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"Also,
Leute, wie immer", sagte Frau Lutz nach einem kurzen hingenuschelten
Morgengruß, "klar?" Sie wandte sich zur Tafel um. "Ja, ja,
Betten an die
Wand!", konterte Christian, der ganz hinten saß und damit die Lacher auf
seine Seite zog.
"Das
geht alles von eurer Zeit ab", gab es dann von vorne zu
hören.
Für einen Moment glaubte Yvonne, ihr könnte der böse Blick der Lutz gelten.
Bei genauerem Hinsehen freilich bemerkte sie, dass er haarscharf über sie hinwegging und den
Richtigen, nämlich Benny, der genau hinter ihr saß, traf und schnell wieder zum
Schweigen brachte. Sie wusste wie jeder in der Klasse, dass
die Lutz meinte, was sie sagte. Dann würde es bei ihr, das war vorauszusehen,
nach
hinten raus wieder eng werden. Manchmal jedenfalls. Physik war eh
nicht ihre Sache, die meisten
anderen Fächer, von Religion einmal abgesehen,
aber, wenn sie ehrlich war,
auch nicht.
Jetzt, bevor es losging, schaute sie sich noch einmal um,
versuchte,
irgendwie das flaue Gefühl im Magen loszuwerden, das ihr immer vor
Klassenarbeiten, in Mathe und Physik natürlich am stärksten, das Leben
schwer machte. Und während vorne an der Tafel die obligatorischen Dinge wie
Datum, "Arbeitszeit 90 Minuten", "Abgabe 11.15 Uhr" und "Handys und Smartphones
bitte vorne deponieren!" zu lesen war, stellte sie, das hatte sie beinahe
vergessen, ihr iPhone unter dem Tisch noch schnell auf stumm, ehe sie ein
paar Augenblicke später die Klausur vor sich liegen hatte.
"Gott, nee, das
ist ja echt assi", rutschte ihr schon beim raschen Überfliegen der ersten
Aufgabe heraus.
"Das will ich nicht gehört haben, Yvonne, ja?",
donnerte die
Lutz, der man als junger Lehrerin -
sie war in ihrem ersten Jahr an der
Schule - eine solche Lautstärke fast nicht zugetraut hätte.
"Ich hab doch
gar nichts gemacht, ey!", gab Yvonne trotzig zurück und musste sich dabei noch
gefallen lassen, dass Cheatah aus der ersten Reihe, der sich umgedreht
hatte, sie noch dreist anschaute.
"Was guckst du so blöd, Affe?", briet
sie ihm dafür eins über und handelte sich mit einem
Yvonne–jetzt–reichts–aber–Wirklich eine der von Frau Lutz "Privataudienz" genannten, eher lästigen,
denn irgendwie wirksamen Standpauken nach der Stunde ein.
Cheatah, eigentlich hieß er ja Dimitrij, war mit seinen Eltern vor zwei
Jahren aus Armenien gekommen.
Erst neulich hatte er noch das Kopftuch
verteidigt, das seine Schwester, die eine Klasse darunter war, in der
Schule trug. Für so was hatte Yvonne keinerlei Verständnis und
mit Russen,
wie sie immer wieder betonte, wollte sie schon auch gar nichts zu tun haben.
Dimi, wie ihn aber nur Özgül aus der Klasse nannte, war für sie ein
Computerfreak der übelsten Sorte, so ein
Dauer–World–of–Warcraft–Gamer, der
nicht einmal auf Facebook war.
Mit PCs und dem ganzen Drumherum kannte er sich aber aus wie kein anderer,
dabei hatte er noch nicht einmal ein Smartphone. Aber was viel schlimmer war, Cheatah wollte
sogar in echt überhaupt nicht teilen, wenn man mal von ihm abschreiben wollte. Dabei konnte er, das war für
sie völlig klar, doch auch nicht ohne zu spicken eine gute Note nach der
anderen schreiben. Sharen, das kam für ihn, der eine gute Note
nach der anderen schrieb, überhaupt nicht in Frage. Ja,
Yvonne erinnerte sich
genau daran, dass sie einmal, nachdem sie von der Lutz schon
wegen ein paar
weniger Worte mit ihrer Banknachbarin verwarnt worden war, nach vorne in die
erste Reihe, auf die Strafbank,
wo man dem Untergang geweiht war, zitiert
und direkt neben Cheatah platziert
worden war. Der hatte,
das muss man sich
erst mal reinziehen, dann nichts anderes zu tun, als
seinen Ordner aufrecht
in die Mitte der Bank zu stellen, um ungestört dem nachgehen zu können,
worin er es ganz offensichtlich zur Perfektion gebracht haben musste: Das Spicken
mit allen nur erdenklichen Methoden.
Beim Cheaten war Dimitrij für sie der
größte. Den zweiten Teil des Spitznamens, den sie ihm verpasste, lieferte
ein Schimpanse namens Cheetah hinzu, den Yvonne aus den
Tarzan-Filmen
kannte, die sie sich hin und wieder aus dem DVD-Regal ihrer Eltern holte.
Auch die zweite Aufgabe, das sah Yvonne auf einen Blick,
konnte sie
vergessen: "Werten Sie mit Hilfe des Taschenrechners die
Wertetabelle aus,
indem Sie mit der Regression PwrReg den
Funktionsterm für E in Abhängigkeit
von r bestimmen." Ein Blick zu Andrea, die auch schon die Schultern
zuckte, genügte, mit ihrem Problem saß Yvonne wenigstens nicht alleine dar.
Frau Lutz stand noch immer vorne und tat so, als schaue sie ins Leere.
Alles
Verstellung, denn jeder wusste, dass sie mit Spickern, sie nannte das immer
"Täuschungsversuch", kurzen Prozess machte.
Und Cheatah?
Der hatte die Ruhe
weg. Er schrieb ohnehin nie sofort drauflos,
sondern erst wenn die Luft rein
war. Aber Frau Lutz blieb vorne wie angewurzelt stehen, dieses Mal
hatte er sich verzockt.
Yvonne musste einfach grinsen.
Die Platten eines Plattenkondensators haben jede eine Fläche von 1000
cm2. An die Platten wird während des gesamten Versuchs eine Spannung
angelegt, die dazu führt, dass sich auf jeder Platte die Ladung Q=1·10-7 C
befindet. Ein Plättchen der Fläche 100 cm2 wird mit seiner gesamten Fläche
an eine Platte gehalten und dann parallel zu den Platten zwischen den
Platten aufgehängt. Berechnen Sie die Kraft, die auf das Plättchen wirkt.
Ein Was bitte?
Vor ihr hatten Francesco, Amelie und die anderen schon mit dem Schreiben
angefangen,
nur Cheatah nicht, der wohl immer noch auf seine Stunde wartete.
Aufgabe 3, Yvonne brauchte nicht viel weiter zu lesen, das Wort
Plattenkondensator, das schon an dritter Stelle kam, machte ihre
Hoffnungen, hier vielleicht einen Punkt machen zu können, auf einen Schlag
zunichte. Jetzt waren es nur noch zwei.
Wie war noch gleich der Trick mit
der Colaflasche, deren Etikett sich so großartig als Spicker präparieren
ließ? Ein paar Tage zuvor hatte sie das noch im Internet gelesen.
Egal.
Vorne nahm Cheatah einen langen Schluck aus der Flasche. Hinter ihr
wechselte Benny offenbar die Patrone, sein
Standardtrick, um einen Blick ins
Mäppchen werfen zu können, und links, zwei Bänke weiter, schob
Marina ihren
Rock hoch. "Aber hallo!", dachte sie, als sich ihr Blick mit dem der Lutz traf.
Jetzt war sie ins Visier geraten,
denn so ein Blick verrät eben alles. Cheatah, da vorne,
schaute nie auf, sondern tat immer konzentriert.
Höchstens, dass er, wie gerade wieder,
betont lässig seinen Bleistift
nachspitzte, und das Geräusch einfach wirken ließ. Darin war er
Großmeister,
wusste er doch offenbar genau, dass das immer
Eindruck machte, weil es wohlüberlegte
Schreibbereitschaft signalisierte.
Weiter: Es gibt verschiedene Nachweisgeräte für
radioaktive Strahlen, mit denen man unterschiedliche Eigenschaften messen
kann. Wofür eignen sich folgende Geräte besonders?
Dosimeterplakette,
Geiger-Müller-Zählrohr, Nebelkammer, Ionisationskammer.
Yvonne brauchte
Luft.
"Darf ich mal das Fenster aufmachen?", fragte sie und legte ihren
Kugelschreiber
beiseite.
"Bitte, nur zu!"
"Mir ist es aber zu kalt!",
memmte Pia.
Yvonne war gerade am Fenster, als sie das Brummen irgendwo hinter sich
hörte. Als sie sich umdrehte, war die Lutz schon dahingeeilt und hielt
Yvonnes Handy hoch in die Luft. "Mist, dieser blöde Vibrationsalarm", dachte Yvonne.
Bevor die Lutz ihre öffentliche Hinrichtung zelebrierte, sagte sie ihr mitten ins Gesicht: "Ich wollte eh gerade
abgeben", und grinste, als ihr die Klassenarbeit abgenommen wurde.
Den Rest der Zeit stand die Lutz hinten und
Cheatah fing plötzlich an loszuschreiben.
Yvonne brauchte danach einige Zeit, bis sie sich von dieser
Blamage wieder
erholte.
....
Schlussvarianten:
1.
Nach der Schule passte sie Cheatah ab. Es fiel ihr nicht leicht, sich zu
entschuldigen - für den Affen. Aber Dimtrij winkte ab. Wusste er doch
längst, dass es um viel mehr ging. "Und, was ist deine Masche?" wollte
sie wissen.
Keine Antwort, nur ein verständnisloser Blick und Achselzucken.
"Sag schon!"
Cheatah war schon ein paar Meter weg. Dann blieb er stehen und drehte
sich um. Sein Blick war finster, fand sie.
"Russentrick Lernen."
2.
Am Nachmittag ging sie auf Facebook. Auf ihrer Pinnwand war ein
Link gepostet, der sie direkt zu einem Bild führte, das, wie sich schnell
herausstellte, die ganze Schule schon kannte.
Es zeigte zwei Affen, die sich
paarten. Auf ihre Köpfe waren die
Gesichter von Yvonne und Cheatah
montiert.
3.
Die Privataudienz war kurz und schmerzlos. Letzte Ermahnung,
nicht–noch–eimal,
Wenn–das–so–weitergeht–wird–es–noch–schlimm–enden–Wortkaskaden und ein
Natürlich–ist–das–heute–eine–Sechs-Fazit durch die Lutz. Alles halb so
schlimm.
Viel schlimmer, dass sie es ausgerechnet Cheatah ermöglicht hatte,
wieder so durchzukommen. Das musste anders werden, ganz anders. Sie würde ihm
schon noch auf die Schliche kommen, dem Russen.
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
04.07.2024