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Die Industriegesellschaft setzt Ressourcen von Natur und Kultur voraus,
auf deren Existenz sie aufbaut, deren Bestände aber im Zuge einer sich durchsetzenden
Modernisierung aufgebraucht werden. Dies trifft auch auf kulturelle Lebensformen (z.B.
Kleinfamilie und Geschlechtsordnung) und soziale Arbeitsvermögen (z.B. Hausfrauenarbeit,
die
zwar nicht als Arbeit anerkannt war, gleichwohl aber die Erwerbsarbeit des Mannes erst
ermöglicht hat).
Dieser Verbrauch der kollektiven oder gruppenspezifischen Sinnreservoire (z.B. Glauben,
Klassenbewusstsein) der traditionellen Kultur (die mit ihren Lebensstilen und
Sicherheitsvorstellungen noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein auch die westlichen
Demokratien und Wirtschaftsgesellschaften gestützt hat) führt dazu, dass alle
Definitionsleistungen den Individuen zugemutet werden.
Chancen, Gefahren, Ambivalenzen der Biographie, die früher im Familienverband, in der
dörflichen Gemeinschaft, im Rückgriff auf ständische Regeln oder soziale Klassen
bewältigt werden mochten, müssen nun von den Einzelnen selbst wahrgenommen,
interpretiert und bearbeitet werden. Chancen und Lasten der Situationsdefinition und -
bewältigung verlagern sich damit auf die Individuen, ohne dass diese aufgrund der hohen
Komplexität der gesellschaftlichen Zusammenhänge noch in der Lage sind, die damit
unvermeidlichen Entscheidungen fundiert, in Abwägung von Interesse, Moral und Folgen
verantwortlich treffen zu können.
Auflösung, Ablösung
»Individualisierung« meint (
) nicht Atomisierung, Vereinzelung,
nicht Beziehungslosigkeit des freischwebenden Individuums, auch nicht (was oft unterstellt
wird) Individuation, Emanzipation, Autonomie: das Aufleben des bürgerlichen Individuums
nach seinem Ableben.
Sondern: erstens die Auflösung, zweitens die Ablösung industriegesellschaftlicher
Lebensformen (Klasse, Schicht, Geschlechterrolle, Familie) durch solche, in denen die
Individuen ihre Biographie selbst herstellen, inszenieren, zusammenschustern müssen. Die
Normalbiographie wird zur Wahlbiographie zur »Bastelbiographie« (Ronald
Hitzler)
Individualisierung beruht also keineswegs auf einer freien Entscheidung. Die Menschen sind
- um es mit Sartre zu sagen - zur Individualisierung verdammt. Es handelt sich um einen
Zwang, einen paradoxen Zwang freilich, zur Selbstgestaltung, Selbstinszenierung, nicht
nur der
eigenen Biographie, sondern auch ihrer moralischen, sozialen und politischen Bindungen -
allerdings: unter sozialstaatlichen Vorgaben wie Ausbildung, Arbeitsmarkt, Arbeits- und
Sozialrecht usw.
Individualisierung ist (
) entgegen der allgemeinen Bewusstseinsform kein
individuelles, sondern ein kollektives Schicksal.
Gemeinsamkeit kann nicht länger von oben nach unten verordnet, sondern muss frei gefragt,
herbeigestritten werden im Durchgang durch das Individuelle, Biographische; muss
abgesprochen, ausgehandelt, begründet, erlebt, gegen die zentrifugal Kraft der
Biographien bewusst bewahrt werden.
(aus: Süddeutsche Zeitung, 14./15.2.1993, Auszüge)
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