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Die
Kalendergeschichte
▪»Unverhofftes
Wiedersehen« von ▪Johann
Peter Hebel ist immer wieder Gegenstand von Erzähltextanalysen und
Interpretationen geworden. Dabei wurde stets der Funktionszusammenhang
von erzählerischer Gestaltung, insbesondere die
Zeitgestaltung
des Textes, und der sprachlichen Gestaltung herausgearbeitet, die nach
Ansicht mancher Interpreteten die ansonsten klar und einfach
didaktisierte Kalendergeschichte zu einer
Parabel weitet. Als
Beispiele dafür gelten die Auszuge aus den älteren Interpretationen von
Johannes Pfeifer (1954),
Paul Nentwig (1962),
Egar Neis (1965) und
Lothar Wittmann (1969).
Edgar Neis (1965)
»" [...] Die (Johann
Peter Hebels anekdotische
Erzählung »Unverhofftes Wiedersehen«, d. Verf.) ist ein Musterbeispiel
dafür, wie es traditioneller Erzählkunst gelingt, die äußere und innere
Zeit eines Menschenlebens zusammenzuraffen und als Einheit dem Leser
sichtbar zu machen. [...] In genialer Weise rafft der Dichter die
außerordentlichen geschichtlichen Zeitereignisse und die immer
wiederkehrenden gewöhnlichen menschlichen Tätigkeiten zusammen und
verdichtet sie zu einem sprachlichen Gefüge, das symbolhaft den ehernen
Gang der Geschichte und zugleich die Flucht der Zeit und Vergänglichkeit
des Seins zum Ausdruck bringt. [...] Johann Peter Hebel erkennt einen
"übergreifenden Sinnzusammenhang", gibt eine "Sinndeutung eines
Lebenslaufs" "in seiner Erzählung ,,Unverhofftes Wiedersehen", die von
der Beständigkeit der Treue und Liebe handelt und von der Hoffnung auf
ein alles Irdische überdauerndes zeitlos-ewiges Leben. Zeit ist für
Johann Peter Hebel etwas Dahineilendes, Vorübergehendes,
Sich-Verflüchtigendes, etwas, das in die Zeitlosigkeit einmündet (…)«
(aus: Edgar Neis,
Struktur und Thematik der traditionellen und modernen Erzählkunst,
Paderborn: Ferdinand Schöningh 1965, S.61ff.)
Paul Nentwig (1962)
»[...] In der Einleitung
erzählt er von dem Abschied, der dem Wiedersehen voranging. Zweimal wird
in diesem Abschnitt ein bestimmter Tag erwähnt, Sankt Luciä (13.
Dezember), mit dem ehemals die heiligen zwölf Nächte begannen, die
dunkelste Zeit des Jahres. Im Volksmund hieß es: "Lucia bringt die lange
Nacht." Diese Zeitangabe ist also vom Dichter nicht willkürlich gewählt,
sondern hat symbolische Bedeutung. Die zweite Zeitangabe, im Mittelstück
der Anekdote (,,etwas vor oder nach Johannis"), steht in genauer
Entsprechung zur ersten: Johannistag - die der langen Tage und der
hellen Nächte. Liebe und Hoffnung zweier junger Menschen gewinnen schon
in den en Sätzen der Hebelschen Anekdote sinnfällige Gestalt, zugleich
aber klingt es im Hinblick auf das kommende Geschick wie tragische
Ironie den Worten der Braut: "… Und Friede und Liebe soll darin wohnen;
... denn du bist mein Einziges und Alles, und ohne dich möchte lieber im
Grab sein als an einem anderen Ort." [...] Um die lange Zeit zu
versinnbildlichen, die zwischen dem Tode des Jünglings und seiner
Wiederauffindung verfloss, reiht der Dichter in einem Zwischenstück die
großen geschichtlichen Ereignisse dieser 50 Jahre aneinander und
beschließt den Geschehniskatalog mit den bedeutsamen Worten: "… und die
Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede
hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer
unterirdischen Werkstatt." Versinnbildlicht der Dichter in dem
Geschehniskatalog in genial einfacher Weise das unaufhaltsame Strömen
der Zeit, so zieht er in diesen Worten mit leiser Ironie allen Prunk der
großen Ereignisse ins Fragwürdige, indem er ihrer raschen
Vergänglichkeit das Unvergängliche des einfachen Menschenalltags
gegenüberstellt: Saat und Ernte, Arbeit und Mühe. Nun erhält aber auch
die Begegnung der alten Braut mit ihrem einstigen Verlobten einen
tieferen Sinn. Auch sie ist in der Gebrechlichkeit ihres Alters ein
Sinnbild der Vergänglichkeit alles Irdischen: sie hat der strömenden
Zeit ihren Zoll entrichtet. Der tote Bräutigam aber hat in der ruhenden
Zeit sein jugendfrisches Aussehen bewahrt, ein Symbol der
Unvergänglichkeit. Der letzte Sinn der Anekdote aber enthüllt sich uns
erst in der Schlussszene [...] mit der er dem Ganzen erst die letzte
künstlerische Rundung gibt. Die alte Braut lässt ihren toten Geliebten
in ihr Stüblein tragen, und so erfüllt sich doch noch, worauf sie
fünfzig Jahre gewartet hat, wenn auch in anderem Sinne, als sie es einst
erhoffte. Sie schmückt ihn mit dem rotgerandeten schwarzen Halstuch,
"und begleitet ihn alsdann in ihrem Sonntagsgewand, als wenn es ihr
Hochzeitstag und nicht der Tag seiner Beerdigung wäre". Die Liebe der
Braut hat die Zeit überdauert; alle "großen" Ereignisse der
Weltgeschichte sind im Meer der Zeit versunken, das große Gefühl aber
ist lebendig geblieben, hat das Wissen der Mitmenschen überlebt, und
sein Symbol, das schwarze Halstuch mit dem roten Rande, hat zwar
verschlossen im Kästlein geruht wie die Liebe im Herzen der Braut, doch
es ist unversehrt erhalten. [...] So erschließt sich uns in Sinn-Bildern
der Sinn der Anekdote, ihre Idee: die Vergänglichkeit alles Irdischen
(des Einzeldaseins wie deren große Ereignisse), die Beständigkeit des
Menschenalltags, das Zeitüberdauernde des großen Gefühls und das
Bewusstsein von einem außerzeitlichen Jenseits, kurz, die Spannung
zwischen Vergänglichkeit Beständigkeit im Menschenleben. [...]«
(Paul
Nentwig, Dichtung im Unterricht: Braunschweig: Westermann 1962, S.30-32)
Johannes Pfeifer (1954)
»[...] Bei Hebel ist der
Gang der Sätze von verhaltener Bewegtheit, die Darstellungsform ebenso
schlicht und sparsam wie dicht und gediegen; bezeichnend etwa, dass die
Eigenschaftsworte in ihrer treffsicheren Abgewogenheit der sachlichen
Kennzeichnung dienen: "seine junge, hübsche Braut", "mit holdem
Lächeln", "in seiner schwarzen Bergmannskleidung", "in ihrer
unterirdischen Werkstatt", "unverwest und verändert", "grau und
zusammengeschrumpft", "von einer langen heftigen Bewegung", "in der
Gestalt des hingewelkten kraftlosen Alters", "in seiner jugendlichen
Schöne", "im kühlen Hochzeitbett". Die Schilderung der menschlichen und
räumlichen Umstände ist auf das Notwendige beschränkt; [...] Die
erzählerische Vergegenwärtigung zielt auf klare und feste Umrisse ab und
verbindet einen kargen Realismus mit sinnbildlicher Transparenz: das
Ganze hat etwas von der Durchsichtigkeit einer Parabel. Meisterhaft ist
es, wie Abschied und Wiedersehn sich ineinander spiegeln und eben damit
hinüberweisen ins überirdische Geheimnis. [...] Meisterhaft, wie die
Zeit zwischen schied und Wiedersehn durch die Aufzählung der sie
erfüllenden geschichtlichen Ereignisse mittelbar da ist und der Strom
des Vergehens h in unserem schauenden Gefühl verwirklicht. [...] So lebt
denn in dieser unscheinbaren Geschichte das ganze Hell-Dunkel des
Daseins: seine Lust und seine Wehmut, wie es vergeht und wie Treue das
Vergängliche überwindet, wie es zwischen Endlichkeit und Ewigkeit als
ein verschwindender Übergang schwebt.« [...]
(Johannes Pfeiffer, Wege
zur Erzählkunst, Hamburg: Wittig, 2. Aufl. 1954, S.47-49)
Lothar Wittmann (1969)
»[...] Und so sind es
immer die letzten Dinge, um die diese Parabel vom
ängstlich-unvergänglichen Menschen kreist: Glück und Leid,
"Hochzeitbett" und "Grab", Leben und Sterben. Diesen transzendierenden
parabolischen Sinn haben alle Vorgänge der Erzählung: das "und vergaß
ihn nie" etwa, in dem die Braut der Zeit ihrer Tribut verweigert, zeigt,
wie in der bewahrenden Erinnerung der Mensch die Zeit aufzuheben und im
"nie" als ihrer Negation Überzeitliches zu verwirklichen vermag; die
Verben des Mittelabschnitts "wurde. . zerstört", "ging vorüber",
"starb", "wurde aufgehoben", "starb", "wurde hingerichtet", "starb
auch", "ging auch ins Grab", mit denen die geschichtliche Zeit in ihren
Ereignissen aufgereiht wird, veranschaulichen, wie Geschichte in dieser
bei zum Gleichnis der Hinfälligkeit und Vergänglichkeit alles Seienden
wird, jeder Anfang - "fing an", "säeten" - einem Ende zutreibt:
"schnitten"; angesichts dieser radikalen Drohung der Vergängnis ist das
"freudige Entzücken" vor der "Leiche", das den "Schmerz" übertönt als
jener wunderbare Liebesakt zu begreifen, der die Schrecken des Todes
bannt und bereits im Diesseits den klaffenden Abgrund überspringt, der
hier für alle "Umstehenden" das Leben vom Tod trennt. Und so ist das
"Unverhoffte Wiedersehen" noch im Bezirk der Zeitlichkeit - und nicht
erst in der Ewigkeit - ein Zeichen dafür, dass es dem Menschen hier
gelingt, durch die Kraft der Liebe mitten in der vergehenden Zeit ein
Stück Ewigkeit zu verwirklichen. Welche wunderbare Freiheit aber aus der
das Vergehen ignorierenden menschlichen Treue entspringt, zeigt die
souveräne Gelassenheit der Braut gegenüber aller Zeit: noch einen Tag
oder zehen... lass dir die Zeit nicht lang werden. Ich... komme bald…"
Durch diese gelassene, fast spielerische Überlegenheit gegenüber allem
Zeitmaß und Zeitbegriff demonstriert die Parabel, wie der Mensch sich
hier durch die Kraft seiner Liebe der Ewigkeit vergewissert und sich mit
dem Schwerpunkt seiner Existenz aus der Zeit löst, auch wenn sein
körperliches Teil ihr noch verhaftet ist. Und so ermöglicht die durch
die Liebe erworbene Gewissheit einer unvergänglichen Welt jenen
ergreifenden fugenlosen Übergang vom "Tag" der "Beerdigung , zum
kommenden "Tag" der anbrechenden Ewigkeit: bald wird's wieder Tag". Hier
stehen die Liebenden zugleich auch außerhalb der Zeit: denn nur dort
lassen irdischer "Tag" und ewiger "Tag" sich mischen, nur von da her
erweist sich alle Zeit als ein Körnchen Ewigkeit.
Hebels Erzählung vom verschütteten Bergmann und seiner treuen Braut wird
zur beispielhaften Parabel, indem der sichtbare Vorgang ständig die
universellen Dimensionen des Menschseins widerspiegeln und ins Bild
bannt; Gleichnis der tröstlichen Gewissheit, dass es dem Menschen
gegeben sei, das natürliche Gesetz allgemeinen Zerfalls durch die Kraft
seines Herzens zu durchbrechen und so einen Bezirk des Menschlichen
zwischen Zeit und Ewigkeit auszusparen. Diese Transposition der
einfachen, schmucklos-ländlichen Geschichte in den universellen Horizont
menschlichen Schicksals lässt verstehen, was Goethe meint, wenn er voll
Bewunderung davon spricht, dass Hebel auf "anmutigste Weise" "das
Universum" "verbauere".[...]«
(aus:Lothar Wittmann,
Johann Peter Hebels Spiegel der Welt. Interpretationen zu 53
Kalendergeschichten, Frankfurt/M.: Diesterweg 1969, S.17-18)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
08.02.2024
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