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»Gottfried
Keller, Romeo und Julia auf dem Dorfe (zeno.org)
▪
Strukturen von Erzähltexten
▪
Strukturbegriffe des Erzählens
▪
Raumgestaltung
im erzählenden Text
▪
Zeitgestaltung
▪
Darbietungsformen des Erzählens
▪
Figurengestaltung
▪
Perspektiven beim Erzählen
▪
Erzählperspektive (Erzählsituation, Erzählhaltung)
Gottfried Keller
Romeo und Julia auf dem Dorfe (1856)
(Der Novellenbeginn, Auszüge)
An dem schönen Flusse, der eine halbe Stunde entfernt von Seldwyl
vorüberzieht, erhebt sich eine weit gedehnte Erdwelle und verliert sich,
selber wohl bebaut, in der fruchtbaren Ebene. Fern an ihrem Fuße liegt ein
Dorf, welches manche große Bauernhöfe enthält, und über die sanfte
Anhöhe lagen vor Jahren drei prächtige lange Äcker weit hingestreckt
gleich drei großen Bändern nebeneinander. An einem sonnigen
Septembermorgen pflügten zwei Bauern auf zweien dieser Äcker, und zwar
jedem der beiden äußersten; der mittlere schien seit langen Jahren brach
und wüst zu liegen, denn er war mit Steinen und hohem Unkraut bedeckt,
und eine Welt von geflügelten Tierchen summte ungestört über ihm. Die
Bauern aber, welche zu beiden Seiten hinter ihrem Pfluge gingen, waren
lange, knochige Männer von ungefähr vierzig Jahren und verkündeten auf
den ersten Blick den sichern, gut besorgten Bauersmann. Sie trugen kurze
Kniehosen von starkem Zwillich*, an dem jede Falte ihre unveränderliche
Lage hatte und wie in Stein gemeißelt aussah. Wenn sie, auf ein Hindernis
stoßend, den Pflug fester fassten, so zitterten die groben Hemdärmel von
der leichten Erschütterung, indessen die wohl rasierten Gesichter ruhig
und aufmerksam, aber ein wenig blinzelnd in den Sonnenschein vor sich
hinschauten, die Furche bemaßen oder auch zuweilen sich umsahen, wenn ein
fernes Geräusch die Stille des Landes unterbrach. Langsam und mit einer
gewissen natürlichen Zierlichkeit setzten sie einen Fuß um den anderen
vorwärts, und keiner sprach ein Wort, außer wenn er etwa dem Knechte,
der die stattlichen Pferde antrieb, eine Anweisung gab. So glichen sie
einander vollkommen in einiger Entfernung; denn sie stellten die
ursprüngliche Art dieser Gegend dar, und man hätte sie auf den ersten
Blick nur daran unterscheiden können, dass der eine den Zipfel seiner
weißen Kappe nach vorn trug, der andere aber hinten im Nacken hängen
hatte. Aber das wechselte zwischen ihnen ab, indem sie in der
entgegengesetzten Richtung pflügten; denn wenn sie oben auf der Höhe
zusammentrafen und aneinander vorüberkamen, so schlug dem, welcher gegen
den frischen Ostwind ging, die Zipfelkappe nach hinten über, während sie
bei dem andern, der den Wind im Rücken hatte, sich nach vorn sträubte.
Es gab auch jedes Mal einen mittleren Augenblick, wo die schimmernden
Mützen aufrecht in der Luft schwankten und wie zwei weiße Flammen gen
Himmel züngelten. So pflügten beide ruhevoll und es war schön anzusehen
in der stillen goldenen Septembergegend, wenn sie so auf der Höhe
aneinander vorbeizogen, still und langsam, und sich mählich voneinander
entfernten, immer weiter auseinander, bis beide wie zwei untergehende
Gestirne hinter einer Wölbung des Hügels hinabgingen und verschwanden,
um eine gute Weile darauf wieder zu erscheinen. Wenn sie einen Stein in
ihren Furchen fanden, so warfen sie denselben auf den wüsten Acker in der
Mitte mit lässig kräftigem Schwung, was aber nur selten geschah, da
derselbe schon fast mit allen Steinen belastet war, welche überhaupt auf
den Nachbaräckern zu finden gewesen.
* Zwillich: Gewebe
(aus: Gustav Steiner (Hrsg.): Gottfried Kellers Werke.
Zürcher Ausgabe, Bd. III, Zürich: Diogenes Taschenbuch 1978, S.69f.
- gemeinfrei)
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