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Gesamttext (Kapiteleinteilung nach Malcom Pasley 1990)
VERHAFTUNG
[→HL
5]
Jemand musste Josef K.
verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines
Morgens verhaftet. Die
Köchin der
Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin,
die ihm
jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal
nicht. Das war noch niemals geschehen. K. wartete noch ein Weilchen, sah von
seinem Kopfkissen aus die
alte Frau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn
mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber,
gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete er. Sofort klopfte es und ein
Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte, trat ein. Er war
schlank und doch fest gebaut, er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das,
ähnlich den Reiseanzügen, mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen,
Knöpfen und einem Gürtel versehen war und infolgedessen, ohne dass man sich
darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien.
»Wer sind Sie?« fragte K. und saß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann
aber ging über die Frage hinweg, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen,
und sagte bloß seinerseits: »Sie haben geläutet?« »Anna soll mir das
Frühstück bringen«, sagte K. und versuchte, zunächst stillschweigend, durch
Aufmerksamkeit und Überlegung festzustellen, wer der Mann eigentlich war.
Aber dieser setzte sich nicht allzu lange seinen Blicken aus, sondern wandte
sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um jemandem, der
offenbar knapp
hinter der Tür stand, zu sagen: »Er will, dass Anna ihm das Frühstück
bringt.« Ein
kleines Gelächter im Nebenzimmer folgte, es war nach dem Klang
nicht sicher, ob nicht mehrere Personen daran beteiligt waren. Obwohl der
fremde Mann dadurch nichts erfahren haben konnte, was er nicht schon früher
gewusst hätte, sagte er nun doch zu K. im Tone einer Meldung: »Es ist
unmöglich.« »Das wäre neu«, sagte K., sprang aus dem Bett und zog rasch
seine Hosen an. »Ich will doch sehen, was für Leute im Nebenzimmer sind
und
wie Frau Grubach diese Störung mir gegenüber verantworten wird.« Es fiel ihm
zwar gleich ein, dass er das nicht hätte laut sagen müssen und dass er
dadurch gewissermaßen ein Beaufsichtigungsrecht des Fremden anerkannte, aber
es schien ihm jetzt nicht wichtig.
Immerhin fasste es der Fremde so auf, denn er sagte: »Wollen Sie nicht
lieber hier bleiben?« »Ich will weder hier bleiben, noch von Ihnen
angesprochen werden, solange Sie sich
[→HL 6] mir nicht vorstellen.« »Es war gut
gemeint«, sagte der Fremde und öffnete nun freiwillig die Tür.
Im
Nebenzimmer, in das
K. langsamer eintrat, als er wollte, sah es
auf den
ersten Blick fast genau so aus wie am Abend vorher. Es war das
Wohnzimmer
der Frau Grubach, vielleicht war in diesem mit Möbeln, Decken, Porzellan und
Photographien überfüllten
Zimmer
heute ein wenig mehr Raum als sonst,
man
erkannte das nicht gleich, um so weniger, als die Hauptveränderung in der
Anwesenheit eines Mannes bestand, der beim offenen Fenster mit einem Buch
saß, von dem er jetzt aufblickte, »Sie hätten in Ihrem Zimmer bleiben
sollen! Hat es Ihnen denn Franz nicht gesagt?« »Ja, was wollen Sie denn?«
sagte K. und sah von der neuen Bekanntschaft zu dem mit Franz Benannten, der
in der Tür stehen geblieben war, und dann wieder zurück.
Durch das offene
Fenster erblickte man wieder die alte Frau, die mit wahrhaft greisenhafter
Neugierde zu dem jetzt gegenüberliegenden Fenster getreten war, um auch
weiterhin alles zu sehen. »Ich will doch Frau Grubach -«, sagte K., machte
eine Bewegung, als reiße er sich von den zwei Männern los, die aber
weit von
ihm entfernt standen, und wollte weitergehen. »Nein«, sagte der Mann beim
Fenster, warf das Buch auf ein Tischchen und stand auf. »Sie dürfen nicht
weggehen, Sie sind ja gefangen.«
»Es sieht so aus«, sagte K.
»Und warum denn?«
fragte er dann. »Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das
zu sagen. Gehen Sie in Ihr Zimmer und warten Sie.
Das Verfahren ist nun
einmal eingeleitet, und Sie
werden alles zur richtigen Zeit erfahren. Ich
gehe über meinen Auftrag hinaus, wenn ich Ihnen so freundschaftlich zurede.
Aber ich hoffe, es hört es niemand sonst als Franz, und der ist selbst gegen
alle Vorschrift freundlich zu Ihnen. Wenn Sie auch weiterhin so viel
Glück
haben wie bei der Bestimmung Ihrer Wächter, dann können Sie zuversichtlich
sein.« K. wollte sich setzen, aber nun sah er, dass
im ganzen Zimmer keine
Sitzgelegenheit war, außer dem Sessel beim Fenster. »Sie werden noch einsehen, wie
wahr das alles ist«, sagte Franz und ging gleichzeitig mit dem andern Mann
auf ihn zu. Besonders der letztere überragte K. bedeutend und
klopfte ihm
öfters auf die Schulter.
Beide prüften
K.s Nachthemd und
sagten, dass er
jetzt ein viel schlechteres Hemd werde anziehen müssen, dass sie aber dieses
Hemd wie auch
seine übrige Wäsche aufbewahren und, wenn seine Sache günstig
ausfallen sollte, ihm wieder zurückgeben würden. »Es ist besser, Sie geben
die Sachen uns als ins Depot«, sagten sie, »denn im Depot kommen öfters
Unterschleife1 vor und außerdem verkauft man dort alle Sachen nach einer
gewissen Zeit, ohne Rücksicht, ob das betreffende Verfahren zu Ende ist oder
nicht. Und wie lange dauern doch derartige Pro-[→HL
7]zesse, besonders in letzter
Zeit! Sie bekämen dann schließlich allerdings vom Depot den Erlös, aber
dieser Erlös ist erstens an sich schon gering, denn beim Verkauf entscheidet
nicht die Höhe des Angebotes, sondern die Höhe der Bestechung, und weiter
verringern sich solche Erlöse erfahrungsgemäß, wenn sie von Hand zu Hand und
von Jahr zu Jahr weitergegeben werden.« K. achtete auf diese Reden kaum,
das
Verfügungsrecht über seine Sachen, das er vielleicht noch besaß, schätzte er
nicht hoch ein,
viel wichtiger war es ihm, Klarheit über seine Lage zu
bekommen;
in Gegenwart dieser Leute konnte er aber nicht einmal nachdenken,
immer wieder stieß der Bauch des zweiten Wächters -
es konnten ja nur
Wächter sein - förmlich freundschaftlich an ihn,
sah er aber auf, dann
erblickte er ein zu diesem dicken Körper gar nicht passendes trockenes,
knochiges Gesicht mit starker, seitlich gedrehter Nase, das sich über ihn
hinweg mit dem anderen Wächter verständigte.
Was waren denn das für
Menschen?
Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an?
K. lebte doch
in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden
aufrecht, wer wagte, ihn in seiner Wohnung zu überfallen? Er neigte stets
dazu, alles möglichst leicht zu nehmen, das Schlimmste erst beim Eintritt
des Schlimmsten zu glauben, keine Vorsorge für die Zukunft zu treffen,
selbst wenn alles drohte. Hier schien ihm das aber nicht richtig,
man konnte
zwar das Ganze als Spaß ansehen, als einen groben Spaß, den ihm aus
unbekannten Gründen, vielleicht weil
heute sein dreißigster Geburtstag war,
die Kollegen in der Bank veranstaltet
hatten, es war natürlich möglich,
vielleicht brauchte er nur auf irgendeine Weise den Wächtern ins Gesicht zu
lachen, und sie würden mitlachen, vielleicht waren es Dienstmänner von der
Straßenecke, sie sahen ihnen nicht unähnlich - trotzdem war er diesmal,
förmlich schon seit dem ersten Anblick des Wächters Franz, entschlossen,
nicht den geringsten Vorteil, den er vielleicht gegenüber diesen Leuten
besaß, aus der Hand zu geben. Darin, dass man später sagen würde,
er habe
keinen Spaß verstanden, sah K. eine ganz geringe Gefahr, wohl aber erinnerte
er sich - ohne dass es sonst seine Gewohnheit gewesen wäre, aus Erfahrungen
zu lernen - an einige, an sich
unbedeutende Fälle, in denen er zum
Unterschied von seinen Freunden mit Bewusstsein, ohne das geringste Gefühl
für die möglichen Folgen, sich unvorsichtig benommen hatte und dafür durch
das Ergebnis gestraft worden war. Es sollte nicht wieder geschehen,
zumindest nicht diesmal;
war es eine Komödie, so wollte er mitspielen.
Noch war er frei. »Erlauben
Sie«, sagte er und
ging eilig zwischen den Wächtern durch in sein Zimmer.
»Er scheint vernünftig
[→HL 8] zu sein«, hörte er hinter sich sagen. In seinem
Zimmer riss er gleich die Schubladen des Schreibtischs auf, es lag dort
alles in großer Ordnung, aber gerade
die
Legitimationspapiere, die er
suchte, konnte er in der Aufregung nicht gleich finden. Schließlich fand er
seine Radfahrlegitimation und wollte schon mit ihr zu den Wächtern gehen,
dann aber schien ihm das Papier zu geringfügig und er suchte weiter, bis er
den Geburtsschein fand. Als er
wieder in das Nebenzimmer zurückkam, öffnete
sich gerade die
gegenüberliegende Tür
und
Frau Grubach wollte dort
eintreten. Man sah sie nur einen Augenblick, denn kaum hatte sie K. erkannt,
als sie offenbar verlegen wurde, um Verzeihung bat, verschwand und äußerst
vorsichtig die Tür schloss. »Kommen Sie doch herein«, hatte K. gerade noch
sagen können. Nun aber stand er
mit
seinen Papieren in der Mitte des
Zimmers, sah noch auf die Tür hin, die sich nicht wieder öffnete, und wurde
erst durch einen Anruf der Wächter aufgeschreckt, die bei dem Tischchen am
offenen Fenster saßen und, wie K. jetzt erkannte,
sein Frühstück verzehrten.
»Warum ist sie nicht eingetreten?« fragte er. »Sie darf nicht«, sagte der
große Wächter. »Sie sind doch verhaftet.« »Wie kann ich denn verhaftet sein?
Und gar auf diese Weise?« »Nun fangen Sie also wieder an«, sagte der Wächter
und tauchte ein Butterbrot ins Honigfässchen. »Solche Fragen beantworten wir
nicht.« »Sie werden sie beantworten
müssen«, sagte K. »Hier sind meine Legitimationspapiere, zeigen Sie mir
jetzt die Ihrigen und vor allem den Verhaftbefehl.« »Du lieber Himmel!« sagte der
Wächter. »dass Sie sich in Ihre Lage nicht fügen können und dass Sie es
darauf angelegt zu haben scheinen, uns, die wir Ihnen jetzt wahrscheinlich
von allen Ihren Mitmenschen am nächsten stehen,
nutzlos zu reizen!« »Es ist
so, glauben Sie es doch«, sagte Franz, führte die Kaffeetasse, die er in der
Hand hielt, nicht zum Mund, sondern sah K. mit einem langen,
wahrscheinlich
bedeutungsvollen, aber unverständlichen Blick an. K. ließ sich,
ohne es zu
wollen, in ein Zwiegespräch der Blicke mit Franz ein, schlug dann aber doch
auf seine Papiere und sagte: »Hier sind meine Legitimationspapiere.« »Was
kümmern uns denn die?« rief nun schon der große Wächter. »Sie führen sich
ärger auf als ein Kind. Was wollen Sie denn? Wollen Sie
Ihren großen,
verfluchten Prozess dadurch zu einem raschen Ende bringen, dass Sie mit uns,
den Wächtern, über Legitimation und Verhaftbefehl diskutieren?
Wir sind
niedrige Angestellte, die sich in einem Legitimationspapier kaum auskennen
und die mit Ihrer Sache nichts anderes zu tun haben, als dass sie
zehn
Stunden täglich bei Ihnen Wache halten und dafür bezahlt werden. Das ist
alles, was wir sind, trotzdem aber sind wir
[→HL 9] fähig, einzusehen, dass
die
hohen Behörden, in deren Dienst wir stehen, ehe sie eine solche Verhaftung
verfügen, sich sehr genau über die Gründe der Verhaftung und die Person des
Verhafteten unterrichten. Es gibt darin keinen Irrtum.
Unsere Behörde,
soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht doch
nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz
heißt, von der Schuld angezogen und muss uns Wächter ausschicken. Das ist
Gesetz. Wo gäbe es da einen Irrtum?« »Dieses Gesetz kenne ich nicht«, sagte
K. »Desto schlimmer für Sie«, sagte der Wächter. »Es besteht
wohl auch nur
in Ihren Köpfen«, sagte K., er wollte sich irgendwie in die Gedanken der
Wächter einschleichen, sie zu seinen Gunsten wenden oder sich dort
einbürgern. Aber der Wächter sagte nur abweisend: »Sie werden es zu fühlen
bekommen.« Franz mischte sich ein und sagte: »Sieh, Willem, er gibt zu, er
kenne das Gesetz nicht, und behauptet gleichzeitig, schuldlos zu sein.« »Du
hast ganz recht, aber ihm kann man nichts begreiflich machen«, sagte der
andere. K. antwortete nichts mehr;
muss ich, dachte er, durch das Geschwätz
dieser niedrigsten Organe - sie geben selbst zu, es zu sein - mich noch mehr
verwirren lassen? Sie reden doch jedenfalls von Dingen, die sie gar nicht
verstehen. Ihre Sicherheit ist nur durch ihre Dummheit möglich. Ein paar
Worte, die ich mit einem mir ebenbürtigen Menschen sprechen werde, werden
alles unvergleichlich klarer machen als die längsten Reden mit diesen. Er
ging einige Male in dem freien Raum des Zimmers
auf und ab,
drüben sah er
die alte Frau, die einen noch viel älteren Greis zum Fenster gezerrt hatte,
den sie umschlungen hielt.
K. musste dieser Schaustellung ein Ende machen:
»Führen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten«, sagte er. »Wenn er es wünscht;
nicht früher«, sagte der Wächter, der Willem genannt worden war. »Und nun
rate ich Ihnen«, fügte er hinzu, »in Ihr Zimmer zu gehen, sich ruhig zu
verhalten und darauf zu warten, was über Sie verfügt werden wird. Wir raten
Ihnen, zerstreuen Sie sich nicht durch nutzlose Gedanken, sondern sammeln
Sie sich, es werden große Anforderungen an Sie gestellt werden. Sie haben
uns nicht so behandelt, wie es unser Entgegenkommen verdient hätte, Sie
haben vergessen, dass wir, mögen wir auch sein was immer, zumindest jetzt
Ihnen gegenüber freie Männer sind, das ist kein kleines Übergewicht.
Trotzdem sind wir bereit,
falls Sie Geld haben, Ihnen ein kleines Frühstück
aus dem Kaffeehaus drüben zu bringen.«
Ohne auf dieses Angebot zu
antworten, stand K. ein Weilchen lang still.
Vielleicht würden ihn die
beiden, wenn er die Tür des folgenden Zimmers oder gar die Tür des
Vorzimmers öffnete, gar nicht zu hindern wagen,
vielleicht wäre es die
einfachste
[→HL 10]
Lösung des Ganzen, dass er es auf die Spitze trieb.
Aber
vielleicht würden sie ihn
doch packen und, war er einmal niedergeworfen, so
war auch alle Überlegenheit verloren, die er jetzt ihnen gegenüber in
gewisser Hinsicht doch wahrte.
Deshalb zog er die Sicherheit der Lösung vor,
wie sie der natürliche Verlauf bringen musste, und
ging in sein Zimmer
zurück, ohne dass von seiner Seite oder von Seite der Wächter ein weiteres
Wort gefallen wäre.
Er warf sich auf sein Bett und
nahm vom Waschtisch einen schönen Apfel, den er sich gestern Abend für das
Frühstück vorbereitet hatte. Jetzt war er sein einziges Frühstück und
jedenfalls, wie er sich beim ersten großen Bissen versicherte, viel besser,
als das Frühstück aus dem schmutzigen Nachtcafé gewesen wäre, das er durch
die Gnade der Wächter hätte bekommen können.
Er fühlte sich wohl und
zuversichtlich, in der Bank versäumte er zwar heute Vormittag seinen Dienst,
aber das war bei der verhältnismäßig hohen Stellung, die er dort einnahm,
leicht entschuldigt.
Sollte er die wirkliche Entschuldigung anführen? Er
gedachte es zu tun. Würde man ihm nicht glauben, was in diesem Fall
begreiflich war, so konnte er Frau Grubach als Zeugin führen oder auch die
beiden Alten von drüben, die wohl jetzt auf dem Marsch zum
gegenüberliegenden Fenster waren.
Es wunderte K., wenigstens aus dem
Gedankengang der Wächter wunderte es ihn, dass sie ihn in das Zimmer
getrieben und ihn hier allein gelassen hatten, wo er doch zehnfache
Möglichkeit hatte, sich umzubringen.
Gleichzeitig allerdings fragte er sich,
diesmal aus seinem Gedankengang, was für einen Grund er haben könnte, es zu
tun. Etwa weil die zwei nebenan saßen und sein Frühstück abgefangen hatten?
Es wäre so sinnlos gewesen, sich umzubringen, dass er, selbst wenn er es
hätte tun wollen, infolge der Sinnlosigkeit dazu nicht imstande gewesen
wäre. Wäre die geistige Beschränktheit der Wächter nicht so auffallend
gewesen, so hätte man annehmen können, dass auch sie, infolge der gleichen
Überzeugung, keine Gefahr darin gesehen hätten, ihn allein zu lassen. Sie
mochten jetzt, wenn sie wollten, zusehen, wie er zu einem Wandschränkchen
ging, in dem er einen guten Schnaps aufbewahrte, wie er ein Gläschen zuerst
zum Ersatz des Frühstücks leerte und wie er
ein zweites Gläschen dazu
bestimmte, sich Mut zu machen, das letztere nur aus Vorsicht für den
unwahrscheinlichen Fall, dass es nötig sein sollte.
Da erschreckte ihn ein Zuruf
aus dem Nebenzimmer derartig, dass er mit den Zähnen ans Glas schlug. »Der
Aufseher ruft Sie!« hieß es. Es war nur das Schreien, das ihn erschreckte,
dieses
kurze, abgehackte, militärische Schreien, das er dem Wächter Franz
gar nicht zugetraut hätte. Der Befehl selbst war ihm sehr willkom-
[→HL 11]men.
»Endlich!« rief er zurück, versperrte den Wandschrank und
eilte sofort ins
Nebenzimmer. Dort standen die zwei Wächter und
jagten ihn, als wäre das
selbstverständlich, wieder in sein Zimmer zurück. »Was fällt Euch ein?«
riefen sie. »Im Hemd wollt Ihr vor den Aufseher?
Er lässt Euch durchprügeln
und uns mit!« »Lasst mich, zum Teufel!« rief K., der schon bis zu seinem
Kleiderkasten zurückgedrängt war, »wenn man mich im Bett überfällt, kann man
nicht erwarten, mich im Festanzug zu finden.« »Es hilft nichts«, sagten die
Wächter, die immer, wenn K. schrie, ganz ruhig, ja fast traurig wurden und
ihn dadurch verwirrten oder gewissermaßen zur Besinnung brachten.
»Lächerliche Zeremonien!« brummte er noch, hob aber schon einen Rock vom
Stuhl und hielt ihn ein Weilchen mit beiden Händen, als unterbreite er ihn
dem Urteil der Wächter. Sie schüttelten die Köpfe. »Es muss ein schwarzer
Rock sein«, sagten sie. K. warf daraufhin den Rock zu Boden und sagte -
er
wusste selbst nicht, in welchem Sinne er es sagte -:
»Es ist doch noch nicht
die Hauptverhandlung.« Die Wächter lächelten, blieben aber bei ihrem: »Es
muss ein schwarzer Rock sein.« »Wenn ich dadurch die Sache beschleunige,
soll es mir recht sein«, sagte K., öffnete den Kleiderkasten, suchte lange
unter den vielen Kleidern, wählte sein bestes schwarzes Kleid, ein
Jackettkleid, das durch seine Taille unter den Bekannten fast Aufsehen
gemacht hatte, zog nun auch ein anderes Hemd hervor und
begann, sich
sorgfältig anzuziehen. Im Geheimen
glaubte er, eine Beschleunigung des
Ganzen damit erreicht zu haben, dass die Wächter vergessen hatten, ihn zum
Bad zu zwingen. Er beobachtete sie, ob sie sich vielleicht daran doch
erinnern würden, aber das fiel ihnen natürlich gar nicht ein, dagegen vergaß
Willem nicht, Franz mit der Meldung, dass sich K. anziehe, zum Aufseher zu
schicken.
Als er vollständig angezogen
war, musste er knapp vor Willem
durch das leere Nebenzimmer in das folgende
Zimmer gehen, dessen Tür mit beiden Flügeln bereits geöffnet war.
Dieses
Zimmer wurde, wie K. genau wusste, seit kurzer Zeit von einem
Fräulein
Bürstner, einer
Schreibmaschinistin, bewohnt, die
sehr früh in die Arbeit zu
gehen pflegte, spät nach Hause kam und
mit der K. nicht viel mehr als die
Grußworte gewechselt hatte. Jetzt war das
Nachttischchen von ihrem Bett als
Verhandlungstisch in die Mitte des Zimmers gerückt, und der
Aufseher saß
hinter ihm. Er hatte die Beine übereinander geschlagen und einen Arm auf die
Rückenlehne des Stuhles gelegt.
In einer Ecke des Zimmers
standen drei junge Leute
und sahen die Photographien des Fräulein Bürstner
an, die in einer an der Wand aufgehängten Matte steckten. An der Klinke des
offenen Fensters hing eine weiße Bluse.
Im
[→HL 12]
gegenüberliegenden Fenster lagen
wieder die zwei Alten, doch hatte sich ihre Gesellschaft vergrößert, denn
hinter ihnen, sie weit überragend, stand ein Mann mit einem auf der Brust
offenen Hemd, der seinen rötlichen Spitzbart mit den Fingern drückte und
drehte. »Josef K.?« fragte der Aufseher, vielleicht nur um K.s zerstreute
Blicke auf sich zu lenken. K. nickte. »Sie sind durch die Vorgänge des
heutigen Morgens wohl sehr überrascht?« fragte der Aufseher und verschob
dabei mit beiden Händen die wenigen Gegenstände, die auf dem Nachttischchen
lagen, die Kerze mit Zündhölzchen, ein Buch und ein Nadelkissen, als seien
es Gegenstände, die er zur Verhandlung benötige. »Gewiss«, sagte K., und das
Wohlgefühl, endlich einem vernünftigen Menschen gegenüberzustehen
und über
seine Angelegenheit mit ihm sprechen zu können, ergriff ihn. »Gewiss, ich
bin überrascht, aber
ich bin keineswegs sehr überrascht.« »Nicht sehr
überrascht?« fragte der Aufseher und stellte nun die Kerze in die Mitte des
Tischchens, während er die anderen Sachen um sie gruppierte. »Sie
missverstehen mich vielleicht«, beeilte sich K. zu bemerken. »Ich meine« -
hier unterbrach sich K. und sah sich nach einem Sessel um.
»Ich kann mich doch setzen?«
fragte er. »Es ist nicht üblich«, antwortete der Aufseher. »Ich meine«,
sagte nun K. ohne weitere Pause, »ich bin allerdings sehr überrascht, aber
man ist, wenn man dreißig Jahre auf der Welt ist und sich allein hat
durchschlagen müssen, wie es mir beschieden war, gegen Überraschungen
abgehärtet und nimmt sie nicht zu schwer. Besonders die heutige nicht.«
»Warum besonders die heutige nicht?« »Ich will nicht sagen, dass ich das
Ganze für einen Spaß ansehe, dafür scheinen mir die Veranstaltungen, die
gemacht wurden, doch zu umfangreich. Es müssten alle Mitglieder der Pension
daran beteiligt sein und auch Sie alle, das ginge über die Grenzen eines
Spaßes. Ich will also nicht sagen, dass es ein Spaß ist.« »Ganz richtig«,
sagte der Aufseher und
sah nach, wie viel Zündhölzchen in der
Zündhölzchenschachtel waren.
»Andererseits aber«, fuhr K.
fort und wandte sich hierbei an alle und hätte gern sogar die drei bei den
Photographien sich zugewendet, »andererseits aber kann
die Sache auch nicht
viel Wichtigkeit haben. Ich
folgere das daraus, dass ich angeklagt bin, aber
nicht die geringste Schuld auffinden kann, wegen deren man mich anklagen
könnte. Aber auch das ist
nebensächlich, die
Hauptfrage ist, von wem bin ich angeklagt? Welche Behörde
führt das Verfahren? Sind Sie Beamte? Keiner hat eine Uniform, wenn man
nicht Ihr Kleid« - hier wandte er sich an Franz - »eine Uniform nennen will,
aber es ist doch eher ein Reiseanzug. In diesen
[→HL 13] Fragen
verlange ich
Klarheit, und ich
bin überzeugt, dass wir nach dieser Klarstellung
voneinander den herzlichsten Abschied werden nehmen können.« Der Aufseher
schlug die Zündhölzchenschachtel auf den Tisch nieder. »Sie befinden sich in
einem großen Irrtum«, sagte er. »Diese Herren hier und ich sind
für Ihre
Angelegenheit vollständig nebensächlich, ja
wir wissen sogar von ihr fast
nichts. Wir könnten die regelrechtesten Uniformen tragen, und Ihre Sache
würde um nichts schlechter stehen.
Ich kann Ihnen auch durchaus nicht sagen,
dass Sie angeklagt sind oder vielmehr, ich weiß nicht, ob Sie es sind.
Sie
sind verhaftet, das ist richtig, mehr weiß ich nicht. Vielleicht haben die
Wächter etwas anderes geschwätzt, dann ist es eben nur Geschwätz gewesen.
Wenn ich nun aber auch Ihre Fragen nicht beantworte, so kann ich Ihnen doch
raten, denken Sie weniger an uns und an das, was mit Ihnen geschehen wird,
denken Sie lieber mehr an sich. Und
machen Sie keinen solchen Lärm mit dem
Gefühl Ihrer Unschuld, es stört den nicht gerade schlechten Eindruck, den
Sie im übrigen machen.
Auch sollten Sie überhaupt im Reden zurückhaltender
sein, fast alles, was Sie vorhin gesagt haben, hätte man auch, wenn Sie nur
ein paar Worte gesagt hätten, Ihrem Verhalten entnehmen können, außerdem war
es nichts für Sie übermäßig Günstiges.«
K. starrte den Aufseher an.
Schulmäßige Lehren bekam er hier von einem vielleicht jüngeren Menschen? Für
seine Offenheit wurde er mit einer Rüge bestraft? Und über den Grund seiner
Verhaftung und über deren Auftraggeber erfuhr er nichts? Er
geriet in eine
gewisse Aufregung, ging auf und ab, woran ihn niemand hinderte, schob seine
Manschetten zurück, befühlte die Brust, strich sein Haar zurecht, kam an den
drei Herren vorüber, sagte: »Es ist ja sinnlos«, worauf sich diese zu ihm
umdrehten und ihn entgegenkommend, aber ernst ansahen und machte endlich
wieder vor dem Tisch des Aufsehers halt. »Der Staatsanwalt Hasterer ist mein
guter Freund«, sagte er, »kann ich ihm telephonieren?«, »Gewiss«, sagte der
Aufseher, »aber ich weiß nicht, welchen Sinn das haben sollte, es müsste
denn sein, dass Sie irgendeine private Angelegenheit mit ihm zu besprechen
haben.« »Welchen Sinn?« rief K., mehr bestürzt als geärgert. »Wer sind Sie
denn? Sie wollen einen Sinn und führen dieses Sinnloseste auf, das es gibt?
Ist es nicht zum Steinerweichen? Die Herren haben mich zuerst überfallen,
und jetzt sitzen oder stehen sie hier herum und lassen mich vor Ihnen die
Hohe Schule reiten. Welchen Sinn es hätte, an einen Staatsanwalt zu telephonieren, wenn ich angeblich verhaftet bin?
Gut, ich werde nicht telephonieren.« »Aber doch«, sagte der Aufseher und streckte die Hand zum
Vorzimmer aus, wo das Telephon war, »bit-[→HL
14]te, telephonieren Sie doch.«
»Nein,
ich will nicht mehr«, sagte K. und
ging zum Fenster.
Drüben war noch die
Gesellschaft beim Fenster und
schien nur jetzt dadurch, dass
K. ans Fenster
herangetreten war, in der Ruhe des Zuschauens ein wenig gestört.
Die Alten
wollten sich erheben, aber der Mann hinter ihnen beruhigte sie. »Dort sind
auch solche Zuschauer«, rief K. ganz laut dem Aufseher zu und zeigte mit dem
Zeigefinger hinaus. »Weg von dort«, rief er dann hinüber.
Die drei wichen
auch sofort ein paar Schritte zurück, die beiden Alten sogar noch hinter den
Mann, der sie mit seinem breiten Körper deckte und,
nach seinen
Mundbewegungen zu schließen, irgend etwas auf die Entfernung hin
Unverständliches sagte.
Ganz aber verschwanden sie nicht, sondern
schienen
auf den Augenblick zu warten, in dem sie sich unbemerkt wieder dem Fenster
nähern könnten. »Zudringliche, rücksichtslose Leute!« sagte K., als er sich
ins Zimmer zurückwendete. Der Aufseher stimmte ihm
möglicherweise zu, wie K.
mit einem Seitenblick zu erkennen
glaubte. Aber es war ebenso gut möglich,
dass er gar nicht zugehört hatte, denn er hatte eine Hand fest auf den Tisch
gedrückt und schien die Finger ihrer Länge nach zu vergleichen. Die zwei
Wächter saßen auf einem mit einer Schmuckdecke verhüllten Koffer und rieben
ihre Knie. Die drei jungen Leute hatten die Hände in die Hüften gelegt und
sahen ziellos herum.
Es war still wie in irgendeinem vergessenen Bureau. »Nun,
meine Herren«, rief K., es
schien ihm einen Augenblick lang, als trage er
alle auf seinen Schultern, »Ihrem Aussehen nach zu schließen, dürfte meine
Angelegenheit beendet sein. Ich bin der Ansicht, dass es am besten ist, über
die Berechtigung oder Nichtberechtigung Ihres Vorgehens nicht mehr
nachzudenken und der Sache durch einen gegenseitigen Händedruck einen
versöhnlichen Abschluss zu geben. Wenn auch Sie meiner Ansicht sind, dann
bitte -« und er
trat an den Tisch des Aufsehers hin und reichte ihm die
Hand. Der Aufseher hob die Augen, nagte an den Lippen und sah auf K.s
ausgestreckte Hand; noch immer
glaubte K., der Aufseher werde einschlagen.
Dieser aber stand auf, nahm einen harten, runden Hut, der auf Fräulein
Bürstners Bett lag, und setzte sich ihn vorsichtig mit beiden Händen auf,
wie man es bei der Anprobe neuer Hüte tut. »Wie einfach Ihnen alles
scheint!« sagte er dabei zu K., »wir sollten der Sache einen versöhnlichen
Abschluss geben, meinten Sie? Nein, nein, das geht wirklich nicht. Womit ich
andererseits durchaus nicht sagen will, dass Sie verzweifeln sollen. Nein, warum denn? Sie sind nur
verhaftet, nichts weiter. Das hatte ich Ihnen mitzuteilen, habe es getan und
habe auch gesehen, wie Sie es aufgenommen haben.
Damit ist es für heute genug
und wir
[→HL 15]
können uns verabschieden, allerdings nur vorläufig.
Sie werden wohl
jetzt in die Bank gehen wollen?« »In die Bank?« fragte K., »ich dachte, ich
wäre verhaftet.« K. fragte mit einem gewissen Trotz, denn obwohl sein
Handschlag nicht angenommen worden war, fühlte er sich, insbesondere seitdem
der Aufseher aufgestanden war, immer unabhängiger von allen diesen Leuten.
Er spielte mit ihnen.
Er hatte die
Absicht, falls sie weggehen sollten, bis
zum Haustor nachzulaufen und ihnen seine Verhaftung anzubieten. Darum
wiederholte er auch: »Wie kann ich denn in die Bank gehen, da ich verhaftet
bin?« »Ach so«, sagte der Aufseher, der schon bei der Tür war, »Sie haben
mich missverstanden. Sie sind verhaftet, Gewiss, aber das soll Sie nicht
hindern, Ihren Beruf zu erfüllen. Sie sollen auch in Ihrer gewöhnlichen
Lebensweise nicht gehindert sein.« »Dann ist das Verhaftetsein nicht sehr
schlimm«, sagte K. und ging nahe an den Aufseher heran. »Ich meinte es
niemals anders«, sagte dieser. »Es scheint aber dann nicht einmal die
Mitteilung der Verhaftung sehr notwendig gewesen zu sein«, sagte K. und ging
noch näher. Auch die anderen hatten sich genähert.
Alle waren jetzt auf
einem engen Raum bei der Tür versammelt. »Es war meine Pflicht«, sagte der
Aufseher. »Eine dumme Pflicht«, sagte K. unnachgiebig. »Mag sein«,
antwortete der Aufseher, »aber wir wollen mit solchen Reden nicht unsere
Zeit verlieren. Ich hatte angenommen, dass Sie in die Bank gehen wollen. Da
Sie auf alle Worte aufpassen, füge ich hinzu: ich zwinge Sie nicht, in die
Bank zu gehen, ich hatte nur angenommen, dass Sie es wollen. Und um Ihnen
das zu erleichtern und Ihre Ankunft in der Bank möglichst unauffällig zu
machen, habe ich diese drei Herren, Ihre Kollegen, hier zu Ihrer Verfügung
gestellt.« »Wie?« rief K. und staunte die drei an.
Diese so
uncharakteristischen, blutarmen, jungen Leute, die er immer noch nur als
Gruppe bei den Photographien in der Erinnerung hatte, waren tatsächlich
Beamte aus seiner Bank, nicht Kollegen, das war zu viel gesagt und
bewies
eine Lücke in der Allwissenheit des Aufsehers, aber
untergeordnete
Beamte
aus der Bank waren es allerdings.
Wie hatte K. das übersehen können? Wie
hatte er doch hingenommen sein müssen von dem Aufseher und den Wächtern, um
diese drei nicht zu erkennen! Den steifen, die Hände schwingenden
Rabensteiner, den blonden Kullich mit den tiefliegenden Augen und Kaminer
mit dem unausstehlichen, durch eine chronische Muskelzerrung bewirkten
Lächeln. »Guten Morgen«, sagte K. nach einem Weilchen und reichte den sich
korrekt verbeugenden Herren die Hand. »Ich habe Sie gar nicht erkannt. Nun
werden wir also an die Arbeit gehen, nicht?« Die Herren nickten lachend und
eifrig, als [→HL 16] hätten sie die ganze Zeit über darauf gewartet, nur als K.
seinen Hut vermisste, der in seinem Zimmer liegen geblieben war, liefen sie
sämtlich hintereinander, ihn holen, was immerhin auf eine gewisse
Verlegenheit schließen ließ. K. stand still und sah ihnen durch die zwei
offenen Türen nach, der letzte war natürlich der gleichgültige Rabensteiner,
der bloß einen eleganten Trab angeschlagen hatte. Kaminer überreichte den Hut,
und K. musste sich, wie dies übrigens auch öfters in der Bank nötig war,
ausdrücklich sagen, dass
Kaminers Lächeln nicht Absicht war, ja dass er
überhaupt absichtlich nicht lächeln konnte.
Im Vorzimmer öffnete dann
Frau Grubach, die
gar nicht sehr schuldbewusst aussah, der ganzen Gesellschaft
die Wohnungstür, und K. sah, wie so oft, auf
ihr Schürzenband nieder, das so
unnötig tief in ihren
mächtigen Leib einschnitt.
Unten entschloss sich K.,
die Uhr in der Hand, ein Automobil zu nehmen, um die schon halbstündige
Verspätung nicht unnötig zu vergrößern.
Kaminer lief zur Ecke, um den
Wagen zu holen, die zwei anderen versuchten
offensichtlich, K. zu
zerstreuen, als plötzlich Kullich auf das gegenüberliegende Haustor zeigte,
in dem eben der
große Mann mit dem blonden Spitzbart erschien und, im ersten
Augenblick ein wenig verlegen darüber, dass er sich jetzt in seiner ganzen
Größe zeigte, zur Wand zurücktrat und sich anlehnte.
Die Alten waren wohl
noch auf der Treppe.
K. ärgerte sich über Kullich, dass dieser auf den Mann
aufmerksam machte, den er selbst schon früher gesehen, ja den er sogar
erwartet hatte. »Schauen Sie nicht hin!« stieß er hervor,
ohne zu bemerken,
wie auffallend eine solche Redeweise gegenüber selbständigen Männern war. Es
war aber auch keine Erklärung nötig, denn gerade kam das Automobil, man
setzte sich und fuhr los.
Da erinnerte sich K., dass er das Weggehen des
Aufsehers und der Wächter gar nicht bemerkt hatte, der Aufseher hatte ihm
die drei Beamten verdeckt und nun wieder die Beamten den Aufseher. Viel
Geistesgegenwart bewies das nicht, und K. nahm sich vor, sich in dieser
Hinsicht genauer zu beobachten. Doch drehte er sich noch
unwillkürlich um
und beugte sich über das Hinterdeck des Automobils vor, um
möglicherweise
den Aufseher und die Wächter noch zu sehen. Aber gleich wendete er sich
wieder zurück und lehnte sich bequem in die Wagenecke, ohne auch nur den
Versuch gemacht zu haben, jemanden zu suchen.
Obwohl es nicht den Anschein
hatte, hätte er gerade jetzt Zuspruch nötig gehabt, aber nun
schienen die
Herren ermüdet, Rabensteiner sah rechts aus dem Wagen, Kullich links, und
nur Kaminer stand mit seinem Grinsen zur Verfügung, über das einen Spaß zu
machen leider die Menschlichkeit verbot.
[→HL 17]
(HL =Hamburger Lesehefte
(2008), S. 5-16)
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