|
In
Bernhard Schlinks Roman »Der
Vorleser« gibt es grundsätzlich gesehen, zwei Zeitebenen
(Zeitschichten): die Ebene der Erzählergegenwart des
auktorialen Ich-Erzählers (Michael
Berg im Alter von ca. 50 Jahren (1994/95) und die Gegenwart des
erinnerten Michael Berg in verschiedenen Lebensstationen. (vgl.
Erzählperspektive). Die
Erzählergegenwart des
auktorialen Ich-Erzählers
wird im letzten Kapitel des Romans auch zeitlich fixiert, wobei der
Ausgangspunkt der zeitlichen
Rekonstruktion des Jahres 1994/95, mit dem der Roman endet, die
im Prozess gegen Hanna gemachten Angaben zu ihrer Person darstellen. Im
letzten Kapitel des Romans wird die Bedeutung, die das Erzählen der
Geschichte für den Erzähler selbst hat, verdeutlicht. Dabei stellt er als
sein eigentliches Motiv heraus, dass er die Geschichte mit Hanna
bewältigen wollte, die ihn so lange beschäftigt habe. Als er zu schreiben
begann, so behauptet er, habe er die Geschichte "loswerden"
(S. 206) wollen. Das folgende
Strukturbild
visualisiert das Problem.
Da ihm dies
nicht gelungen sei, habe er
erst seinen
Frieden mit der Geschichte machen
müssen. Dadurch hätten sich, so glaubt er, die Erinnerungen wieder
eingestellt, die er benötigt habe, um die
Geschichte niederzuschreiben, und zwar so "rund, geschlossen und
gerichtet", wie er sie nun niedergeschrieben wähnt. Wie wenig die
Geschichte freilich diesen Behauptungen entsprechen kann, muss er schon
unmittelbar im Anschluss daran einsehen, als er bemerkt, dass die
Emotionen von damals auch in seiner Erzählergegenwart stets wieder
wachgerufen werden können. So bleibt ihm eigentlich die ernüchternde
Erkenntnis, dass das Ganze eben doch niemals etwas Erledigtes, damit
endgültig Bewältigtes für ihn werden kann. Daher muss er einräumen, dass
sein Schreiben wahrscheinlich doch als der gescheiterte Versuch angesehen
werden muss, die Geschichte und ihre psychischen Folgen für ihn selbst
loszuwerden.
"Inzwischen
liegt das alles zehn Jahre zurück. [...] Was ich getan und nicht getan
habe und sie mir angetan hat - es ist nun eben mein Leben geworden.
Den Vorsatz, Hannas und meine Geschichte zu schreiben, habe ich bald
nach ihrem Tod gefasst. Seitdem hat sich unsere Geschichte in meinem
Kopf viele Male geschrieben, immer wieder ein bisschen anders, immer
wieder mit neuen Bildern, Handlungs- und Gedankenfetzen. So gibt es
neben der Version, die ich geschrieben habe, viele andere. Die Gewähr
dafür, dass die geschriebene die richtige ist, liegt darin, dass ich sie
geschrieben und die anderen Versionen nicht geschrieben habe. Die
geschriebene Version wollte geschrieben werden, die vielen anderen
wollten es nicht.
Zuerst wollte ich unsere Geschichte schreiben, um sie loszuwerden.
Aber zu diesem Zweck haben sich die Erinnerungen nicht eingestellt. Dann
merkte ich, wie unsere
Geschichte mir entglitt, und wollte sie durchs Schreiben
zurückholen, aber auch das hat die Erinnerung nicht hervorgelockt. Seit
einigen Jahren lasse ich unsere Geschichte in Ruhe.
Ich habe meinen
Frieden mit ihr gemacht. Und sie
ist zurückgekommen, Detail um Detail und in einer Weise rund,
geschlossen und gerichtet, dass sie mich nicht mehr traurig macht.
Was für eine traurige Geschichte, dachte ich lange. Nicht dass ich jetzt
dächte, sie sei glücklich. Aber ich denke, dass sie stimmt und dass
daneben die Frage, ob sie traurig oder glücklich ist, keinerlei
Bedeutung hat. Jedenfalls denke ich das, wenn ich einfach so an sie
denke. Wenn ich jedoch verletzt werde, kommen wieder die
damals erfahrenen
Verletzungen hoch, wenn ich mich schuldig fühle, die damaligen
Schuldgefühle, und in heutiger Sehnsucht, heutigem Heimweh spüre ich
Sehnsucht und Heimweh von damals. Die
Schichten unseres Lebens ruhen so dicht aufeinander auf, dass uns im
Späteren immer Früheres begegnet, nicht als Abgetanes und Erledigtes,
sondern gegenwärtig und lebendig. Ich verstehe das. Trotzdem finde ich
es manchmal schwer erträglich.
Vielleicht habe ich unsere Geschichte doch geschrieben, weil ich sie
loswerden will, auch wenn ich es nicht kann. [...]
Aus diesem Zwiespalt und dieser Einschätzung des Erzähl-
bzw. Schreibprozesses heraus, erzählt der 50-jährige Michael Berg die
Geschichte.
Zunächst einmal bestimmt er, an welcher Stelle der
Geschichte er mit seinem Text der Geschichte, seiner Erzählung,
beginnen will (Ausschnitt).
Dazu wählt er aus einem umfassenderen Geschehen Ereignisse und Handlungen
aus, die er für die Geschichte wesentlich hält. Es ist damit seine ganz
subjektive Entscheidung, was er für die Geschichte für wesentlich hält
oder nicht, gestaltet oder auslässt. So lässt er seine Erzählung wie folgt
beginnen. Dabei ist der 50-jährige Erzähler an manchen Stellen spürbar
anwesend, an anderen hat man den Eindruck, dass er hinter der Erinnerung
an den 15-jährigen Jungen, der er seinerzeit war zurücktritt, dass er
geradezu in die Rolle des Jugendlichen hineinschlüpft und aus seiner
Perspektive erzählt, was er beginnend mit dem Herbst 1958 erlebt hat und
wie er dies erlebt hat.
Die ersten drei
Sätze des Romans sind aber noch eindeutig dem 50-Jährigen zuzuordnen,
dessen Perspektive auf das Geschehen man
auktoriale Ich-Erzählperspektive
nennt. Der 50-Jährige kennt die ganze Geschichte von Anfang bis Ende, er
weiß, was sich zu diesem Zeitpunkt und später bis zu seiner Gegenwart
ereignet hat. Daher kann er auch genaue Angaben zur zeitlichen Situierung
des Geschehens machen, kann bestimmte Dinge auslassen, kann, wenn nötig,
auf weiter Zurückliegendes zurückgreifen oder im Vorgriff Dinge erwähnen,
die zeitlich gesehen erst nach dem aktuell dargestellten Geschehen der
Geschichte liegen (Nicht-lineares
Erzählen:
Rückwendungen,
Vorausdeutungen)
Beginnend mit der Stelle "[...]
meine Mutter richtete mir das Bett auf
dem Balkon" (S. 5) schlüpft der 50-jährige Ich-Erzähler (=
sich erinnerndes Ich, auch:
erzählendes Ich) allmählich in die Rolle des jugendlichen Michael, an den
er sich erinnert (=
erinnertes Ich, auch:
erlebendes Ich). Nach und nach zieht er 50-Jährige sich zurück und erzählt
die Geschichte, ohne dass sich der Ältere weiter einmischt, nun mehr und
mehr aus der Perspektive des Jugendlichen, dessen
Erlebnisse und
Gefühle zu Wort kommen.
Erst am Ende meldet sich der auktoriale Ich-Erzähler wieder zu Wort, indem
er das Geschehen
kommentiert und auf auf den später
stattfindenden Besuch bei der Frau (Hanna) vorausgreifend
hinweist. ("Ich glaube nicht" = Erzählergegenwart des auktorialen, sich
erinnernden Ichs des 50-jährigen Michael Berg). Mit einer expliziten
Aussparung schließlich
endet das Kapitel, dessen Handlung durch die eingeschobenen Reflexionen
des Erzählers im
2. Kapitel, erst im
3. Kapitel wieder
fortgesetzt wird.
"Als ich fünfzehn
war, hatte ich Gelbsucht. Die Krankheit begann im Herbst und endete
im Frühjahr. Je kälter und dunkler das alte Jahr wurde, desto schwächer
wurde ich. Erst mit dem neuen Jahr ging es aufwärts. Der Januar war
warm, und
meine Mutter richtete mir das Bett auf dem Balkon. Ich sah den
Himmel, die Sonne, die Wolken und hörte die Kinder im Hof spielen. Eines
frühen Abends im Februar hörte ich eine Amsel singen.
Mein
erster Weg führte mich von der Blumenstraße, in der wir im zweiten Stock
eines um die Jahrhundertwende gebauten, wuchtigen Hauses wohnten, in die
Bahnhofstraße. Dort hatte ich mich an einem Montag im Oktober auf dem
Weg von der Schule nach Hause übergeben. [...]
Ich schämte
mich besonders, als ich mich übergab. Auch das war mir noch nie in
meinem Leben passiert. Mein Mund füllte sich, ich
versuchte, es hinunterzuschlucken, presste die Lippen aufeinander,
die Hand vor den Mund, aber es brach aus dem Mund und durch die Finger.
Dann stützte ich mich an die Hauswand, sah auf das Erbrochene zu meinen
Füßen und würgte hellen Schleim.
Die Frau, die sich meiner annahm, tat es fast grob. Sie nahm meinen Arm
und führte mich durch den dunklen Hausgang in den Hof. Oben waren von
Fenster zu Fenster Leinen gespannt und hing Wäsche. Im Hof lagerte Holz;
in einer offen stehenden Werkstatt kreischte eine Säge und flogen die
Späne. Neben der Tür zum Hof war ein Wasserhahn. Die Frau drehte den
Hahn auf, wusch zuerst meine Hand und klatschte mir dann das Wasser, das
sie in ihren hohlen Händen auffing, ins Gesicht. Ich trocknete mein
Gesicht mit dem Taschentuch.
»Nimm den anderen! « Neben dem Wasserhahn standen zwei Eimer, sie griff
einen und füllte ihn. Ich nahm und füllte den anderen und folgte ihr
durch den Gang. Sie holte weit aus, das Wasser platschte auf den Gehweg
und schwemmte das Erbrochene in den Rinnstein. Sie nahm mir den Eimer
aus der Hand und schickte einen weiteren Wasserschwall über den Gehweg.
Sie richtete sich auf und sah, dass ich weinte. »Jungchen«, sagte sie
verwundert, »Jungchen.« Sie nahm mich in die Arme. Ich war kaum größer
als sie, spürte ihre Brüste an meiner Brust, roch in der Enge der
Umarmung meinen schlechten Atem und ihren frischen Schweiß und wusste
nicht, was ich mit meinen Armen machen sollte. Ich hörte auf zu weinen.
Sie fragte mich, wo ich wohnte, stellte die Eimer in den Gang und
brachte mich nach Hause. Sie lief neben mir, in der einen Hand meine
Schultasche und die andere an meinem Arm. Es ist nicht weit von der
Bahnhofstraße in die Blumenstraße. Sie ging schnell und mit einer
Entschlossenheit, die es mir leicht machte, Schritt zu halten. Vor
unserem Haus verabschiedete sie sich.
Am selben Tag holte meine Mutter den Arzt, der Gelbsucht
diagnostizierte. Irgendwann erzählte ich meiner Mutter von der Frau.
Ich glaube
nicht, dass ich sie sonst besucht hätte. Aber für meine Mutter war
selbstverständlich, dass ich, sobald ich könnte, von meinem Taschengeld
einen Blumenstrauß kaufen, mich vorstellen und bedanken würde.
So ging ich Ende
Februar in die Bahnhofstraße."
|
|