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Paulo Moura, Der virtuelle Seitensprung

Interpretation

Otto Seilnacht


Hinter der vordergründig einfach erscheinenden Geschichte, von der einzelne Aussagen überzogen erscheinen mögen - wie z.B., das John Malone seit fünf Jahren ohne jegliche realen Außenkontakte lebt -, finden sich auf den zweiten Blick tiefgreifende Problemstellungen der nachindustriellen Informationsgesellschaft wie völlige Anonymität und existentielle Verunsicherung in der Beziehung der Menschen untereinander und zu sich selbst. Schon heute immer offensichtlicher werdende Tendenzen, dass die Übertragung von Daten konkrete soziale Beziehungen in Produktionsprozessen, aber auch im Freizeitbereich computergenerierter Spiele und virtueller Dates überflüssiger werden lassen, finden in Mouras Text ihre Zuspitzung: Inwiefern verändert das Leben in virtuellen Welten auch die Wirklichkeitserfahrung und entwirklicht unsere gängigen Vorstellungen von Realität? Diese Fragen laufen - gerade angesichts der schon vorhandenen Entwicklungen wie Telefonsex und Internet-Simulationen - auf den radikalen Widerspruch zwischen SCHEIN (Wie präsentiere ich mich? Welches Bild von mir projiziere ich auf dem Marktplatz der Bilder?) und SEIN (Wer bin ich? Wer bin ich in der WAHR-Nehmung anderer und durch andere?) hinaus: also letzten Endes auf die elementare Frage aller menschlichen Existenz, nämlich die der WAHRHEIT.
Zudem steht im Zentrum der Geschichte auch die Frage der sexuellen Identität. Die in den letzten Jahren im Zeichen eines medialen Exhibitionismus & Voyeurismus bekannter gewordenen verschiedenartigsten sexuellen Spielarten verweisen fernerhin auf die zukünftig sicherlich noch häufiger praktizierten Formen von gender crossing. Nicht nur die gegenwärtig anstehende Wiederentdeckung des Glam-Rock der siebziger Jahre, der in der Geschichte der Pop Music die erste nachhaltige Infragestellung eindeutiger Geschlechtsidentität war, sondern auch viele sich als Visionen des Lebens im 21. Jahrhundert verstehende Entwürfe prognostizieren ein Ineinanderfließen der Geschlechtergrenzen, zunehmende durch synthetische Hormone in Konsumgütern geförderte Androgynität und über die Online-Kommunikation entwickelte Formen der telesexuellen Präsenz (d.h. aus der Ferne in die Haut eines anderen zu schlüpfen).
Die Frage der geschlechtlichen Identität wird somit zur Frage nach dem Wesen des Menschen überhaupt, zumal wenn die Betonung des Spielhaften den homo oeconomicus zugunsten des homo ludens weitgehend verdrängen sollte.
John Malones Enttäuschung über Candis Treuebruch und das Umschlagen seiner Liebe in Hass ist insofern paradox, als er sich wünscht, für real genommen zu werden, obwohl er selbst nur eine virtuelle Variante von sich - eben R. U. Sirius - projiziert. Sein Selbstbetrug, der in Hass auf Candi umschlägt, besteht darin, dass er die seinsmäßige Differenz zwischen sich und der Projektion negiert und sozusagen behauptet, das Ich sei ein Anderer, aber vom virtuellen Gegenüber erwartet, dass von diesem das "eigentliche Ich" gemeint und ausschließlich begehrt bzw. geliebt wird. Ein Selbstbetrug, der in der Logik der skeptischen Behauptung steht, dass der Mensch im geliebten Gegenüber allzu oft nur sein eigenes Bild von dem Betreffenden meine und das "Ich liebe dich" eigentlich als "Ich liebe mein Bild von dir" gelesen werden müsste, auch wenn in dieser Geschichte eine Umkehrung stattfindet, die auf die unausgesprochene Forderung John Malones an Candi hinausläuft: "Ich will von dir, dass du zwischen den beiden von mir entworfenen virtuellen Persönlichkeiten (wobei du gar nicht wissen kannst, dass D. Juan 007 von dem Schöpfer von R. U. Sirius entworfen worden ist) R. U. Sirius als die primäre Schöpfung, also als authentischere und deshalb unzweifelhaft liebenswertere begreifst, folglich in seinem Bild die Wahrheit John Malones verstehst, dass die Idee R. U. Sirius originärer ist als die bloß verdammt gut gemachte Fälschung D. Juan 007. Ich fordere die wahre Liebe in der Welt des potenzierten Scheins." (Das Platonische Höhlengleichnis als ironischer fake in der virtual reality des 21. Jahrhunderts?)

      
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