Das Geschehen, in das sich der Leser
zu Beginn in Johannes
Bobrowskis »Brief aus
Amerika« durch die personale Erzählhaltung
und den unvermittelten Beginn distanzlos mitten hinein gestellt sieht,
trägt von Anfang an groteske, ja trotz der Helligkeit des gleißenden
Sonnenlichts schaurig-gespenstische Züge. Eine alte Frau tanzt am
helllichten Tag um ein Apfelbäumchen im Garten ihres Bauernhofes und
fordert mit ihrem refrainartig vorgetragenen Gesang die Sonne auf, ihre
weißen Arme zu "verbrennen". Ihr Verhalten, das - sieht man von
dem Inhalt ihres Gesanges ab - eher einem Kind, als einer alten Frau
ansteht, steigert sich durch weitere Handlungen (Fortschleudern der
Holzpantinen und Erhöhung der Geschwindigkeit des Drehens beim Tanzen),
ohne aber den Eindruck von einer ausgelassenen Fröhlichkeit zu
hinterlassen.
Das Verhalten der alten Frau
wirkt grotesk und ihr Verhalten gewinnt den Charakter eines
seltsamen Rituals, das durch die refrainartige Wiederholung der
Aufforderung: "Brenn mich, brenn mich, brenn mich" zu Beginn und am
Ende des ersten Abschnitts wie der gestische Vollzug eines
Zauberspruches erscheinen muss, bei dem die "liebe Sonne" als
personifizierter Adressat ihrer verbalen Äußerungen fungiert.
In
narratorialer Perspektive, der Ortwechsel, der dabei vollzogen wird,
durchbricht die personale Perspektive des Beginns, wird im nächsten
Abschnitt von einem Brief erzählt, den der Sohn namens Jons seiner
alten Mutter geschrieben hat. Mit drei kurzen Hauptsätzen, darunter
eine Ellipse ("Aus Amerika"), wird durch den Doppelpunkt hinter dem
Satz "Da steht zu lesen" der Brief vom Erzähler als eine Art
Redebericht in einem längeren Auszug ("Der Brief ist noch länger.")
zitiert. In dem Brief teilt der Sohn seiner Mutter mit, dass er mit
seiner Frau Alice nicht zu Besuch kommen werde. Zugleich versucht er,
ihr seine Beweggründe für diese Entscheidung zu vermitteln.
Der Beginn des
Briefes wirkt trotz der intimen und emotionalen Anrede ("Mein liebe
Mutter") zunächst geschäftsmäßig und nimmt ohne Umschweife vorweg,
worum es geht. Die Entscheidung ist gefallen, daran, so spürt man
als Leser sofort heraus, ist nicht mehr zu rütteln. Jons spricht
nicht um den Brei herum, wie man redensartlich sagt, sondern kommt
direkt zur Sache. Und doch zeigen seine nächsten Sätze, mit denen er
die Diskussionen mit seiner Frau Alice über die Absage des Besuches
wiedergibt, dass ihm die Entscheidung offenbar nicht leicht gefallen
ist. Ihr gegenüber hat er geltend gemacht, dass es bei der Reise ja
nur um ein paar Tage gehe. Er will damit offenbar den im Text aber
nicht explizit ausgeführten Einwand seiner Frau abwehren, sie
könnten das gerade jetzt so florierende Geschäft, das ihnen ihr
Vater wohl unlängst überschrieben hat, wegen der Reise nicht längere
Zeit schließen. Ebenso verhallen auch seine mit der Sentenz "Ehre
Vater und Mutter" ausgedrückten Gewissensbisse, die er sich wohl
auch deshalb macht, weil er seinen Vater vor dessen Tod nicht mehr zu
Gesicht bekommen hat ("und wenn der Vater auch gestorben ist, das
Grab ist da"). Um so mehr sieht er sich, soweit man den Brief
überhaupt als authentische und "ehrliche" Selbstkundgabe lesen darf,
in der moralischen Pflicht, dies bei seiner alten Mutter, die "weil
alle von uns weg sind" allein zurückgeblieben ist, nicht auch noch
zu versäumen. Ihm ist klar, dass sie seine Mutter entweder jetzt
oder nie mehr besuchen werden. Die Rechtfertigung, die er für seine
Besuchsabsage liefert, stützt sich auf das, was angeblich seine Frau
Alice in diesem Zusammenhang zu ihm gesagt hat und deren
Ausführungen er letzten Endes explizit zustimmt.
Alice, die offenbar ihre
Schwiegermutter noch nie zu Gesicht bekommen hat, da sie nur von
ihrem Ehemann, den sie selbst John nennt, gehört hat, dass es "dort"
schön sei, hält dem Wunsch ihres Mannes, seine Mutter zu besuchen,
verschiedene Argumente entgegen, die im Brief in Form einer längeren
Abfolge von Haupt- und Nebensätzen, die jeweils mit Komma getrennt
und mit der Konjunktion "und" asyndetisch aneinandergereiht werden,
dargeboten werden.
Jons zitiert in seinem Brief angeblich wörtlich, was sie zu ihm
gesagt hat, leitet die direkte Redewiedergabe mit einem verbum
dicendi und einem Doppelpunkt ein, benutzt aber keine
Anführungszeichen, sondern markiert deren Ende mit dem
rückverweisenden Hauptsatz "Das sagt meine Frau." Wie ernst es
seiner Frau mit dem, was sie offenbar zu sagen hatte, war, zeigt,
dass Jons ihre intensivierende Aufforderung, er solle ihr mal
zuhören, unmittelbar wiedergibt. Zugleich entlastet er damit sich selbst.
Das erste
Argument, das Alice vorbringt, beinhaltet im Wesentlichen, dass sie
Jons romantisierende Vorstellungen von seinem früheren Leben
vorhält, das er durch seine Auswanderung und den Aufbau einer neuen
Existenz in Amerika eigentlich hinter sich gelassen habe. Im Hier und Jetzt
ihres gemeinsamen Lebens ist kein Platz mehr für das Dort und
Früher. Amerika und vor allem das Geschäft, das beide von dem Vater von Alice
überschrieben bekommen haben und das offenbar im Moment gut
floriert, ist nicht nur die alles bestimmende Gegenwart ihres
Handelns, sondern auch ihr ethisch-moralischer Horizont. Apodiktisch
stellt sie als zweites Argument in den Raum, der Mensch sei jung oder alt und daher
könnten junge und alte Menschen ihre jeweilige Lebenssituation nicht
verstehen: "der junge Mensch weiß nicht, wie es sein wird, wenn er
alt ist, und der alte Mensch weiß nicht, wie es in der Jugend war."
Indem sie einen unüberbrückbaren Gegensatz von Jung und Alt
postuliert, der sich rational über die im Spruch "ehre Vater und
Mutter" zugrundeliegende traditionelle Moral stellt und das Geschäft an die erste
Stelle setzt, zeigt sie auch die Aushöhlung moralischer
Wertorientierungen in der auf den eigenen Profit ausgerichteten
amerikanischen Gesellschaft.
Die sozialen
Bedingungen und Beziehungen, selbst die innerhalb der Familie, vor
allem aber die zwischen den Generationen, werden zum Hindernis des
eigenen Lebens bzw. der Vorstellungen, die man sich vom eigenen
Lebensglück macht. So wischt auch Jons seine zuvor noch ins Spiel
gebrachten Einwände mit dem knappen Satz "Sie hat Recht" vom Tisch,
dessen Prämissen weder abgewogen noch sonstwie reflektiert werden.
Es ist der gleiche geschäftsmäßige Ton, der daraus spricht, wie in
dem ersten Satz seines Briefes. Zugleich weist er aber auch darauf
hin, dass auch Alice ihn ermuntert habe, seine Mutter "herkommen" zu
lassen. Was das Angebot, das sie offenbar in einem vorangegangen
Brief seiner Mutter gemacht haben, umfasst, erwähnt der Brief nicht.
Ob es beinhaltete, dass Jons alte Mutter, die zu Hause
offensichtlich niemanden mehr hat, den Rest ihres Lebens bei ihrem
Sohn und ihrer Schwiegermutter in Amerika verbringen könne, lässt
sich aber plausibel ahnen, wenn man die Antwort der Mutter, auf die
Jons in seinem Brief Bezug nimmt, mit einbezieht. Sie hat ihm
nämlich offensichtlich erklärt, dass wenigstens sie "dort bleiben
muss, weil alle von uns weg sind." Was seine Mutter "dort" hält, ob
es einfach ihre Heimatverbundenheit, die Tatsache, dass "dort" ihr
Mann begraben und sie selbst nach ihrem Tode bestattet werden will,
alles das bleibt der Spekulation des Lesers überlassen, der aber
stets berücksichtigen muss, dass der Brief, soweit er als zitierte
Figurenrede gelesen werden kann, eine Art Binnenerzählung des Sohnes
darstellt, in dem er seine Sicht der Dinge darstellt und das, was
seine Frau gesagt hat und seine Mutter ihm geantwortet hat, aus
seiner eigenen Perspektive wiedergibt. Auch wenn der Sohn den Brief,
über dessen weiteren Inhalt der Leser nichts erfährt, am Ende mit
Jons unterschreibt, ist "John", wie er in Amerika von seiner Frau
genannt wird, der darin und daraus spricht. Mit dieser Namensfassade
maskiert, verschanzt er sich geradezu vor Anwürfen des eigenen
Gewissens und weist zugleich seiner im Brief nüchtern und irgendwie
gefühllos wirkenden Frau die Hauptverantwortung für eine
vorgeschürzt alternativlose Entscheidung zu. Was sie sagt, gilt,
denn sie bzw. ihr Vater haben dafür dafür gesorgt, dass er "hier
etwas geworden" ist.
Die Erzählung
fährt nach der Darstellung der Auszüge aus dem Brief des Sohnes
zunächst mit der Beschreibung der raum-zeitlichen Koordinaten fort,
in denen sich das Tanzen der alten Frau in ihrem Garten ereignet.
Die Fortsetzung des linearen Geschehens, das durch die in den
Ereignisablauf hineinmontierte Wiedergabe des Briefes,unterbrochen
worden ist, wird damit wieder aufgenommen und der Blick wieder auf
das Handeln der Frau gerichtet. Es liest sich wie eine Shot-List
schnell hintereinander folgender Kameraeinstellungen, die hart
gegeneinander geschnitten, einen blitzlichtartigen Eindruck über den
Ort und die Zeit des Geschehens vermitteln sollen, ehe die Kamera
wieder die tanzende Frau unter dem Apfelbäumchen fokussiert. Dabei
wirken die Raumelemente wie herbeierzählte Kulissen für die
insgesamt groteske Szenerie.
Ein weiteres
Mal, insgesamt wird der Satz in der Geschichte, drei Mal wiederholt,
wird vom Erzähler betont, dass es "heller Mittag" sei. Die Sonne
steht offenbar hoch am Himmel und hat damit auch die Strahlkraft, um
die Haut der alten Frau zu (ver-)brennen, sofern sie sich den
Strahlen über längere Zeit ungeschützt aussetzt. Das grotesk
wirkende Treiben der Frau findet draußen in der Öffentlichkeit
statt, könnte damit von jedermann beobachtet werden. Allerdings
liegt das nächste Gehöft ein Stück weit entfernt. Beobachter des
Geschehens gibt es damit wohl bestenfalls aus der Ferne, um die alte
Frau herum scheint niemand zu sein. So tanzt sie für sich allein.
Was der Erzähler über den Raum mitteilt, ist nüchtern und wirkt
extrem distanziert. In zunächst ein paar wenigen parataktisch
aneinandergereihten knappen Hauptsätzen werden das Haus, in dem die
alte Frau lebt, der Stall und der Garten erwähnt, die Gebäude ohne
jede Nuancierung allein mit der Angabe, dass sie "weiß" gestrichen
seien, beschrieben. Dass der Erzähler ebenso nüchtern zwei Mal davon
spricht, dass das Wetter "schön" sei, steht dabei in eindeutigem
Kontrast zu dem Geschehen, von dem der Leser erfährt. Alles zusammen
schafft damit den Eindruck einer ebenso grotesken Szenerie. Ein
langer Kameraschwenk, um im Bild der oben dargestellten
Kameratechnik beim Erzählen zu bleiben, sprachlich in Form einer
längeren asyndetischen mit der Konjunktion "und" verbundenen Reihung
gestaltet, situiert das Geschehen weiter, in dem es die ländliche
Umgebung des Hauses dem Leser quasi vor Augen führt. Ihren Abschluss
findet diese Beschreibung durch die Wiederholung der Aussagen "Es
ist schön. Und es ist heller Mittag.", die in ihrer Reihenfolge aber
umgedreht sind und damit fast wörtlich zu der Formulierung
zurückkehren, die schon im ersten Absatz verwendet worden ist.
Der
Eintönigkeit der Sprache entspricht das weiter fortgesetzte Tanzen
der alten Frau um das Apfelbäumchen, die ihre nackten Arme in
der Sonne schwenkt und sie Sonne geradezu weiter anfleht: "Liebe
Sonne, brenn mich, brenn mich". Über die Zeitdauer, über das sich
dieses Tun erstreckt, lässt der Erzähler den Leser im Unklaren,
ebenso wie darüber, ob die Sonnenstrahlen bewirken, was die alte
Frau herbeibeschwört. Aber auch über die erzählte Zeit der
Geschichte gibt der Text wenige Auskünfte. "Es ist heller Mittag",
als die Frau um das Bäumchen tanzt. Die Aussparung, die zwischen dem
Tanz draußen und ihrem weiteren Handeln in der Stube liegt ist nicht
zeitlich markiert. Trotz allem vermittelt der lediglich durch die
Darbietung des Briefes lineare Zeitablauf den Eindruck, dass es sich
um ein Geschehen handelt, das höchstens eine Stunde umfassen kann.
Der Leser, der
nach dem Lesen des ersten Absatzes dieses Verhalten zunächst nicht
plausibel deuten kann, kann aber bei seiner im Laufe der Lektüre
fortschreitenden Suchbewegung, diesem "verrückt" erscheinenden
Verhalten der alten Frau einen Sinn zu geben, hat dadurch dass, sich
seine epistemologische Position durch die zumindest teilweise
Kenntnis des Briefes verändert und kann seinen weiteren Leseprozess
mit der Hypothese strukturieren, dass das seltsames Tun der alten
Frau in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Brief des Sohnes
steht. Dabei stützt er seine Vermutung auf das vom Erzähler
präsentierte gestische Verhalten der Frau im Garten. Diese
Erzähltechnik, man hat sie auch als gestisches Erzählen (vgl.
Durzak
2002a, S.241) bezeichnet, die an dieser Stelle der Geschichte
bewusst auf Innensicht verzichtet, und dem Leser überlässt, wie er
das Geschehen deutet, ist Teil der vom Autor in den Text "verbauten"
impliziten Lesers, dessen Suche nach dem Sinn des Geschehens und
damit dessen Zutun angeregt wird.
Schnitt. Nach
einer zeitlichen Aussparung fährt der Erzähler damit fort, was die
alte Frau, die inzwischen wieder ins Haus zurückgegangen ist,
drinnen im Haus, in der "kühlen" Stube mit dem von der Decke
baumelnden Beifußbusch von der Decke und den Fliegen im Zimmer tut,
in dem auf dem Tisch der Brief von Jons liegt. Im Gegensatz zu
draußen, wo die Sonne in ihrem Zenit steht, ist es hier im Haus
"kühl". Was die alte Frau darin tut, wirkt wieder ganz "normal" und
es scheint, als habe sie mit dem Verlassen des Gartens und dem
Beenden ihres Tanzes, wieder in die "Normalität" und in einen
Zustand der Selbstkontrolle zurückgefunden. Was sie drinnen tut, tut
sie mit "kühlem" Kopf. Es ist das Ergebnis einer seit dem Eintreffen
des Briefs herangereiften und womöglich mit dem Tanz rituell
vollzogenen Entscheidung: Sich loszusagen von ihrem eigenen Sohn,
der sich mit seinem Brief, der Verteidigung seiner neuen Identität
als "John", de facto auch von ihr losgesagt hat.
Der personale
Erzähler dieses Abschnittes verringert die Distanz zum erzählten
Geschehen, das nun wieder eindeutig aus der Perspektive der alten
Frau präsentiert wird. Dies wird durch verschiedene sprachliche
Merkmale deutlich, wie z. B. die Verwendung des bestimmten Artikels
"der Spiegel" statt "ein Spiegel" oder die Verwendung des
Temporaladverbs "damals" statt "vor langer Zeit" oder des
Lokaldaverbs "hier" statt "an diesem Ort" . Letztere Formulierungen
wären Ausdruck einer narratorialen Perspektive.
In der Stube
faltet die alte Frau den Brief und bringt ihn zum Herd in der Küche.
Danach holt sie auch eine Fotografie, die ihren Sohn und seine Frau
in Amerika zeigt und die ihr bisher so wichtig gewesen ist, dass sie
das Bild bei jedem Blick in den Spiegel, an dessen Rand es zwischen
Rahmen und Glas fixiert war, sehen wollte. Sie schreibt auf
deren Rückseite die beiden Sätze, das sei ihr Sohn Jons und das sei
ihre Tochter Alice. Darunter setzt sie noch ihren Vornamen, Namen
und Geburtsnamen "Erdmuthe Gauptate geborene Atalle".
Was sie damit
vollzieht, hat den Charakter eines rituellen Aktes und schließt an
ihr seltsames Tanzen an, das rückblickend Teil an dieser Stelle des
Textes als Teil des Gesamtrituals der Lossagung der Mutter vom
eigenen Kind verstanden werden kann, auch wenn die einzelnen
rituellen Akte, das "Sonnentanz-Ritual" auf der einen und das
Verbrennungsritual des Briefes und der rückseitig beschrifteten
Fotografie auf andere Objekte zielen.
Indem sie die
Namen Jons und Alice und ihre familiäre Beziehung zu ihr als Sohn
bzw. Tochter auf die Rückseite schreibt, vollzieht sie den quasi den
zweiten Akt des Gesamtrituals und mit der Angabe ihres eigenen
Namens und Geburtsnamens ergänzt sie, was auf dem Bild schließlich
nicht zu sehen ist, nämlich sie selbst als Mutter in diesem
familiären Dreieck. Zugleich wirkt ihr Namenszug wie eine Art
Unterschrift, mit der sie den Vollzug des zweiten, aber im Text
nicht mehr ausgeführten Teil des Rituals, das Verbrennen des Briefes
und der Fotografie, vor dem eigenen Ich legitimiert.
Ehe sie daran
geht, Holz zu holen - mit diesem offenen Schluss endet die
Geschichte -, streicht sie sich die Ärmel ihrer Bluse, dessen Stoff
sie einmal von ihrem Sohn aus Amerika geschenkt bekommen hat, wieder
herunter. Dabei nimmt sie noch einmal wahr, dass es ein schöner
weißer Stoff ist, und für einen Moment scheint es, als ob sich ihr
damit Erinnerungen aufdrängen könnten, die dem Ritual der Lossagung
noch entgegenwirken könnten. Doch die alte Frau verfolgt weiterhin,
was sie sich vorgenommen hat.
Während sie die
beschriftete Fotografie durch die Luft schwenkt, gehen ihr
verschiedene Gedanken durch den Kopf, die als zitierte Gedankenrede
bzw. innerer Monolog den Erzähler hinter der Figur gänzlich
zurücktreten lassen. Die asyndetische Reihung, mit "und" verbunden,
verdeutlicht dabei die assoziativen Gedanken, die dem Leser ihr
Motiv für das "Sonnentanz-Ritual" verdeutlichen. Für ihren
verstorbenen Mann Annus seien die auffallend weißen Arme, die sie
vor dreißig Jahren gehabt habe, das gewesen, was er zu der Zeit, als
sie sich kennengelernt hätten, besonders attraktiv gefunden habe. Im
Rückblick bekommt ihr grotesk-beschwörendes Anrufen der Sonne
draußen bei ihrem Tanz um das Apfelbäumchen damit Sinn als
symbolischer Akt der Selbstzerstörung, der das an ihr verbrennen
soll, was einmal, selbst als rein äußerliches Zeichen, Teil ihres
Selbst geworden war.
Indem sie aber
nun die Blusenärmel herunterstreift und wieder glatt streicht, setzt
sie zumindest einen vorläufigen Schlusspunkt unter die mit dem
Brennritual vollzogene symbolische Selbstzerstörung. Stattdessen
bietet sie, deren eigenes Selbstwertgefühl als Mutter und Mensch
tief verletzt zu sein scheint, ihre ganze psychische Kraft gegen die
Verursacher auf, ihren Sohn und seine Frau Alice, von denen sie sich
mit ihrem Ritual für immer innerlich lossagen will.
Für einen
Moment geht ihr noch einmal der von Alice stammende Gedanke "Der
Mensch ist alt oder jung" durch den Kopf und führt sie zur
rhetorischen, aber anklagend klingenden Frage, was der alte Mensch
überhaupt noch brauche. Sie bringt damit zum Ausdruck, dass ihre
Bedürfnisse und die alter Menschen überhaupt für niemanden, nicht
einmal den eigenen Sohn, etwas zählen, zumal das Alter für alle die
gleiche unausweichliche Entwicklung nimmt, das Augenlicht werde
schwächer, die Nächte kürzer und der Aktionsradius immer kleiner und
am Ende gingen alle nur noch einen Weg, nämlich in den Tod.
Es ist ein
trauriges Bild des Alters, das ihr vor Augen steht, ein freudloses
Alter und in ihrem Fall durch die Auswanderung des Sohnes nach
Amerika und seine Weigerung sie (noch einmal) zu besuchen, ein
sozial isoliertes, einsames Alter mit einem einsamen Tod am Ende.
Dieses Bild, das ihr durch den Brief aus Amerika zur Gewissheit
wird, hat sie vor Augen, als sie die beschriftete Fotografie neben
den zusammengefalteten Brief auf den Herd legt, die Streichhölzer
richtet und dann mit den vor sich hingesprochenen Worten "werden wir
die Milch aufkochen" nach draußen geht. Wie sie zur "Tagesordnung"
übergeht, die Verbrennung von Brief und Fotografie als Mittel zum
Anzünden des Feuers im Herd verwendet, spiegelt gestisch den
geschäftsmäßigen Ton, den ihr Sohn bei seiner Lossagung von den
Bindungen an seine Mutter benutzt hat.
Wie es
weitergeht, lässt die Geschichte, wie es für Kurzgeschichten üblich
ist, offen, und doch ist der Leser durch die Vorbereitungen, die die
Frau trifft, irgendwie darauf festgelegt, dass die Frau Brief und
Foto zum Anzünden des Feuers verwenden wird, das sie in ihrem
Küchenherd zum Aufwärmen der Milch benötigt. Mit der Beschriftung
auf der Rückseite des Bildes, die ja auch ihren Namen trägt,
übergibt sie die familiäre Bindung, ihre mütterliche Beziehung zu
ihrem Sohn den Flammen und vollzieht damit symbolisch ihre
Lossagung. Dabei erscheint das vom Leser erwartete Verbrennen der
Bilder aber kein isolierter oder irgendwie noch von emotionaler
Unruhe und Aufregung gekennzeichneter Vorgang zu werden wie der
eingangs erzählte Tanz um das Apfelbäumchen. Was geschieht, und nur
das wird am Ende noch erzählt, verweist auf ein Leben danach: Mit
dem Vorhaben, Milch aufzukochen, geht die alte Frau zur Tagesordnung
über in einem Leben, das sie zwar wie schon zuvor seit dem Tod ihres
Mannes allein bewältigen muss, nun aber unter den schwierigen
psychischen Bedingungen ihrer nicht mehr zu überbückenden
Entfremdung von ihrem Sohn in der Weise auf sich nehmen muss, wie
sie es bei ihrer Reflexion über das Alter kommen sieht. Kann sein,
dass sie aber trotz allem wieder ein Apfelbäumchen pflanzt.
Bobrowski
zeichnet ein düsteres Bild der Beziehungen von Alt und Jung, das vor
allem die Seite der Alten in den Blick rückt, die in einer
Gesellschaft, in der die traditionellen Familienstrukturen sich
unter dem Einfluss zusehends individualisierter Lebensformen
auflösen, auf sich gestellt sind. Dabei ist, auch wenn die
Sympathien des Lesers gewiss auf der Seite der alten Frau liegen,
deren personale Perspektive den Text durchzieht, dieser
gesellschaftliche Prozess und die Konflikte, die sich daraus
ergeben, nicht mit Schuldzuweisungen an die jüngere Generation zu
lösen, die sich nicht genügend um die Älteren kümmert. Gegenseitige
Fürsorge zwischen den Generationen funktioniert nämlich auch dann
nicht mehr, wenn die Alten zu sehr an ihren traditionellen
Lebensformen festhalten, sich nicht auf die Jungen zubewegen, deren
Leben unter anderen Vorzeichen und an anderen Orten gelebt wird, als
die Alten es gewohnt sind. So liest sich die Geschichte letzten
Endes auch nicht als Geschichte eines Verrats des Sohnes an seiner
Mutter, sondern als Aufforderung an beide Generationen, ihre
Erwartungen aneinander rechtzeitig zu artikulieren und miteinander
Lösungen anzustreben, die berücksichtigen, was beide Generationen
"brauchen". Sie bleiben grundsätzlich aufeinander angewiesen und
auch die gegenseitige Lossagung, wie sie Bobrowskis Geschichte
thematisiert, sollte nicht als Modell für eine unüberbrückbare Kluft
von Alt und Jung gelesen werden, wohl aber als Warnung, welche
persönlichen und gesellschaftlichen Folgen es hat, wenn Alt und Jung
nicht verstehen, ihr Verhältnis unter den sich dauernd verändernden
sozialen und ökonomischen Bedingungen immer neu auszuhandeln und neu
zu justieren.