Home
Nach oben
Zurück
Weiter
 

 

Textauswahl

Ein Mensch ist, wenn er aufisst

ichdiscours

 
 
  Noch heute zucke ich innerlich zusammen, wenn ich tue, was Millionen andere Deutsche hier genauso jeden Tag tun, wenn ich einen ältlichen, nicht unbedingt wirklich alten, aber in jedem Fall knochenharten Brotkanten in der braunen Biotonne verschwinden lassen will. Und am liebsten tue ich dies nach Hereinbrechen der Dunkelheit, denn nichts fürchte ich mehr, als dabei gesehen zu werden. Selbst wenn ich ansonsten weiß, dass es in meiner stinkebumsnormalen Reihenhaus-Siedlung zugeht, wie sonst überall im Land (außer einem Guten Morgen bringt man mit seinem Nachbarn so lange nichts zustande, bis etwa dessen viel zu hoch und zu nahe an die Grundstücksgrenze gepflanzte Riesenbambushecke unter dem Gartenzaun hindurchwuchert und den Asfalt, den gerade aufgefrischten Asfaltbeton, der Einfahrt zur eigenen Garage aufbricht oder, etwas lebensnäher, bis der penetrante Geruch verbrannten Fleischs auf einem Weber-Grill wieder monatelang von drüben ins eigene Wohn- oder Schlafzimmer herüberwabert, und damit das Bedürfnis zu näherem Kennenlernen erweckt, oft sogar noch ohne Einschaltung von Medien wie Facebook oder einem Rechtsanwalt). So gehe ich also zu meiner Biotonne und, ehe ich ihren Deckel öffne, schaue ich, ganz unauffällig versteht sich, noch einmal nach oben zu dem Fenster, von dem aus mein Nachbar mich jederzeit hinter zugezogenen Gardinen beobachten kann, ja wahrscheinlich in diesem Moment auch tut. Ja, ja er ist ganz der Typ von Nachbar, den der Ich-Erzähler in Kafkas gleichnamiger Erzählung beschreibt, ein Harras eben, auch wenn mein Nachbar in Wahrheit eine Mitvierzigerin mit raffiniert gestuftem dichten blonden Haar ist, die selbst etwas verschwitzt nach dem Joggen, wenn ich sie manchmal auf dem Weg zur Arbeit auf der Straße, meist nur Unverständliches murmelnd, an mir vorbeihuschen sehe, noch fast mehr als gut, sprechen wir es nur aus, verdammt gut ausschaut. Bevor ich also den Deckel zur Biotonne aufreiße, den verräterischen Brotkanten hineinschleudere (einmal prallte er, weil ich wegen der Sekundenbruchteile, die mir dafür ja nur bleiben, wieder zurück, schlug mir die Brille von der Nase und ehe ich diese wieder oben und jenen endlich unten in der Tonne hatte, verstrich Zeit, kostbare Zeit, die Frau Harras oben hinterm Fenster gewiss Minute für Minute ausgekostet hat). Bevor ich also seitdem zur Tat schreite, justiere ich meinen Wurfarm genau und richte ihn auf sein Ziel ein. Und seitdem ist mir auch kein Missgeschick mehr passiert. Wenn der Deckel zuknallt, dies lasse ich mir zum Abschluss der Tat auch nicht nehmen (für mich heißt das etwa so viel wie Frau Harras, Ende der Vorstellung!), mache ich mich auf den Rückweg, immer mit der furchtbaren Angst im Nacken, oben könnte das Fenster mit einem Knarren aufgehen (das Geräusch habe ich mir schon tausendmal vorgestellt) und Frau Harras würde mich mit einem einzigen Wort zu Boden strecken: Brotverderber! Dann vergesse ich, dass jeden Tag ein paar hundert, vielleicht sogar ein paar tausend Tonnen Brot, Laugen- und Rosinenbrötchen, Burger mit Ham und ohne, ab in die Tonne wandern, weil keiner mehr weiß, was es heißt, wenn nicht an jeder Ecke eine vor sich hinbruzzelnde Currywurst den kaum mehr zu bändigenden Heißhunger stillen würde. Nicht dass ich das wirklich wüsste, kenne ich doch die Hungerwinter nach dem Krieg auch nur vom Hörensagen, aber als Kind von Eltern, die noch in viel zu weiten Kleidern und Hosen auf ihrem Hochzeitsfoto posierten, habe ich früh gelernt: Der Mensch ist, wenn er aufisst. So gesehen ist Frau Harras wahrscheinlich doch zu jung, um mir das mächtigste Schimpfwort meiner Kindheit nachzurufen: Brotverderber! Denn auch das kann meine blonde Nachbarin ja gar nicht wissen: Wer damals altes Brot wegwarf, versündigte sich schließlich zweifach, gegen Gott und die Welt, das ist klar, aber im besonderen gegen die Hasen, die in viel zu engen Käfigen (an Boden- oder gar Freilandhaltung war überhaupt nicht zu denken!) solange mit dem knochenharten Hasenbrot gefüttert wurden, bis sie, zum Schrecken von uns Kindern, meist ausgerechnet zu Ostern in den Bräter wanderten, während ihr Fell an Weihnachten des gleichen Jahres als Saum an irgendeiner, von der Mutter selbstgestrickten Pudelmütze Wiederauferstehung feierte. Wirklich, das kann meine Nachbarin nicht wissen, zumal der Miniaturhase, eines jener Zierkarnickel aus dem Zoo-Fachgeschäft, der einen halben Sommer lang, gut mit vitaminisiertem Spezialfutter aus ökologischem Anbau gefüttert, die kleinen Nachbarskinder unterhalten musste, eines Abends vor ihren Augen (ich habe es von meinem Balkon kommen sehen) vom Fuchs, ja so gemein sind diese Biester, wenn man sie heranlockt, geholt worden ist. Aber was hilfts? Morgen Abend vielleicht schon wird Frau Harras es wieder tun, ich weiß es und kann nichts dagegen tun. Der Mensch ist eben, wenn er aufisst, basta.

http://ichdiscours.wordpress.com/2012/03/14/ein-mensch-ist-wenn-er-aufisst/, 25.03.2012

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 12.01.2016

 Creative Commons Lizenzvertrag
Ein Mensch ist, wenn er aufisst von Gert Egle ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.

 
      
    
   Arbeitsanregungen zur Textanalyse (→untersuchendes Erschließen):
  1. Arbeiten Sie den inhaltlichen Aufbau des Textes heraus.

  2. Bestimmen Sie die Aussageabsicht und untersuchen Sie in diesem Zusammenhang den Einsatz der sprachlichen Mittel.

  3. Bestimmen Sie die Textsorte.

  4. Beurteilen Sie die mögliche Wirkung des Textes.
     

 
     
  Text 1 ] Text 2 ] Text 3 ] Text 4 ] [ Text 5 ] Text 6 ] Text 7 ] Text 8 ]  
 

          CC-Lizenz
 

 

Creative Commons Lizenzvertrag Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International License (CC-BY-SA) Dies gilt für alle Inhalte, sofern sie nicht von externen Quellen eingebunden werden oder anderweitig gekennzeichnet sind. Autor: Gert Egle/www.teachsam.de