In seinem
»"StudioD"-Blog setzt sich Norbert Tholen in seiner
»Analyse der Kurzgeschichte
"Neapel sehen"
von
▪
Kurt Marti
mit der
▪
Konzeption der Hauptfigur der Kurzgeschichte auseinander und wirft
dabei die Frage auf, ob der Mann eine Entwicklung durchmacht.
Dabei
kommt er zum Schluss, dass von einer Entwicklung der Persönlichkeit des
Mannes nicht gesprochen werden könne. Tholen führt dazu aus: "Zweifellos
geschieht etwas: Der Mann wird krank, muss zu Hause bleiben und lässt
dann stückweise die Bretterwand abreißen. Ich meine, er machte keine
Entwicklung durch, sondern lebte nur den inneren Widerspruch aus, in dem
er durch seine Arbeit oder das Arbeitsverhältnis (oder die Verhältnisse,
unter denen er arbeiten muss) steht: 'Er haßte das Tempo der
Maschine, das er selber beschleunigte.' Einerseits hasst er die Fabrik,
weil sie ihn durch die Akkordarbeit kaputt macht; er schottet sich gegen
die Fabrik durch eine Bretterwand ab (geht aber täglich hin), macht also
die Augen zu. Anderseits will er arbeiten, weil er das verdiente Geld
ganz haben und kein 'Greis', sondern ein Mann sein will; die gehasste
Fabrikarbeit gibt ihm seine Identität. Als er nicht mehr in die Fabrik
gehen kann, wirkt sich dieser Widerspruch dahin aus, dass er die Fabrik
sehen will; andere Möglichkeiten des Lebens (die Natur erleben, mit
Menschen sprechen) befriedigen ihn nicht - da bleibt er so 'kaputt', wie
er seit Jahren ist. Auch in den beiden Beschreibungen seines Glücks nach
den letzten Schritten des Niederreißens der Wand zeigt sich kein
Unterschied, also auch kein Fortschritt im Glücklichsein. Er stirbt,
subjektiv glücklich, objektiv aber blind gegenüber dem, was ihn kaputt
gemacht hat; deshalb erschrickt seine Frau auch, als er darum
bittet, die Bretterwand niederzureißen - sie weiß über ihn mehr als er
(vgl. die Äußerung des Erzählers: 'Aber seine Hände zuckten weiter im
Schlaf' - er gibt damit der Frau gegenüber ihrem Mann Recht). Die
Bretterwand verschwindet also, aber nicht das Brett vor seinem Kopf.
Frage zur Probe: Was täte er, wenn er wieder gesund würde? Ich meine, er
ginge wieder in die Fabrik, hasste sie und baute eine neue Wand - und
ließe sich auf kein ernsthaftes Gespräch mit anderen ein, weder mit dem
Vorarbeiter noch mit seiner Frau. Zweite Frage zur Probe: Warum hasst
'er' seine Frau (Z. 5 f.)? Er kann nicht hören, dass sie ihm sein Leiden
an der Fabrik bewusst macht; er wehrt sich also gegen die Aufklärung des
Widerspruchs, in dem er steht und den er in seiner Krankheit ausagiert,
in seinem Hass auslebt." [Hervorh. d. Verf.]
Vieles spricht dafür, den
Mann als eine statisch konzipierte Figur aufzufassen, wie dies Tholen
tut. Mit der gleichen Unerbittlichkeit, mit der er die Bretterwand
erstellt, lässt er sie niederreißen, als sie ihm im Weg zu stehen
scheint. Und er bleibt auch wirklich blind gegenüber dem, was ihn kaputt
gemacht hat. In marxistischer Diktion: Ausdruck der Entfremdung von
Arbeit im kapitalistischen System. Insofern scheint sich sein Charakter
nicht zu verändern.
Aber: Der Schreck, den seine Frau bekommt, als "sie ahnt, dass mit der
Bretterwand das Gerüst einstürzt, das seinem Leben einen so fragilen wie
starren Halt" (Pulver
2004/2007, S.5) gegeben hat, zeigt, dass sich in ihrer Wahrnehmung
ihres Mannes etwas Neues entwickelt. "Der Mann, der erstmals einen Blick
auf die gesamte Fabrik wirft, ist, vielleicht durch die selbst
auferlegte Seh-Schule, ein anderer geworden. Auch die Art seiner
Wahrnehmung hat sich verändert. Solange sie sich nur auf das Gärtchen
und den Frühling darin richtete, genügte dem Autor das Wort »sehen«.
Erst als die Fabrik ins Gesichtsfeld des Kranken tritt, erst da mischen
sich Emotionen ein. Jetzt darf der Blick zärtlich auf der Fabrik »ruhen«
und ein Lächeln die Züge des Kranken entspannen." (ebd.)
Die Tatsache, dass der Mann am Ende mit sich und
seinem Leben im Reinen ist, ihm ein gewisses subjektives Glücksempfinden
am Ende seines Weges möglich wird, zeigt,
dass er im kleinbürgerlichen Idyll mit Haus und Gärtchen, "geplant als
Gegenwelt zur gehassten Arbeit" (ebd.), auch
sein Glück, sein "Neapel" - "in der landläufigen Deutung der Inbegriff
des Lebens, das Schönste, Wichtigste, das man vor dem Tod sehen will"
(ebd.)
- nicht
finden kann.
Und: Ist die Fähigkeit, Glück zu empfinden, nicht immer
subjektiv? In diesem Sinne ist eine Entwicklung erkennbar, gewinnt
die Figur eine gewisse konzeptionelle Dynamik, gerade weil die Motive
seines Fühlens, Denkens und Handelns letztlich ungeklärt bleiben,
solange sich der
auktoriale und omnipotente Erzähler mit der Ausnahme des "Hasses",
den er artikuliert, nie
wirklich in die
Innensicht der Figur begibt und sie mit ihren Gedanken und Gefühlen
zu Wort kommen lässt. So betont Elsbeth Pulver auch, dass das "Neapel"
des Mannes, "die Arbeitswelt, die er aus seinem Leben ausschließen
wollte" Rätsel aufgebe: "Offenbart sich in dieser erstaunlichen Wendung
das trostlose Ende eines trostlosen Lebens, in dem die gehasste
Arbeitswelt doch das einzige Wichtige war? Wird so der Beweis geführt,
dass es kein richtiges Leben im falschen gibt? Oder begreift da einer im
Sterben, was er im Leben, verstrickt in den Zweikampf mit der Maschine,
nicht hat sehen können: dass die Arbeitswelt auch eine Lebenswelt war,
ein Kommen und Gehen der Menschen, ein Mikrokosmos, zu dem er, ohne es
zu merken und zu wollen, doch auch gehörte?
Nicht dass mit der zweiten Deutung die Härte dieses Lebens geleugnet,
verklärt werden soll. Sie bleibt bestehen. Dennoch sollte man das
Lächeln des einfachen Mannes nicht einfach als Selbsttäuschung
verstehen; es verdient, ernst genommen zu werden. Ohne dass es dem Mann
bewusst zu sein braucht, gilt dieses entspannte Lächeln vielleicht nicht
dem eigenen vergangenen Leben, sondern einer fernen Zukunft. Über dem
Bild der Fabrik, wie es sich in den Augen des Kranken spiegelt, liegt
etwas wie Verklärung, ein Hauch des Utopischen – nur ein Hauch, keine
Gewissheit. So könnte es sein, in der Zukunft: die Fabrik ein
Mikrokosmos, dem sich auch der Arbeiter zugehörig fühlen kann, und in
dem die Arbeit nicht zur Selbstzerstörung führt – eine andere, bessere
Arbeitswelt. In der Zukunft, wenn irgendwo, liegt das Neapel des
Sterbenden." (ebd.,
S.5f.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
07.01.2025