|
 Manchmal
geht es einfach nicht, ohne die Sache ganz von Anfang zu erzählen: Von
zwei stehengebliebenen Mauern rechts und links gesäumt, war das "Plätzle",
wie wir es nannten, gelegen, ideal zum "Köpfeln", genaugenommen war es
natürlich Fußball, ging aber halt da nur mit dem Kopf auf dem
Trümmergrundstück (ja so lang ist das her), und wem das nichts sagt,
dann vielleicht so: Köpfeln war gewissermaßen eine spezielle Kunstform
des Fußball, jedenfalls keine monotone Trainingseinheit für das
eigentliche Kicken, eher der Versuch, die legendären Kopfballtore von
"uns Uwe" (wer den auch nicht kennt, dem kann hier nicht geholfen
werden) zwischen Mauerresten wiederauferstehen zu lassen. Kleiner
Unterschied: Statt ins Eckige, musste das Runde, wenn es geköpfelt
worden war, die gegenüberliegende Wand berühren, was die Jungs auf der
anderen Seite (Mädchen war wohl dafür ihr Kopf zu schade), längst bevor
Raumdeckung erfunden war, durch geschickte Raumaufteilung und durch ein
ausgefuchstes Kopfhinhalten zu verhindern suchten. Ende der
Weitschweifigkeit, weiter im "Asthma-Stil"1), für dessen
rhetorische Qualität, das soll hier nicht verschwiegen werden, der
Lemmermann2) schon vor einem halben Jahrhundert nicht
viel übrighatte. Also in kurz und knapp und auch für Kurzatmige: Eines
Morgens treffen wir uns wieder auf dem Plätzle zum Köpfeln. Neuer
Plastikball (das Runde, wer es nicht gemerkt hat). Ich darf wählen. Für
die anderen Kurt. Fritz zu mir. Hans zu dir. Halgar – Achtung, einmal
tief Luft holen! - (ja, ja solche Namen gab es sogar damals) zu
mir. Edgar zu dir. Aufstellung in Raumdeckung. Spielbeginn, Ball
hochgeworfen. Hals mit Kopf in Position gebracht. Kopfstoß gegen den
Ball. Und den genau in die Lücke - an die Wand!!! (Atempause, jetzt
kommt’s!) Genau dorthin, wo seit diesem Morgen das Wort "Fotze"
an der Wand prangte: 1:0! Endstand. Was folgt, geht nur im Großsatz3),
dem weitausgesponnenen Denkzusammenhang. Kaum hatten wir Köpfler das
Five-Letter-Word an der Wand entdeckt, das nur einer mit der
schmutzigsten Fantasie, die man sich vorstellen konnte, mit einer
Scherbe an die Wand geritzt haben konnte, bemerkt und gelesen, sahen wir
uns kurz an und nahmen, vorerst jedenfalls und sicherheitshalber, mal
Reißaus, Spielabbruch in der 1. Minute, kann sich heute selbst bei
Bengalos auf dem Platz keiner mehr vorstellen. Ob wir uns bis auf
den Grund unserer Lederhosen schämten - ein Österreicher grinst darüber
wahrscheinlich blöd (darüber später) - oder ob wir einfach nur Angst
davor hatten, für den Urheber des ziemlich puristisch, aber wie ein
Menetekel für kommende Höllenqualen in die Wand geritzten Wortungeheuers
gehalten zu werden? Schwamm drüber! Fakt ist aber: Wenn man bei so etwas
kein Alibi vorweisen konnte (Mama, ich weiß, nicht mal, wie man sowas
schreibt!), musste man damals - kein Märchen, sondern erlebte Geschichte
- auch als unschuldiger Lederhosenträger mit mindestens zwei Wochen
Hausarrest oder 250 mal (in Worten: zweihundertfünfzig) in Schönschrift
verfasstem "Schmutzige-Sachen-schreibt-man-Nicht" rechnen. Einwurf: Die
zur Umerziehung durch Schönschrift verdammten von damals sind übrigens
genau die heute Angegrauten und Nachblondierten der Generation 60+, die
das Four-Letter-Word in "Who the fuck is Alice" bei jedem
Straßenfest hinausposaunen, sobald der Gitarrist in bester
Pete-Townsend-Manier, weitausholend von oben nach unten, die ersten
Akkorde des Songs anspielt. Echt abgefahren, um das F-Word, wie
die Amis sagen, mit vorgestelltem „Ab“ an dieser Stelle der Geschichte
noch nicht weiter zu strapazieren (später, wo es besser passt, werde ich
die Reinheit der deutschen Sprache mit diesem unnötigen Anglizismus
allerdings beschmutzen).
Gut, Mitsingen, am liebsten bis zur Atemlosigkeit, ist hierzulande Kult,
ob bei ausgesprochenen Mitsingkonzerten („Tellingstedt singt mit Heino“)
oder bei Helene Fischer im Duett mit Mesut Özil unterm Brandenburger
Tor, bei Dieter Thomas Kuhn, den Wildecker Herzbuben, den Stones und
Lady Gaga, in dem Zusammenhang aber mal kurz über den Teich mit einer
erweiterten Dass-wenn-dann-auch-wenn-Konstruktion, die jeder
versteht (kein Großsatz, sondern nach einem festen Satzmuster aus
Schüleraufsätzen): Wenn man sich vorstellt, dass, wenn in den
puritanisch-bigotten USA der verantwortliche Moderator, auch wenn ihm
das F-Word selbst nicht rausgerutscht wäre, dass wenn dann in seiner
Musiksendung die „Who-the-fuck-is-Alice-Version“ des Smokie-Oldies
gespielt würde, dass er dann, wenn nicht in Guantanamo, so ganz
sicher, wenn es es Alcatraz nicht mehr gibt, wo seinerzeit, sagt
Wikipedia, auch andere Gangster wie Al Capone oder Machine Gun
Kelly einsaßen, in Sing-Sing, an den Ufern des Hudson River,
eingebuchtet würde, wenn nicht noch schlimmer.
Das Fremdschämen in der Lederhose, reduzieren wir das historische
Geschehen der Einfachheit halber auf dieses Motiv, hinterlässt
jedenfalls Spuren, die nicht so einfach hinter Gefängnismauern oder bei
Schönschrift- oder Satzbauübungen zur Periode rausgewaschen
werden können. Ist auch keine, denn mich verfolgt es schon das ganze
Leben. Da tut schon gut, wenn jemand, der es wissen muss, sagt: "Scham
ist keine anerzogene Unart. die man sich abgewöhnen sollte, sondern die
Bedingung von Moral schlechterdings."4) Dazu noch eine
Geschichte aus der Geschichte: Wenn sogar eine der frühen
Busenattentäterinnen von 1969, (auch davon sollte eigentlich immer
noch erzählt werden) die frühere Studentin A, sich bis ins neue
Jahrtausend für ihre Barbusenaktion gegen den armen Theodor Adorno
am 22. April 1969 im Hörsaal VI der Frankfurter Universität schämt5),
tut das richtig gut. Schließlich wird dahinter sichtbar, dass auch
solche provozierende Schamlosigkeit - wer würde sich heute noch wirklich
über die zur Schau gestellten Brüste an so einem Ort aufregen? - bei
Studentin A, wie Greiner betont, offenbar von bis heute nachwirkenden
Schamgefühlen begleitet ist, wenn sie weiterhin anonym bleiben will und
das legendäre Busenattentat nicht in Talkshows versilbert, wie dies die
inzwischen leider auch geliftete Uschi Obermaier tut, die
seinerzeit, auf anderem Terrain und in anderen Betten agierend,
gemeinsam mit ihren Kommunarden in der berühmten "A-Tergo-Fotografie",
schamlos, wie viele empörte Zeitgenossen meinten, ihren knackigen Po und
andernorts ihre Brüste - richtig schamlos waren eigentlich nur meine
Fantasien!* - präsentierte, um den verbiesterten Zeitgenossen (Alte
Kommunardenansage: Wer einmal mit derselben pennt, gehört schon zum
Establishment.) ihre Prüderie vorzuhalten. Obwohl die
Busenattentäterin und die Po- und-Brüste-Kommunardin Kinder der gleichen
Zeit waren, gehen sie mit ihrer barbusigen Vergangenheit bis heute
völlig anders um. Und Pussy Riot und die anderen Femen in
Europa? Respekt, Respekt. Bei ihren Oben-ohne-Aktionen (Fuck Putin
in Hannover 2013, echt abgefuckte Sache, hallo!), ihren
Bekenntnissen zu Gott6), ?, gegen das „Machtmonopol der
katholischen Kirche“, gegen den für seine Bunga Bunga-Spiele mit
minderjährigen Prostituierten berüchtigten Cavaliere, Silvio
Berlusconi, gegen die Pornoindustrie und die Scheichs von Katar7),
für Frauenrechte in islamischen Staaten und gegen den Zwang, dass
Prostituierte eines Berliner Großbordells ihren Kunden Oralverkehr ohne
Kondom anbieten mussten ... Will aber sagen, also lieber wieder oral
history, dass einmal gemachte Schamerfahrungen tief sitzen. So
wundert es mich auch nicht, dass ich heute noch immer das gleiche
Unbehagen empfinde und in meiner, wie ich vermute, Fremdscham versinke,
wenn ich, wie vor einiger Zeit, eine Schülerin zu ihrer Busenfreundin
sagen höre "Du alte Fotze, komm' mal her!" Und, ein paar Ermahnungen und
Einwände weiter – man muss den jungen Leuten ja auch mal gutgemeinte
Ratschläge geben dürfen - die Erklärung, und das mal ohne Punkt und
Komma: "Fotze Alter ist echt ok Mann wenn sie Schlampe sagen würde dann
ey“ Ja, was dann? Dann läuft Schlampe dem Five- Letter-Word (manche
schreiben es auch mit "Vogel-V") die Scham ab und auch für mich,
den Alten, gibt es keinen Grund mehr, Reißaus zu nehmen. War eine glatte
Fotze, mitten ins Gesicht, würde der Österreicher dazu sagen und
obendrauf noch blöd grinsen: Fotzen heißt dort nämlich ohrfeigen.
* Hätte so eigentlich nicht erzählt werden müssen, unterstreicht aber
den Geltungsanspruch, Geschichte hier aus erster Hand zu liefern.
Anmerkungen:
1) Heinz Lemmermann, Lehrbuch der Rhetorik, 3. Aufl., München: Goldmann
1968, S.92
2) ebd.
3) ebd.
4) Ulrich Greiner, Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur, 2. Aufl.,
Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2014
5) vgl. ebd., S.37
6) Am 25. Dezember 2013 sprang Josephine Witt während einer
Weihnachtsmesse im Kölner Dom auf den Altar und rief „Ich bin Gott“ und
„Ich glaube an die Gleichheit aller Menschen“, bevor sie von
Domschweizern beiseite gezogen und zu Boden gebracht wurde. Auf ihrem
entblößten Oberkörper war der Slogan „I am God“ aufgemalt. Nach Angaben
der Aktivistin richtete sich die Aktion gegen das „Machtmonopol der
katholischen Kirche“. Ein Jahr später wurde Witt vor dem Amtsgericht
Köln wegen grober Störung der Religionsausübung zu einer Geldstrafe von
1200 Euro verurteilt, in der Berufungsverhandlung vor dem Landgericht
Köln zu 600 Euro (Wikipedia, 7.1.2016)
7) Am 11. Dezember 2013 stürmten zwei halbnackte Aktivistinnen und zwei
Aktivisten die Bühne der Live-Fernsehsendung Markus Lanz und
demonstrierten gegen die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen in Katar
im Rahmen der Vorbereitung zur Fußball-WM 2022. (Wikipedia, 7.1.2016)
http://ichdiscours.wordpress.com/2014/01/21/abschied-von-der-pfennigfuchserei/,
21.01.2014
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
12.01.2016
 Köpfeln bis zur Fotze von Gert Egle ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.
|
|