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Vom Verschwinden der Solidarität

Ulrich Beck


Die Industriegesellschaft setzt Ressourcen von Natur und Kultur voraus, auf deren Existenz sie aufbaut, deren Bestände aber im Zuge einer sich durchsetzenden Modernisierung aufgebraucht werden. Dies trifft auch auf kulturelle Lebensformen (z.B. Kleinfamilie und Geschlechtsordnung) und soziale Arbeitsvermögen (z.B. Hausfrauenarbeit, die zwar nicht als Arbeit anerkannt war, gleichwohl aber die Erwerbsarbeit des Mannes erst ermöglicht hat).
Dieser Verbrauch der kollektiven oder gruppenspezifischen Sinnreservoire (z.B. Glauben, Klassenbewusstsein) der traditionellen Kultur (die mit ihren Lebensstilen und Sicherheitsvorstellungen noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein auch die westlichen Demokratien und Wirtschaftsgesellschaften gestützt hat) führt dazu, dass alle Definitionsleistungen den Individuen zugemutet werden.
Chancen, Gefahren, Ambivalenzen der Biographie, die früher im Familienverband, in der dörflichen Gemeinschaft, im Rückgriff auf ständische Regeln oder soziale Klassen bewältigt werden mochten, müssen nun von den Einzelnen selbst wahrgenommen, interpretiert und bearbeitet werden. Chancen und Lasten der Situationsdefinition und - bewältigung verlagern sich damit auf die Individuen, ohne dass diese aufgrund der hohen Komplexität der gesellschaftlichen Zusammenhänge noch in der Lage sind, die damit unvermeidlichen Entscheidungen fundiert, in Abwägung von Interesse, Moral und Folgen verantwortlich treffen zu können.

Auflösung, Ablösung

»Individualisierung« meint (…) nicht Atomisierung, Vereinzelung, nicht Beziehungslosigkeit des freischwebenden Individuums, auch nicht (was oft unterstellt wird) Individuation, Emanzipation, Autonomie: das Aufleben des bürgerlichen Individuums nach seinem Ableben.
Sondern: erstens die Auflösung, zweitens die Ablösung industriegesellschaftlicher Lebensformen (Klasse, Schicht, Geschlechterrolle, Familie) durch solche, in denen die Individuen ihre Biographie selbst herstellen, inszenieren, zusammenschustern müssen. Die Normalbiographie wird zur Wahlbiographie zur »Bastelbiographie« (Ronald Hitzler)
Individualisierung beruht also keineswegs auf einer freien Entscheidung. Die Menschen sind - um es mit Sartre zu sagen - zur Individualisierung verdammt. Es handelt sich um einen Zwang, einen paradoxen Zwang freilich, zur Selbstgestaltung, Selbstinszenierung, nicht nur der eigenen Biographie, sondern auch ihrer moralischen, sozialen und politischen Bindungen - allerdings: unter sozialstaatlichen Vorgaben wie Ausbildung, Arbeitsmarkt, Arbeits- und Sozialrecht usw.
Individualisierung ist (…) entgegen der allgemeinen Bewusstseinsform kein individuelles, sondern ein kollektives Schicksal.
Gemeinsamkeit kann nicht länger von oben nach unten verordnet, sondern muss frei gefragt, herbeigestritten werden im Durchgang durch das Individuelle, Biographische; muss abgesprochen, ausgehandelt, begründet, erlebt, gegen die zentrifugal Kraft der Biographien bewusst bewahrt werden.

(aus: Süddeutsche Zeitung, 14./15.2.1993, Auszüge)
 

(Text veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors 17.12.1998)

 


   Arbeitsanregung

  1. Arbeiten Sie den Gedankengang des Verfassers heraus.

  2. Setzen Sie sich mit den Problemen so genannter "Bastelbiographien" auseinander.

  3. Erörtern Sie Möglichkeiten zur Herstellung von Solidarität unter den Bedingungen der Individualisierung in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen.

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