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Die
personale Erzählperspektive
weist eine Reihe von charakteristischen Merkmalen auf, die sie von
anderen Erzählperspektiven unterscheiden. Dabei ist freilich zu
beachten, dass Erzählperspektiven der einen oder der anderen Art nicht
unbedingt zur Charakterisierung eines gesamten Werkes oder auch nur eines
größeren Abschnitts dienen können, "sondern lediglich zur Klassifizierung
kleinerer Erzähleinheiten dienen kann." (Vogt
1990, S. 52):
-
scheinbar erzählerloses Erzählen,
dargestellte Wirklichkeit wird nicht von einem persönlich konturierten
Erzähler vermittelt, sondern spiegelt sich im Bewusstsein einer Figur
- Festlegung des personalen Erzählers auf die
Innenperspektive
(personaler Erzählerstandort)
- keine expliziten Einmischungen oder Wertungen eines Erzählers
- »Personal« bedeutet dabei: aus dem Blickwinkel einer der
handelnden Figuren selbst betrachtet
-
Point of
view im Bewusstsein einer Figur oder mehrerer Figuren
(personale Mutiperspektive)
- Erzähltes Geschehen kann als personale
Innensicht
(Gedanken einer Figur) oder als personale
Außensicht
dargeboten werden
-
Showing:
Zurücktreten des Erzählers, dominierend sind
szenische
Darstellung,
erlebte
Rede,
innerer
Monolog
- Wirkungen:
- Einschränkung des Wahrnehmungsfeldes auf die subjektiv-psychologische
Perspektive einer oder mehrerer Figuren
- Beschränkung der Wahrnehmung auf das Hier und Jetzt
- Beschränkung auf
Außensicht
bei anderen Figuren
- häufig starkes Gewicht auf innerer Handlung (Gefühle, Gedanken,
Erinnerungen) der Perspektivfigur
- Suggestive Wirkung auf den
Leser, dem die erzählte Wirklichkeit abhängig von der
Wahrnehmung einer beteiligten Figur, bedingt von ihren
Gefühlen und Gedanken vermittelt wird.
(vgl.
Stanzel
1964/1979, S. 51, vgl.
Bleissem
u.a. 1996, S.73)
- Gefahr der Monotonie bei einer einzigen Figurenperspektive, daher:
personale Multiperspektive
- mitunter auch völliger Verzicht auf Innensicht: Blickpunktfigur nur
noch Medium der Wahrnehmung (=
neutrale
Erzählperspektive als Variante des personalen Erzählens)
Beispiel 1:
In seinem Roman "Berlin
Alexanderplatz" gestaltet Alfred Döblin
(1878‑1957) die personalen Erzählperspektive
in besonders eindrücklicher Art und Weise. Im Roman wird der Daseinskampf
des Transportarbeiter Franz Biberkopf erzählt, der nach vier Jahren Haft
für den Mord an seiner Geliebten aus dem Zuchthaus entlassen wird. Seinen
Vorsatz, fortan ein ehrliches und anständiges Leben zu führen, gibt er
jedoch wieder auf, und wird Hehler einer Einbrecherbande. Die
Prostituierte Mieze, die ihn liebt, wird von einem "Freund“ Biberkopfs
ermordet. Franz Biberkopf wird aber als mutmaßlicher Täter verhaftet und
in eine Irrenanstalt gebracht, nach dem seine Unschuld klärenden Prozess
aber wieder auf freien Fuß gesetzt; äußerlich und innerlich zerbrochen
nimmt er daraufhin eine Stelle als Hilfsportier an. Die suggestive
Unmittelbarkeit der personalen Erzählperspektive mit ihrer Beschränkung
auf die subjektiv-psychologische Perspektive Franz Biberkopfs und die
Darstellungstechnik des
Showing
mit den entsprechenden
Darbietungsformen des Erzählens
(Bewusstseinsstrom,
Innerer Monolog) lassen äußere und innere Wirklichkeit Franz
Biberkopfs nahtlos ineinander übergehen.
Wie
Franz Biberkopf nach einer Woche mit einem Strauß in Seidenpapier
gemächlich die Treppe hochsteigt, denkt er an seine Dicke, macht sich
Vorwürfe, aber nicht ganz ernst, bleibt stehen, sie ist ein goldtreues
Mädel, wat sollen die Zicken, Franz, pah, ist Geschäft, Geschäft ist
Geschäft. Da klingelt er, lächelt in Vorahnung, schmunzelt warmer
Kaffee, ein kleines Püppchen. Da geht einer drin, das ist sie. Er wirft
sich in die Brust, präsentiert vor der Holztür den Strauß, die Kette
wird vorgelegt, sein Herz klopft, mein Schlips, ihre Stimme fragt: „Wer
ist da?“ Er kichert: „Der Briefträger.“
Kleine schwarze Türspalte, ihre Augen, er bückt sich zärtlich herunter,
schmunzelt, wedelt mit dem Bukett. Krach. Die Türe zu, zugeschlagen.
Rrrrrr, der Riegel wird vorgeschoben. Donnerwetter. Die Tür ist zu. Son
Biest. Da stehtst Du. Die ist wohl verrückt. Ob die mich erkannt hat.
Braune Tür, Türfüllung, ich steh auf der Treppe, mein Schlips sitzt. Ist
gar nicht zu glauben. Muss nochmal klingeln, oder nicht. Er blickt auf
seine Hände, ein Bukett, hab ich vorhin an der Ecke gekauft, für eine
Mark, mit Seidenpapier…
(aus: Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz, Olten: Walter Verlag,
zit. n. dtv 295, 17. Aufl. 1976, S.93f.)
Beispiel 2:
In
Otto Marchis
Roman "Landolts
Rezept" lassen sich die Merkmale der personalen
Erzählperspektive erkennen. Landolt, ein arbeitsloser Redakteur, hat auf
dem Arbeitsamt Hanna kennen gelernt. Als sie ihn fragt, woher es komme,
dass sie schon zweimal vor ihm gewarnt worden sei, sieht sich Landolt mit
seinen Frauengeschichten konfrontiert, mit denen er sich auseinander
setzen muss. Seinen Bekannten Jakob verdächtigt er im Zusammenspiel mit
Ruth, einer seiner ehemaligen Frauen, "Gerüchte" in die Welt gesetzt zu
haben. In dem vorliegenden Textauszug finden sich keine expliziten
Einmischungen oder Wertungen eines Erzählers, der seinen Standpunkt
außerhalb des erzählten Geschehens besitzt. Es finden sich personale
Außen- und Innensicht einer einzigen Figur, nämlich Landolts, die mit der
Erzähltechnik des
Showing
vermittelt wird. Die Wahrnehmung des personalen Erzählers ist auf das Hier
und Jetzt ausgerichtet und die unmittelbar präsentierten Einblendungen des
Spielautomaten (MEDIUM,
AVERAGE SPEED 293 KM ONE LAP 6 KM,
...
YOU'RE
QUALIFIED-PREPARE FOR COMPETION, ...
FASTER YOU' RE WINNING,
...GAME OVER YOU' RE DEAD)
entwickeln neben dem Satzbau und der Wortwahl eine suggestive Wirkung auf
den Leser, die ihn in die Wahrnehmung Landolts mit seinen überaus starken
und ausufernden Gefühlen hineinzieht. Dabei tut die
Zeitgestaltung, die zu Beginn des Auszuges leicht
raffend, mit dem Einwerfen der Münze ("Landolt
quetschte sich in die enge Fahrerkabine eines Rennwagens, warf den Franken
in den Schlitz...") bis zum Ende des Spiels ("GAME OVER YOU' RE DEAD")
, nahezu
zeitdeckend, und am Ende
wieder zeitraffend ist, ein Übriges, um diese suggestive Kraft zu
verstärken.
Er wagte es nicht, nach Hause zurückzukehren, betrat zum ersten Mal
seit vier Jahren wieder einen Spielsalon, in dem nach Schulschluss
Hochbetrieb herrschte. Das Geklingel und Geknatter betäubte ihn, es gab
nur noch wenige Flipperkästen, das Tischfußballspiel, in dem er bis zur
Matura an jedem Mittwoch Nachmittag ungeschlagen blieb, stand unbenutzt
in einer Ecke, die meisten Jungen saßen
vor
quadratischen Bildschirmen und rammten mit ausdruckslosen Mienen
Walfischen dicke Harpunen in die Leiber, die berstend zerplatzten,
drückten auf rote Knöpfe und feuerten Torpedos auf Kriegsschiffe und
Unterseeboote ab, schossen gegnerische Mittelstürmer mit explodierenden
Fußbällen in die Luft, versenkten Spione in Liftschächten und knallten
sie von den Dächern der Wolkenkratzer.
Landolt quetschte sich in die enge Fahrerkabine eines Rennwagens,
warf
den Franken in den Schlitz, stellte den Geschwindigkeitshebel auf
MEDIUM
und umklammerte das Steuerrad. Als die Karte mit der rot eingezeichneten
Rennstrecke erscheint, ertönen blecherne Fanfaren, auf dem
Armaturenbrett am Rande des Cockpits blinken große blaue Buchstaben auf
AVERAGE SPEED 293 KM ONE LAP 6 KM ein kleines Flugzeug zieht von links
nach rechts eine Schrifttafel über den Startplatz hinweg, auf dem die
Boliden aufgereiht sind PREPARE TO QUALIFY. Die Startflagge geht nieder
und Landolt presst den Fuß aufs Gaspedal, treibt die lahme Kiste mit
Vollgas auf die erste Kurve zu,
bremst viel zu hart ab, der Horizont
steht schief, er klammert sich ans Steuerrad, schlingert mit
geschlossenen Augen auf die Strohballen am Rand der Kurve zu, die
auseinander spritzen und den Wagen zurückwerfen. Die Leitlinie in der
Mitte der Piste wird zum weißen Strich, die schneebedeckten Vulkankegel
vor dem dunkelblauen Himmel schmelzen zu Girlanden zusammen, bei
Dreihundertzwanzig beginnt der Bolide zu vibrieren; er rast im Zickzack
weiter, verkrampft sich in die Speichen und stampft wütend aufs Pedal,
wenn ein anderer Wagen haarscharf an ihm vorüberwetzt und ihm dicke
Abgaswolken ins Gesicht pufft, die ihm für Sekunden die Sicht vernebeln HURRY UP sitzt wieder in Helens knallrotem Cabriolet, das er noch
vierzehn Tage behalten darf, bevor sie wieder zu einem ihrer Kerle
zieht, hämmert wieder mit der Faust aufs Lenkrad, will die Karre wieder
zu Bruch fahren, reißt den Fahrthebel auf CHAMPION hinunter und der
Wagen hechtet nach vorn, schießt haarscharf an der Reklametafel vorbei,
die Vibrationen haben aufgehört, Landolt sitzt in einer Rakete und malt
elegante Bögen aufs Pflaster, genießt es wieder, wenn die Räder an den
Randstein krachen und knallt sich wieder von der Seite der Straße auf
die andere hinüber und freut sich am aufschrillenden Dröhnen und Rumpeln
der dicken Räder, die er auf den rotweißen Asphaltrillen der
Pistenbegrenzung so lange rasiert, bis sich der Wagen verlangsamt und
die anderen Boliden an ihm vorüberschießen YOU'RE SLOW HURRY UP kann
endlich überholen, schiebt sich langsam an Jakobs Güllenwagen vorbei,
zwängt sich in die Kurve mit einem Ruck vor dessen Kühlerhaube, stemmt
sein Gewicht aufs Bremspedal, die Räder schleifen funkenstiebend über
den Asphalt und Jakobs Karre fliegt im Bogen über die Kurve hinaus und
explodiert krachend in einem gezackten Feuerball BONUS BONUS und Landolt
rast weiter, trickst sich an Barbaras aufgeplusterter Ente und Idas
Leichenwagen vorbei als erster in die Doppelacht, die er pfeilgerade
über Wiesen hinweg durchschneidet, und fliegt unter dem Geschrei der
Zuschauer auf den Tribünen über die Ziellinie hinweg
YOU'RE
QUALIFIED-PREPARE FOR COMPETION
Er drückt den zweiten Franken zitternd in den Schlitz und schiebt sich
millimetergenau gleich ins vordere Drittel vor, hängt sich ans Hinterrad
der Ente, jagt sie am Ende der Startgeraden in die Linkskurve hinein,
die sie gerade noch schafft, drosselt das Tempo, hat auf einmal Zeit,
braucht nichts mehr zu überstürzen, weiß, dass bald die zweite Gerade
kommt, lässt ihr bei der Schikane den Vortritt, hängt sich an ihr
aufreizendes Heck, lässt sich nicht abschütteln und nicht austricksen,
zwängt sich nach der Schikane an ihr vorbei, trampelt mit beiden Füßen
aufs Pedal und haut mit den Fäusten YOU' RE WINNING aufs Lenkrad, bis er
den Wagen näher an sie heransteuern kann und sich seine Radnabe langsam
in ihre bohrt und sie BONUS BONUS vor der nächsten Kurve abbremsen muss,
übers Gras schleudert und in einem Zackenblitz verdonnert; jetzt weiß
er, dass er unschlagbar ist FASTER YOU' RE WINNING
und als der
Hornissenschwarm der Weiber von hinten wieder über ihn herfällt und ihn
zwischen sich zerquetschen will, rammt er seine spitze Kühlerhaube
frontal ins Heck des Leichenwagens BONUS BONUS schleudert mit Powerplay
zu Ruths Panzerambulanz hinüber, knallt BONUS Rosas Schlammsauger an die
Reklametafel, ist endlich allein, rast weiter übers Asphaltband und die
weißen Kegelberge hüpfen wie Känguruhs vorbei, an deren Fuß eine Flagge
langsam größer wird, gelb wird, zu blinken beginnt SLOW DOWN SLOW DOWN
und der Wagen beginnt zu schlittern und zu schleudern, die Öllache ist
groß wie ein See, er stampft den Bremshebel mit beiden Füßen fast durch
den Boden der Kabine, überschlägt sich und kracht bei den Boxen der
Kabine kopfüber auf die Leitplanken GAME OVER YOU' RE DEAD
Landolt blieb noch lange vor dem Bildschirm sitzen, auf dem unablässig
neue Rennen gestartet und ausgeblendet wurden, erhob sich mühsam und
trat auf die Straße hinaus. Es war Nacht geworden. Nieselregen hatte
eingesetzt, der Verkehr war verebbt. Er lief im Laufschritt durch den
Regen zur Telefonkabine hinüber, wählte mehrere Nummern, bei denen sich
niemand meldete, bis ihm nichts anderes übrig blieb, als Hanna
anzurufen.
(aus: Otto Marchi, Landolts Rezept, Romanauszug, Frankfurt/M. 1989,
Frankfurter Verlagsanstalt, S.26)
Beispiel 3:
Der Anfang des Romans "Buddenbrooks"
von
Thomas Mann
(1875-1955) zeigen sich Merkmale der personalen Erzählperspektive,
wenngleich auch in einzelnen kleineren Erzähleinheiten. Dazu kommen
Texteinheiten, die der
auktorialen oder der
neutralen
Erzählperspektive als Sonderfall der personalen
Erzählperspektive zugeordnet werden können.
"Was
ist das. Was ist das.."
"Je, den Düwel ook, c'est la question, ma tres chère demoiselle!" Die
Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen,
weißlackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen
Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der
in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe,
die der Großvater am Fenster auf den Knien hielt.
"Tony!" sagte sie, "ich glaube, dass mich Gott "
Und die kleine Antonie, achtjährig und zartgebaut, in einem Kleidchen
aus ganz leichter changierender Seide, den hübschen Blondkopf ein wenig
vom Gesichte des Großvaters abgewandt, blickte aus ihren graublauen
Augen angestrengt nachdenkend und ohne etwas zu sehen ins Zimmer hinein,
wiederholte noch einmal: "Was ist das", sprach darauf langsam: "Ich
glaube, dass mich Gott", fügte, während ihr Gesicht sich aufklärte,
rasch hinzu: " geschaffen hat samt allen Kreaturen", war plötzlich auf
glatte Bahn geraten und schnurrte nun, glückstrahlend und unaufhaltsam,
den ganzen Artikel daher, getreu nach dem Katechismus, wie er soeben,
Anno 1835, unter Genehmigung eines hohen und wohlweisen Senates, neu
revidiert herausgegeben war. Wenn man im Gange war, dachte sie, war es
ein Gefühl, wie wenn man im Winter auf dem kleinen Handschlitten mit den
Brüdern den Jerusalemsberg hinunterfuhr: es vergingen einem geradezu die
Gedanken dabei, und man konnte nicht einhalten, wenn man auch wollte."
(aus:
Thomas
Mann, Buddenbrooks, S.5)
Beispiel 4:
Im Romanauszug "Der
Verkehrsunfall" von
Robert Musil
(1880-1942) überwiegt die personale, mitunter auch neutrale
Erzählperspektive. Dennoch zeigt sich auch darin, was
Vogt
(1990, S. 52) betont, dass es auch bei überwiegend
personal bzw. neutral gestalteter Erzählperspektive kleinere
Erzähleinheiten geben kann, die z. B. wie im vorliegenden Fall
auktorial
sind. So verweist schon das im ersten Satz ausgedrückte "bedeutsam
auf ihre Wäsche gestickt" auf das Urteil bzw. den Kommentar
eines diesen Umstand kritisch betrachtenden auktorialen Erzählers. Ebenso
lässt sich die Textstelle "Bewunderswert
sind diese sozialen Einrichtungen." sowohl als ein
ironisch-kritischer Einwurf eines auktorialen Erzählers oder auch als
innerer
Monolog einer der beiden Figuren. Der Wechsel der
Erzählperspektive bzw. die vereinzelt eingestreuten Einmengungen und
Kommentare eines auktorialen Erzählers haben dabei in diesem Text stehen
dabei im Dienst einer Erzählfunktion, die die Annäherung und Distanzierung
vom erzählten Geschehen des Unfalls gestalten will.
Die beiden Menschen, die eine breite, belebte Straße hinaufgingen,
gehörten ersichtlich einer bevorzugten Gesellschaftsschicht an, waren
vornehm in Kleidung, Haltung und in der Art, wie sie miteinander
sprachen,
trugen die Anfangsbuchstaben ihrer Namen bedeutsam auf ihre Wäsche
gestickt, und ebenso, das heißt nicht nach außen gekehrt, wohl aber
in der feinen Unterwäsche ihres Bewusstseins, wussten sie, wer sie seien
und dass sie sich in einer Haupt- und Residenzstadt auf ihrem Platze
befanden.
Diese beiden hielten nun plötzlich ihren Schritt an, weil sie vor sich
einen Auflauf bemerkten. Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der
Reihe gesprungen, eine querschlagende Bewegung; etwas hatte sich
gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer, jäh gebremster Lastwagen
war es, wie sich jetzt zeigte, wo er, mit einem Rad auf der
Bordschwelle, gestrandet dastand. Wie die Bienen um das Flugloch hatten
sich im Nu Menschen um einen kleinen Fleck angesetzt, den sie in ihrer
Mitte freiließen.
Von seinem Wagen herabgekommen, stand der Lenker darin, grau wie
Packpapier, und erklärte mit großen Gebärden den Unglücksfall. Die
Blicke der Hinzukommenden richteten sich auf ihn und sanken dann
vorsichtig in die Tiefe des Lochs, wo man einen Mann, der wie tot dalag,
an die Schwelle des Gehsteigs gebettet hatte. Er war durch seine eigene
Unachtsamkeit zu Schaden gekommen, wie allgemein zugegeben wurde.
Abwechselnd knieten Leute bei ihm nieder, um etwas mit ihm anzufangen;
man öffnete seinen Rock und schloss ihn wieder, man versuchte ihn
aufzurichten oder im Gegenteil, ihn wieder hinzulegen; eigentlich wollte
niemand etwas anderes damit, als die Zeit ausfüllen, bis mit der
Rettungsgesellschaft sachkundige und befugte Hilfe käme.
Auch die Dame und ihr Begleiter waren herangetreten und hatten, über
Köpfe und gebeugte Rücken hinweg, den Daliegenden betrachtet. Dann
traten sie zurück und zögerten. Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in
der Herz-Magen-Grube, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten; es
war ein unentschlossenes, lähmendes Gefühl. Der Herr sagte nach einigem
Schweigen zu ihr: „Diese schweren Lastwagen, wie sie hier verwendet
werden, haben einen zu langen Bremsweg.“ Die Dame fühlte sich dadurch
erleichtert und dankte mit einem aufmerksamen Blick. Sie hatte dieses
Wort wohl schon manchmal gehört, aber sie wusste nicht, was ein Bremsweg
sei, und wollte es auch nicht wissen; es genügte ihr, dass damit dieser
grässliche Vorfall in irgendeine Ordnung zu bringen war und zu einem
technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging.
Man hörte auch schon die Pfeife des Rettungswagens schrillen, und die
Schnelligkeit seines Eintreffens erfüllte alle Wartenden mit Genugtuung.
Bewundernswert sind diese sozialen Einrichtungen. Man hob den
Verunglückten auf eine Tragbahre und schob ihn mit dieser in den Wagen.
Männer in einer Art Uniform waren bemüht, und das Innere des Fuhrwerks,
das der Blick erhaschte, sah so sauber und regelmäßig wie ein
Krankensaal aus. Man ging fast mit dem berechtigten Eindruck davon, dass
sich ein gesetzliches und ordnungsgemäßes Ereignis vollzogen habe. „Nach
den amerikanischen Statistiken“, so bemerkte der Herr, „werden dort
jährlich durch Autos 190 000 Personen getötet und 450 000 verletzt.“
„Meinen Sie, dass er tot ist?“ fragte seine Begleiterin und hatte noch
immer das unberechtigte Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben. „Ich
hoffe, er lebt“, sagte der Herr. „Als man ihn in den Wagen hob, sah es
ganz so aus.“
(aus: Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg:
Rowohlt-Verlag, 5. Aufl. 1960, S. 10f.)
Weitere Textbeispiele:
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