichkeit der Rettung. Die heißt hier: trotz allem, ich sage den Schmerz. Vielleicht banne ich ihn. Vielleicht kann auch das Gebot der Vergänglichkeit gemildert werden: durch das dichterische Wort, seine Strenge, seine Freiheit, seine Kunst.

(aus: Bondy, Barbara (1991): Zehn Minuten für Dichter, München: Beck 1991, S.13)

  


   Arbeitsanregungen:
  1. Fassen Sie die Interpretationsaussagen von Barbara Bondy zu dem Gedicht »Thränen in schwerer Krankheit« in zwei knappen Interpretationshypothesen zusammen.

  2. Überprüfen Sie diese Thesen am Gedicht von Andreas Gryphius (1618 - 1664).

  3. Unterstützen Sie die Thesen mit weiteren Gesichtspunkten, die sich aus Ihrer Kenntnis der Literaturepoche des Barock ergeben.