Akkord bleibt Mord -
auch in Neapel
Gert Egle (2020)
Bilanz ziehen im
Rückblick auf das eigene Leben angesichts des gewissen Todes ist ein
schwieriges Thema. Und so gibt es auch Redensarten, die sich damit
befassen.
Wie
man gelebt hat, so stirbt man auch lautet ist z. B.. eine von ihnen und
bringt unmissverständlich zum Ausdruck, dass die Einstellungen zum Leben
auch die Einstellungen über den Tod bestimmen. Neapel sehen und
sterben (»Vedi Napoli e poi muori!«) ist eine andere, die erstmals von
einem St. Galler Benediktinermönch auf seiner barocken Bildungsreise nach
Italien (»Grand
Tour) im Jahr 1700 in seinem Reisetagebuch in seinem ursprünglichen
Wortlaut (Magna bruocoli, vedi Napoli e
poi muori, ben’mio! – Broccoli essen, Neapel sehen, und dann
sterben, mein Lieber!) festgehalten hat. (vgl.
Erhart/Hueblin (Hg,) 2014). Und auch »Johann
Wolfgang von Goethe (1749-1832) erwähnt sie in seiner »"Italienischen
Reise" (1786-88), um sich weitere Worte über die vielfach beschriebene
Lage der Stadt und ihrer Herrlichkeiten zu sparen.(2.
März 1787) In seiner heute durchaus üblichen auch verkürzten Fassung als
Neapel sehen steht die Redewendung gemeinhin für den "Inbegriff des
Lebens, das Schönste, das Wichtigste, das man vor seinem Tod sehen will." (Pulver
2004, S.244)
Diesem Thema
widmet sich ▪
Kurt Marti
in seiner fast parabolisch wirkenden "Todesgeschichte" (ebd.,
S.243) ▪ "Neapel sehen",
die 1960 in seinem Sammelband "Dorfgeschichten" erschienen ist.
Erzählt wird dabei in
dem kurzen Prosatext von einem Arbeiter, der, nachdem sich erste
Anzeichen geringerer Leistungsfähigkeit im Alter zeigen, in seinem
zunächst aufs Abstellgleis geschoben und dann nach vierzig Jahren
Fabrikarbeit schwer krank wird. Infolge seiner Erkrankung wird er zu
Hause in seinem Haus in Sichtweite der Fabrik bettlägrig und kann
infolgedessen nur noch mit einem Blick durch Fenster an der Außenwelt
teilhaben. Doch durchs
Fenster sieht er immer auf die Bretterwand, die er am
Rand seines kleinen Gartens errichtet hat. Die Bretterwand, die schon lange steht,
verbaut ihm den Blick auf die
ihm verhasste Fabrik, in der er so lange gearbeitet hat. Zugleich grenzt
sie damit
seine Privatsphäre visuell von der ihm verhassten Arbeitswelt ab.
Ohne Hoffnung, dass sich an seinem
Gesundheitszustand noch irgendetwas ändern könne, verbringt er die
nächsten Wochen zu Hause, fühlt aber immer stärker die Enge seines
häuslichen Umfelds. In drei Schritten lässt er daraufhin Bretter aus der
von ihm errichteten Bretterwand entfernen und mit jedem Mal bekommt er
wieder einen größeren Ausschnitt beim Blick auf die Fabrik zu sehen. Am
Ende hat er wieder freie Sicht auf die Fabrik und ihre Nebengebäude und
kann auf die Entfernung das Treiben rund um seine ehemalige
Arbeitsstätte beobachten. Daraufhin findet er seine innere Ruhe und
stirbt ein paar Tage später.
Es sind die Erfahrungen
aus vierzig Jahren entfremdeter Arbeit in der Fabrik, an denen der
Erzähler im ersten Teil der in reinem Fließtext ohne jede
Absatzgliederung dargebotenen Geschichte den Leser an der Gefühlswelt
der Hauptfigur teilhaben lässt. Mit einer ganzen Reihe explizit
charakterisierender Beschreibungen auf der Erzählebene wird ein Mann
dargestellt, dessen Charakter einzig und allein auf sein Verhältnis zu
seinem Arbeitsleben und der Fabrik reduziert wird.
Wie bei einer
Kurzgeschichte üblich beginnt die Geschichte unvermittelt: Ein "Er" als
kataphorischer Verweis auf die später namenlos nur als der "Kranke"
bezeichnete Hauptfigur hat, als Rückwendung ohne genauere Zeitangabe
gestaltet, eine Bretterwand errichtet, welche "die Fabrik aus seinem
häuslichen Blickkreis" entfernt hat.
Das Personalpronomen
er, mit dem siebzehn und damit nahezu die Hälfte aller Sätze der
Geschichte in einer grammatisch parallel gestalteten
Stirnsatzkonstruktion mit Zweitstellung des Verbs eingeleitet werden,
wirkt wie ein stereotypes Stakkato der damit dargebotenen Gegenstände,
bindet den Leser aber auch immer, ohne ihn auf irgendwelche Abwege zu
führen und ihm dadurch auch Freiraum für eigene Gedanken zu gewähren, an
den aufs Äußerste reduzierten Ausführungen über das, was die die
Hauptfigur denkt, fühlt und tut.
Andere Figuren, wie die
Frau des Mannes, sein Arzt oder auch der Meister spielen demgegenüber
nur eine vollkommen untergeordnete Rolle, was sie tun oder vorbringen,
bleibt ohne jede eigene Motivierung und besitzt als Ganzes nur
funktionale Bedeutung, wirken quasi als Katalysatoren, für die
Handlungen des Mannes, der auf sie jeweils reagiert.
Was auf die beiden
einleitenden Sätze, die zentralen inhaltlichen Aspekte des Geschehens
(Mann, Bretterwand, Fabrik) in aller Kürze vorstellen, liest sich wie
eine Argumentation für den Bau der Bretterwand und weist dabei doch
deutlich darüber hinaus. Nahezu jeder der nachfolgenden 13 Sätze des
ersten Teils der Geschichte, der bis zu der Stelle reicht, an der davon
erzählt wird, wie der Mann krank wird, liefert auf seine Art und Weise
eine Begründung dafür, dass der Mann mit seiner Bretterwand das
verhasste Arbeitsleben und dessen Stein gewordenes Symbol die Fabrik mit
ihren Schloten aus seinem privaten Leben verbannen will.
Er hasst die Fabrik,
seine Arbeit dort, die immer gleiche Arbeit an der Maschine mit ihrem
Arbeitstempo und die dauernde "Hetze nach Akkordprämien" - kurzum alles,
was sein Arbeitsleben ausmacht. Und was noch wichtiger ist: Er hasst das
alles, schon die ganzen vierzig Jahre lang, die er in dieser Fabrik
arbeitet. Und dabei spielt es für ihn bei seiner Bewertung keine Rolle,
dass er sich durch die vierzig Jahre harte Arbeit, bei der er selbst zur
Arbeitshetze beigetragen hat, indem er die Maschinengeschwindigkeit bis
an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit aus gewissermaßen freien
Stücken erhöht hat, es "zu einigem Wohlstand, zu Haus und Gärtchen
gebracht" hat. Zugleich ist ihm aber auch bewusst, dass dieser Wohlstand
auf seiner Bereitschaft zur Selbstausbeutung beruht, auf der
Bereitschaft in einer streng getakteten, »taylorisierten
Arbeitswelt zu funktionieren. Das schon seit längerem anhaltende Zucken
seiner Hände im Schlaf, die dies "im schnellen Stakkato der
Arbeit" machen, zeigen, dass der Mann seiner Fließbandarbeit
gesundheitlich Tribut zollen muss.
Ein Motiv im Übrigen,
das cineastische orientierte Leser an entsprechende Szenen aus
Charlie Chaplins (1889-1977),
Film "Moderne
Zeiten" aus dem Jahr 1936 erinnert. Darin bearbeitet Chaplin als
Fabrikarbeiter mit einem einzigen Handgriff vom Morgen bis zum
Abend Werkstücke an einem Fließband, das nach vom Fabrikdirektor nach
Belieben schneller gestellt werden kann. Dieser mechanische Handgriff
wird für den Arbeiter zu einem solchen Zwang, dass er in der Folge alles
festdreht, "was nur nach Schraube oder Mutter aussieht: Knöpfe,
Dekorationen, auch Nasen von Kollegen." (Fried
1987, S.44) Nachdem das immer schneller laufende Fließband den
Protagonisten in den Wahnsinn treibt, kommt er in eine
Nervenheilanstalt.
Für eine derart
detaillierte und grotesk überspitzte Darstellung der physischen und
psychosomatischen Folgen ist in der Erzählung Martis, deren "Stilgesetz"
man darin sehen kann, das nicht nur mit "Kürze, sondern Reduktion,
Reduktion aufs Wesentliche, aufs Unerlässliche" beschränkt (vgl.
Pulver
2004, S.241), erzählt wird, natürlich kein Raum, auch wenn sie
grundsätzlich für derartige Konnotationen offen ist. Und der Verzicht
darauf, hat Methode: Gibt sie doch mit dieser Gestaltung dem Ganzen
jenes Strenge und fast Unerbittliche (vgl.
ebd.),
das ihn über weite Strecken auszeichnet.
So reicht der Hinweis
auf das nächtliche Zucken der Hände des Mannes und sein Wissen um die
Tatsache, dass das Herausfallen aus der Fließbandarbeit mit ihren
Akkordprämien (sein Meister will ihm eine andere Arbeit geben), ganz
schnell dazu führen wird, im Betrieb als "Greis" abgestempelt zu werden.
Wichtiger noch ist aber die hinter der "verlogene Rücksicht" seines
Meisters stehende Folge: Gravierende Lohneinbußen, die ihn und seine
Frau (von weiteren Familienmitgliedern ist keine Rede) in prekäre
wirtschaftliche Verhältnisse bringen kann, die alles rasch aufzehren
kann, was man sich durch seine Unterwerfung unter das Diktat der
Verhältnisse aufbauen hat können. Aus diesem Grunde reagiert er auch
äußerst gereizt auf die Bemerkungen seiner Frau über sein nächtliches
Zucken, spürt daraus wohl auch ihre Sorge, dass er, so wie bisher, die
Familie wohl nicht weiter werde versorgen können (= die drohende "Entmannung"
(s. u.)als Ehemann und Versorger) und bleibt
auch gegenüber den Ratschlägen seines Arztes taub, der ihn auffordert,
stärker auf die eigene Gesundheit Rücksicht zu nehmen.
Der Hass des Mannes auf
alles, was mit seiner Arbeit zusammenhängt, ist der psychische
Reflex und damit die Folge der entfremdeten Arbeit, die er über
Jahrzehnte leistet. Diese hat ▪
Karl
Marx (1818-1883) schon 1844 in seinen
Ökonomisch-philosophische Manuskripten beschrieben. Entfremdete
Arbeit beruht danach auf dem "Verhältnis des Arbeiters zu seiner eignen Tätigkeit als einer fremden,
ihm nicht angehörigen" Tätigkeit, die Arbeit als "Leiden", "Ohnmacht,"
"Entmannung" (s. o.)
erlebt und dabei "die eigne physische und geistige
Energie des Arbeiters, sein persönliches Leben [...] als eine wider ihn selbst gewendete, von ihm
unabhängige, ihm nicht gehörige Tätigkeit" erscheinen lässt und damit
auch zur "Selbstentfremdung" führt. Es ist diese Art der
Selbstentfremdung, die der Mann erst in den Wochen seiner schweren
Krankheit angesichts seines bevorstehenden Todes überwindet, ohne aber
die Voraussetzungen seiner Selbstentfremdung, die entfremdete Arbeit im
kapitalistischen System in den Blick zu nehmen.
Das temporale Adverb
"dann" leitet den zweiten Teil der Geschichte ein, in der das Geschehen
in einer linearen chronologischen Reihenfolge erzählt wird, das sich in
den etwas mehr als sechs Wochen ereignet, nachdem der Mann so schwer
erkrankt ist, dass er zu Hause das Bett hüten muss. Über die Krankheit
selbst, ihren Verlauf bis dahin und von da an, erfährt der Leser nichts.
Ebenso bleibt ausgespart, wie und unter welchen Umständen der Mann damit
aus seinem Berufsleben ausgeschieden ist. Wichtig ist nur, dass er eben
so schwer erkrankt, dass er nicht mehr zur Arbeit gehen kann. Im Kontext
der im ersten Teil der Geschichte dargestellten Selbstentfremdung
scheint diese Tatsache für den Erzähler, der dieses Faktum bis auf die
Bemerkung, dass der Mann erstmals "nach vierzig Jahren Arbeit und Hass"
überhaupt krank ist, nicht kommentiert, sondern fast nur lakonisch
registriert, fast wie eine logische, zumindest keineswegs überraschende
Konsequenz dieses entfremdeten Arbeiterlebens zu sein.
Von seinem Krankenbett
aus sieht der Mann aus seinem Fenster auf sein "Gärtchen" und die
Bretterwand, die er einstmals errichtet hat, um nicht immer auf die
verhasste Fabrik sehen zu müssen, in der er tagtäglich er seine im
ebenso verhasste Arbeit verrichtet hat. Die Diminutivform des Substantiv
Garten als Gärtchen, welche die Grundform verkleinert und emotional wie
eine Koseform wirkt, und die Verwendung des Possessivpronomens ("sein
Gärtchen") verweist auf die Bedeutung, den dieser Ort für den Mann
besitzt. Er ist sein privater kleiner Mikrokosmos, der seine
flächenmäßige Begrenzung durch den bescheidenen Wohlstand findet, seine
Funktion aber unabhängig von seiner Größe erfüllen kann: Er schafft
einen Raum von privatem eigenen Leben, der durch die Bretterwand nach
außen abgeschirmt zu sein scheint. Dieses räumliche Konzept, auf dem
auch zugleich die wohl über Jahre erfolgreiche Strategie des Mannes
basiert, mit seiner Selbstentfremdung in der kapitalistischen
Arbeitswelt zurechtzukommen, wird jetzt, da er nur noch über das Fenster
mit der Außenwelt Kontakt hat, zu einer unüberwindbaren Barriere der
Teilhabe an Welt und Leben.
Die bis zu seinem Tode
verbleibenden etwas mehr als sechs Wochen "werden für den ans Bett
Gefesselten zu einer Einübung ins Sehen" (Pulver
2004, S.242). Es ist eine sich in mehreren Etappen vollziehende
"Seh-Schule" (ebd.,
S.244), die mit ihren visuellen Wahrnehmungen, die innere, emotionale
Blockade auflöst, welche den ersten Abschnitt mit seinem reflexartigen
Hass auf das Arbeitsleben in der Fabrik überwindet. Dem entspricht auch
die die Struktur des zweiten Abschnitts dominierende Wiederholung des
Verbs "sehen", das quasi an die Stelle des im ersten Abschnitt prägenden
"Hassens" tritt und damit die Grundlage legt für eine Entwicklung des
Mannes. Bezeichnet das Hassen im Beschreibungskontext des ersten
Abschnitts einen lang anhaltenden Zustand, entwickelt das Sehen und
seine Folgen eine Dynamik, die fast zu einem Wettlauf mit der Zeit wird,
die der Erzähler erstmals mit relativen Zeitangaben zur erzählten Zeit
(nach drei Wochen, nach einer Woche, nach vierzehn Tagen, nach einigen
Tagen). Die zeitlichen Aussparungen, die dabei zwischen den in einem
insgesamt in zeitraffendem Erzählen dargebotenen, auf wenige ausgewählte
Geschehnisse beschränkten Erzählerbericht dargeboten werden, sind folgen
keinem inneren Kompositionsprinzip, d. h. die Zeiträume verringern sich
nicht systematisch immer mehr. Die dargestellten Zeitspannen verweisen
aber doch auf die Dauer, welche die Entwicklung benötigt, mit der der
Mann am Ende seine Sicht auf das eigene Leben umkrempelt und zu einer
für ihn positiven Lebensbilanz gelangt.
Dabei ist die erste
Phase seiner Krankheit offenbar die schwierigste. Es ist die Phase, die
im Übrigen viele Todkranke und ihr soziales Umfeld machen, in der seine
Frau und auch der Arzt die Thematisierung des zumindest möglichen
tödlichen Verlaufs der Krankheit in der Kommunikation mit dem Kranken
vermeiden, ihn ablenken und ihm (wider besseren Wissens?) Hoffnung auf
eine Wendung zum Besseren geben wollen. Die Frau spricht von dem bald
bevorstehenden Frühling, ein Motiv, das mit dem Wiedererwachen der Natur
und des Lebens konnotiert wird, und dem Arzt fällt auch nichts anderes
ein, als den Kranken zur Geduld zu ermahnen. Beides glaubt der Mann
jedoch nicht. Die sprachliche Gestalt, mit der der Erzähler die
illusionslose Haltung des Mannes dazu in aller Kürze in zwei fast
identischen Hauptsätzen, die das zuvor Gesagte, kurz und ohne weiter
inhaltlich darauf einzugehen, darbieten, wirkt fast wie ein
abschließendes Statement und zugleich als Ausdruck der Überzeugung, dass
der Kranke eine Ahnung davon hat oder gar weiß, dass es in absehbarer
Zeit mit ihm zu Ende gehen wird.
Nach drei Wochen zeigt
die zwischen dem Hass auf sein Arbeitsleben und der eskapistisch davon
abgeschotteten Privatsphäre oszillierende Selbstentfremdung des Mannes
erste Risse, die seine Frau so verunsichern, dass sie darüber
erschrickt. Ihr Mann, dem sein mit der Bretterwand gegenüber der
verhassten Außenwelt abgeschottetes Gärtchen mehr ist als ein bloßes
Refugium, in das er sich nach verrichteter entfremdeter Arbeit
zurückziehen kann, spürt, dass es mit der von ihm selbst erbauten
Bretterwand seine Entfremdung von sich selbst nur befördert, denn
wirklich gemindert hat. Sein Glaube, sich hinter der Bretterwand
gegenüber der Realität seines Daseins als Fabrikarbeiter verschanzen zu
können, erweist sich als Trugschluss. Und was er seiner Frau gegenüber
äußert, er sehe jetzt immer nur "das Gärtchen, sonst nichts, nur das
Gärtchen", ist nicht nur eine Beschreibung der tatsächlichen
Verhältnisse, sondern auch der Ansatz zur Gewinnung einer neuen, anderen
Perspektive auf die eigene Welt. Wie weit ihm das selbst bewusst ist,
lässt der Text offen. Soviel aber gibt der Erzähler preis: Was in ihm
vorgeht und zu seinem selbst seine Frau verstörenden Sinneswandel führt,
begründet er selbst mit der Langeweile, die ihm der immer gleiche Blick
vom Krankenbett auf Gärtchen und Bretterwand bereitet. Verstoben scheint
in diesem Augenblick sein Hass auf die Fabrik, als er die für ihn so
lange existenziell wichtige Wand als "verdammte Bretterwand" bezeichnet.
Abreißen lassen will er sie jedoch (noch) nicht. Es sollen erst einmal
nur "zwei Bretter" aus der Wand herausgenommen werden, schließlich weiß
der Kranke, was ihn dahinter erwartet. So werden die ersten mit Hilfe
des Nachbarn herausgenommenen Bretter aus der Wand, ein erster Schritt,
ein Versuch, mit dem was er dann zu sehen bekommt zurecht zu kommen.
Daher wirkt es wie ein
Erfolg der "Seh-Schule", dass er schon nach einer Woche, wenngleich noch
immer mit der fassadenhaften Begründung, der kleine Ausschnitt auf die
Fabrik, die ihm die Zwei-Bretter-Lücke gewähre, lenke ihn zu wenig ab,
Frau und Nachbar veranlasst die Bretterwand zur Hälfte abzubauen. Nun
ist es ihm möglich, die sich vor seinen Augen wie ein Film abspielende
Arbeitswelt mit anderen Augen zu sehen. Waren es früher extrem negative
Gefühle, die seine Wahrnehmung und seine Einstellungen zur Fabrik
bestimmten, beobachtet er mit jetzt mit einem "zärtlichen Blick", was er
von "seiner" Fabrik zu sehen bekommt: "das Spiel des Rauches über dem
Schlot, das Ein und Aus der Autos im Hof, das Ein des Menschenstromes am
Morgen, das Aus am Abend". Selbst wenn der Text das nicht direkt
ausführt, wird der Kontrast spürbar, indem diese Darstellung zu dem
steht, was seine ursprüngliche Wahrnehmung bestimmt hat. Und auf dieser
Folie kann man sich auch vorstellen, wie ganz anders diese Beobachtungen
in den vierzig Jahren zuvor erlebt worden sind.
Die von der Öffnung
seiner kleinen Welt nach außen vorangetriebene Dynamik lässt den Kranken
aber nicht los. Vierzehn Tage darauf zeigt er sich, weil er noch mehr
von "seiner" Fabrik sehen will, geradezu ungeduldig und "befiehlt", den
Rest der Bretterwand zu entfernen, weil er die Büros und die Kantine der
Fabrik sonst nie sehen könne. Was auf den ersten Blick vielleicht als
etwas beliebige Erweiterung des Blickfelds erscheinen mag, bekommt aber
durch die auffällige Verwendung des Possessivpronomens ("unsere
Büros") besonderes Gewicht. Signalisierte schon die Verwendung eines
solchen Pronomens ("seine Fabrik"), dass der Kranke sich mit ihr
nun identifizieren kann, so bindet ihn das "Unsere" in die soziale
Gemeinschaft der in der Fabrik arbeitenden Personen ein.
Die Wirkung der
"Seh-Schule", die sich über Wochen hinzieht, ist überwältigend: Der
Mann, dessen Leben über viele Jahrzehnte hinweg vom reflexartigen,
geradezu krampfhaftem Hass auf sein taylorisiertes Arbeitsleben geprägt
gewesen ist, zeigt nun "ein Lächeln" im Gesicht, das "die Züge des
Kranken" entspannt. Indem seine beiden Welten visuell wieder
ineinanderfließen können und damit neue Perspektiven eröffnen, scheint
er sich kurz vor seinem Tod mit seinem Leben zu versöhnen und eine
positive Lebensbilanz ziehen zu können, die ihm ermöglicht, das Leben
loszulassen.
Die am Ende in einem
kurzen Hauptsatz erwähnte Tatsache seines Todes einige Tage später setzt
ohne irgendeine Art von Kommentierung einfach einen Schlusspunkt unter
eine Entwicklung, die in einer sprachlich reduzierten und
erzähltechnisch extrem verdichteten Form zeigt, dass der Mensch, der
spätestens im Angesicht des Todes sein Neapel findet, das Leben
selbstbestimmt loslassen kann.
Trotzdem bleibt ein
Unbehagen: Es ist eine die Widersprüche der entfremdeten Arbeit und der
daraus resultierenden Selbstentfremdung individuell harmonisierende
Vorstellung, die die gesellschaftlichen Widersprüche, die dazu führen,
weder benennt, noch eine andere als eine individuell, nur auf sich
selbst bezogene "Lösung" anzubieten weiß.
Was sich hinter dem
Lächeln des Mannes vor seinem Tod verbirgt, lässt der Text bewusst
offen. Sein Bezug zum Titel und der Bedeutung der Redewendung schickt
den Leser selbst auf die Reise, sein Neapel zu finden, den Sinn des
Lebens, wofür es sich zu leben lohnt. Ob das Leben, das der Mann geführt
hat, von außen betrachtet, als lohnenswert bzw. gelungen angesehen
werden kann, weil er am Ende seine innere Selbstentfremdung überwinden
kann, als er unfreiwillig aus dem System von Hetze und Akkord
herausfällt, bleibt dahingestellt, aber: Akkord ist eben auch, was er
ist: Akkord ist Mord und dieses System verheißt eben, solange es
fortbesteht, trotz gegenteiliger Interpretationen (vgl.
Pulver
2004), keine "bessere Arbeitswelt" (ebd.,
S.242)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
12.10.2020