[Die klassische Filmanalyse und das Filmverstehen]
Lothar Mikos (1998)
Vor mehr als 100 Jahren wurde der Film erfunden. Inzwischen hat er sich zu
einer veritablen Industrie und zu einer Kunstform entwickelt. Filme
begeistern weltweit ein großes Publikum. Der französische Kritiker und
Regisseur François Truffaut bemerkte denn auch zurecht: "Wenn ein
Film einen gewissen Erfolg hat, ist er ein soziologisches Ereignis und die
Frage seiner Qualität wird sekundär" (Truffaut 1972, S. 100). Nicht
zuletzt deshalb sind Filme auch Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung
[...] Ziel der Analysen war und ist es, sowohl die Struktur der Filme als
auch ihre Wirkung zu untersuchen. [...] Die klassische Filmanalyse spaltete sich gewissermaßen in zwei Lager: in
eines, das sich mit den formalen Aspekten der Filme auseinander setzte, also mit
Einstellungsgrößen, Schnittfrequenzen, Kamerapositionen usw., und in
eines, das sich mit den inhaltlichen Aspekten auseinander setzte. [...]
Beide Lager differenzierten sich in einzelne Ansätze aus, blieben aber
ihren Grundzielen treu. Sie waren filmzentriert und nahmen die Zuschauer
kaum in den Blick. Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel. Die formalen Aspekte der klassischen Filmanalyse und der Inhaltsanalyse
machen für die Medienpädagogik nur teilweise Sinn. Wenn es denn als
Zielvorstellung medienpädagogischer Arbeit gilt, mit Hilfe der Analyse
Strukturen von Medienprodukten deutlich zu machen, um so ganz im Sinne der
Aufklärung zu einem aufgeklärten, medienkompetenten Umgang mit ihnen zu
erziehen, dann müssen andere Faktoren mit einbezogen werden: neben der
Produktion auch die Rezeption. Dabei geht es aber nicht darum, die
Produktion und die Rezeption von Filmen getrennt von den Filmen selbst zu
untersuchen, sondern sie in die Analyse der Filmtexte zu integrieren [...]
d.h. es geht darum, wie Filme selbst verstanden werden und nicht um die
Untersuchung von Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films
und der Medien [...] Filmverstehen meint, anhand eines Filmes zu
untersuchen, wie er sich als bedeutungsvoller Medientext, der in den
kulturellen Kreislauf von Produktion und Rezeption eingebunden ist,
konstituiert und dies ist nicht ohne die Einbeziehung der
lebensweltlichen Verweisungszusammenhänge möglich, in denen die
Produktion und Rezeption von Filmen stattfindet. Dies ist ein
grundsätzlich anderes Vorgehen als in Inhaltsanalysen und
Filminterpretationen. Die dort herausgearbeiteten Interpretationen und
Filmbeschreibungen stellen in der Regel nur eine der möglichen Lesarten
eines Films dar. [...] Beiden Zugängen ist gemeinsam, dass versucht wird,
die Message oder Botschaft des Films zu analysieren, und damit seine
Ideologie. Dabei wird davon ausgegangen, dass ein Film gesellschaftliche
Wirklichkeit spiegelt. Wir wissen jedoch längst, dass es sich bei einem
Film um eine narrative Inszenierung handelt, die möglicherweise unter
bestimmten Bedingungen und dank bestimmter Gestaltungsmittel den Eindruck
von Wirklichkeit erweckt. Dieser Eindruck ist aber nur möglich, wenn das
Wissen der Zuschauer zum Film hinzutritt, denn nur auf der Basis dieses
Wissens kann einem Film Authentizität bzw. ein Wirklichkeitseindruck
bescheinigt werden. Trotzdem wird z.T. noch nach diesen beiden Verfahren
gearbeitet. So greift etwa Eva Flicker in ihrer Untersuchung des Themas
Liebe und Sexualität in Spielfilmromanzen auf die soziologische
Filminterpretation zurück [...]. Dass es bei Spielfilmen gar nicht um die
Wiedergabe von Wirklichkeit geht, sondern um die dramaturgische
Inszenierung einer Erzählung, die einen Bezug zur gesellschaftlichen
Wirklichkeit haben kann, kommt der Autorin offenbar nicht in den Sinn. Das Problem der Filminterpretationen ist, dass sie außerfilmische
Kategorien an die Filme herantragen und damit Bedeutungen des Films
konstruieren, ohne sich dieses Konstruktionsprozesses bewusst zu sein oder
ihn selbstreflexiv zu thematisieren. Das ist sehr häufig bei
psychoanalytischen Filminterpretationen und bei Filmkritiken der Fall.
[...]. Filminterpretationen sind Bestandteil des Diskurses über Filme in
den jeweiligen Gesellschaften, sie sind selbst Ausdruck der Ideologie, die
sie vermeintlich im Film untersucht haben.
(aus: Lothar Mikos, Filmverstehen. Annäherung an ein Problem der
Medienforschung, in:
medien
praktisch Texte Nr. 1, S. 3-8, Sonderheft I/1998, leicht gekürzt;
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Verlags)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
08.06.2020
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